Die verkannte Volkskrankheit
"Wer im Arbeitsleben steht, kann oft nicht mehr seiner Tätigkeit nachkommen. Auch in der Familie ist es eine enorme Belastung. Ehen gehen zu Bruch, Kinder leiden und Freunde wenden sich ab", Rita Aßfalg ist kaum zu bremsen. Die 55-Jährige ist Vizepräsidentin im Vorstand der Deutschen Schmerzliga und weiß, wovon sie redet. Jahrelang litt sie selbst massiv unter chronischen Schmerzen. Heute setzt sie sich für die Rechte von Betroffenen ein und versucht mehr Öffentlichkeit und Rücksicht zu schaffen.
Das Problem sei, dass immer mehr Schmerzpatienten in die Isolation abdriften. Je nachdem wie alt sie sind und wie lange sie in die Rentenversicherung eingezahlt haben, drohe ihnen neben den Schmerzen auch noch Altersarmut.
Mehr Schmerzzentren mit qualifiziertem Personal
Aßfalg kämpft auch im Gemeinsamen Bundesausschuss für eine bessere Therapierung chronischer Schmerzen. "Es geht uns hauptsächlich um den Ausbau medizinischer Infrastrukturen, das heißt, wir brauchen mehr Schmerzzentren mit dem entsprechenden Personal. Fachärzte müssen eng und interdisziplinär zusammenarbeiten."
„Die Bundesärztekammer hat sich gegenüber dem Gesetzgeber in der Vergangenheit mehrfach dafür eingesetzt, dass die Schmerztherapie Bestandteil der Medizinerausbildung wird“, betont Samir Rabbata, Pressesprecher der BÄK. 2012 wurde aufgrund der Aktivitäten der Kammer die Schmerzmedizin als Pflichtfach in den Querschnittsbereich 14 des Medizinstudiums aufgenommen.
Therapie wird Prüfungsstoff
"Damit gehört die Therapie chronischer Schmerzen zum Prüfungsstoff für den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung“, sagt Rabbata. Auch im Bereich der ärztlichen Weiterbildung sei die Schmerzbehandlung auf verschiedenen Ebenen im Weiterbildungsrecht verankert. „Der Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in der allgemeinen Schmerztherapie gehört zum Weiterbildungsinhalt aller Fachgebiete.“
Die Verankerung im Curriculum ist wichtig. Schließlich leiden mehr als 13 Millionen Menschen in Deutschland an chronischen Schmerzen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage "Versorgungslage chronisch schmerzkranker Menschen" (Bundestags-Drucksache 17/14631) aus dem August hervor.
Eine Frage der Definition
Wolf Diemer ist Palliativmediziner und Koautor dee Broschüre "Chronische Schmerzen" der Gesundheitsberichterstattung der Bundesregierung. Er gibt zu bedenken, dass die genaue Zahl der Betroffenen je nach Definition des Begriffs variiert. Seiner Auffassung ist der Schmerz chronisch, wenn er nach Ausheilung der Grundkrankheit weiter besteht oder nach drei Monaten immer noch virulent ist. Allein im Bereich der Palliativversorgung müssen seiner Einschätzung nach wahrscheinlich über eine Million Menschen mit chronischen Schmerzen betreut werden.
Aßfalg will sich bei der Definition dagegen nicht derart festlegen: "Chronische Schmerzen beginnen in dem Moment, wo der Schmerz seine Schutz- und Warnfunktion verloren hat." Wichtig sei ihr die Anerkennung, als eigenständige Erkrankung. Die Aufnahme der Diagnose F 45.41 "Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren" in das internationale Klassifikationssystem ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) verbucht sie als einen großen Erfolg.
20 Prozent der erwachsenen Europäer leiden an chronischen Schmerzen, sagte der Präsident der Europäischen Schmerzföderation (EFIC), Prof. Dr. Hans Georg Kress, auf deren Jahreskongress in Florenz. Die dadurch verursachten direkten und indirekten Kosten betragen 1,5 bis 3 Prozent des europäischen BIP. In Florenz fiel am 10. Oktober auch der Startschuss zum Europäischen Jahr gegen den Schmerz. Thema: das unterschätzte Problem von Schmerzen im Mund- Gesichts- und Kieferbereich.
Die Frage nach der häufigsten Form
Bei der Frage nach den häufigsten Formen chronischer Schmerzen scheiden sich die Geister. Laut Aßfalg sind Kopfschmerzen auf gleicher Höhe mit Erkrankungen des Bewegungs- und Stützungsapparats. Im Bereich der Gesichtsschmerzen spiele die Craniomandibuläre Dysfunktion, eine Fehlregulation der Muskel- oder Gelenkfunktion der Kiefergelenke, eine wichtige Rolle. Auch Zahnfehlstellungen wie ein Kreuzbiss könnten auf die Wirbelsäule erhebliche Auswirkungen haben und Kopfschmerzen auslösen.
Die deutschsprachige Fachwelt stellt etablierte Verfahren der Schmerztherapie infrage. Zumindest könnte man diesen Eindruck gewinnen, wenn man das Thema des diesjährigen Schmerzkongresses liest. "Moderne Schmerztherapie - ist alles gut, was geht?" lautet der Titel des vom 23. bis 26. Oktober in Hamburg tagenden Kongresses. In der Ankündigung heißt es: "Akute und chronische Schmerzen haben sowohl bezüglich des individuellen Leids, aber auch in Hinblick auf ihre volkswirtschaftlichen Lasten den Charakter einer Volkskrankheit erreicht."
Betroffene spezifisch behandeln
Eine Auffassung, die auch Diemer vertritt: "Alle Menschen mit chronischen Schmerzen müssen spezifischer behandelt werden als Menschen mit Akutschmerzen." Daher sei es wichtig, eine Schmerzambulanz in die Behandlung mit einzubeziehen. Die Behandlung chronifizierter Schmerzpatienten brauche ein "multiprofessionelles Team mit Schmerztherapeut, Psychologe, Physiotherapeut und Sozialarbeiter".
Die Krankenkassen haben nach eigenen Angaben schon sehr früh den Bedarf für spezielle Versorgungsangebote bei Patienten mit chronischen oder chronifizierenden Schmerzen erkannt. So biete die Techniker Krankenkasse (TK) ihren Versicherten unter anderem ein spezielles multimodales Versorgungsangebot an. Die intensive Behandlung habe im Vergleich zur Regelversorgung den großen Vorteil, dass die Leistungen der unterschiedlichen Fachdisziplinen nicht einzeln vom Versicherten beantragt und vom Arzt verordnet werden müssten.
Die TK kooperiert mit der Schmerzklinik Kiel, die ein spezielles Versorgungsangebot bei schweren chronischen Kopfschmerzen vorhält. In der Schmerzklinik Kiel arbeiten Angehörige verschiedener medizinischer, psychologischer, physiotherapeutischer und pflegerischer Fachgebiete zusammen. Das gesamte Team konzentriert sich ausschließlich auf die Belange chronischer Schmerzpatienten. Die Therapie beginnt jedoch auch hier immer bei einem Schmerztherapeuten vor Ort.
Das Angebot hat seinen Preis
Auch die AOK Plus bietet gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Dresden eine Kooperation an. Eine transparente und zügig strukturierte Behandlung soll dort vor allem chronische Rückenschmerzen verhindern. Bei dem "Arztlotsen" der DAK Gesundheit handelt es sich um ein Suchportal, dass schnell und unkompliziert Experten vermittelt. Eins haben die Angebote zur interdisziplinären Schmerztherapie jedoch gemeinsam: Sie haben ihren Preis.
Chronische Schmerzen verursachen im deutschen Gesundheitswesen erhebliche direkte und indirekte Kosten. Darauf weisen die Autoren der Studie "Pain Proposal - Wege zur Verbesserung der derzeitigen und künftigen Behandlung chronischer Schmerzen" hin.
Nach einer Schätzung des AOK-Betriebswirts Ulrich Neumann aus dem Jahr 200216entfallen sechs bis acht Prozent der Gesundheitsausgaben auf die Behandlung chronischer Schmerzen. Insgesamt wird die Wirtschaft durch die indirekten und direkten Aufwendungen mit 20,5 bis 28,7 Milliarden Euro belastet. Dem Physiologen Manfred Zimmermann17zufolge belaufen sich die Kosten infolge chronischer Schmerzen auf rund 38 Milliarden Euro.
Inhaltlich kritisieren die Autoren, zu denen auch die ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer zählt, das Fehlen einer Abstimmung der Diagnostik und Therapie zwischen den behandelnden Ärzten, weil dies zu Fehlinformationen und inkonsequenten Behandlungsabläufen führe. Die zögerliche Umsetzung neuere Forschungsergebnisse sowie bestehender Leitlinien im medizinischen Alltag mache eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine flächendeckende Versorgung chronischer Schmerzpatienten nur schwer möglich.
Großes Problem: die fehlende Glaubwürdigkeit
Es geht ihr gar nicht mal so sehr ums Geld, sagt Aßfalg. Natürlich müsse in die Versorgungstruktur und qualifiziertes Personal investiert werden. „Aber ein viel größeres Problem ist häufig, dass die Glaubwürdigkeit des Umfeldes gering ist.“ Leider komme es immer wieder vor, dass Patienten selbst von Fachkreisen als Lügner und Simulanten bezeichnet werden.
"Aus Abschiedsbriefen weiß man, dass der chronische Schmerz die häufigste Ursache für einen Suizid ist“, erklärt Aßfalg. Natürlich muss es nicht erst soweit kommen. Chronischer Schmerz ist laut Aßfalg eine enorme Belastung, die zu fehlender Lebensqualität führe. "Ein gesundes Umfeld, Familie und Freunde können da viel helfen." Wichtig sei dass die Menschen nicht alleine gelassen werden.
16Neumann ,U. (2002): ‘Schmerz - Gesundheitsökonomische Bedeutung ausSicht der Kostenträger’, Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung -Gesundheitsschutz, 45, 451-45417Zimmermann, M.: ‘Der chronische Schmerz (2004) ‘Epidemiologie undVersorgung in Deutschland’, Orthopäde, 33, 508-514