Fallbericht: Woran war der Patient erkrankt?
Forschende aus Jordanien berichten über einen 67-jährigen Patienten, der sich kürzlich in einem Klinikum mit Beschwerden vorstellte, die einer Parodontitis ähnelten. Neben foetor ex ore berichtete er über geschwollene Gingiva sowie multiple Zahnlockerungen.
Anamnestisch lag ein eingestellter Diabetes Typ 2 sowie Bluthochdruck vor und er nahm regelmäßig Metformin, Bisoprolol sowie Aspirin ein. Der Patient berichtete, dass er in letzter Zeit Gewicht verloren habe und unter Nachtschweiß leide.
Klinisch imponierte eine Parodontitis
Bei der extraoralen Untersuchung fiel sein blasses Hautkolorit sowie Lymphadenopathie im gesamten Kopf-Hals-Bereich auf. Die intraorale Untersuchung zeigte starke Plaque-Ansammlungen auf allen Zahnflächen und es imponierte eine deutliche Schwellung der gesamten Gingiva mit kleinen hyperplastischen, tropfenförmigen Arealen, wobei vorwiegend die labialen Anteile betroffen waren.
Die Autoren berichten, dass die charakteristische Stippelung der Gingiva hier nicht mehr sichtbar war. Zudem traten spontane Blutungen auf. Die Sondierungstiefen lagen zwischen vier und neun Millimetern, während alle Zähne Lockerungsgrad III aufwiesen. Im OPG bestätigte sich ein generalisierter horizontaler Knochenverlust. Den Forschenden zufolge entsprach das klinische Gesamtbild am ehesten einer generalisierten Parodontitis (stage IV, grade III).
Gingivahyperplasien persistierten
Bluttests bestätigten die Verdachtsdiagnose einer chronisch lymphatischen Leukämie (CLL). Der gesamte Restzahnbestand wurde entfernt und die Extraktionswunden heilten komplikationslos ab. Der Patient wurde einer systemischen Behandlung unterzogen und sprach gut auf die Therapie mit Fludarabin und Rituximab an.
Intraoral zeigten sich aber auch nach acht Monaten noch orale Manifestationen der CLL in Form von kleinen Gingivahyperplasien auf den Labialflächen beider Kiefer, die unter der systemischen Behandlung jedoch etwas zurückgingen.
Nebenwirkungen der Medikamente bleiben unberücksichtigt
Die Autoren führen aus, dass orale Manifestationen bei CLL selten sind, wohingegen sie bei akuten Formen der Leukämie häufiger vorkommen. In diesem Fall zeigte sich eine intraorale Auffälligkeit bereits vor der Diagnosestellung, obgleich die meisten Fallberichte erst nach der Diagnose auf intraorale Manifestationen verweisen.
Die Forschenden gehen in der Diskussion des Patientenfalls nicht darauf ein, ob das gesamte intraorale Krankheitsbild mit der CLL in Verbindung zu bringen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass eine parodontale Erkrankung losgelöst von der CLL bestand, obgleich die Schwere durch die CLL beeinflusst sein könnte.
Die Gingivahyperplasien, die auch Monate nach der Extraktion aller Zähne weiterhin bestanden, lassen durchaus eine Verknüpfung vermuten. Dennoch kann am vorliegenden Beispiel gezeigt werden, wie wichtig es ist, neben der intraoralen Untersuchung die Anamnese des Patienten genau zu prüfen und auch außerhalb des Mundes liegende Beschwerden in das Gesamtbild einzubeziehen.
Originalpublikation: Hamdan AA, Bouchard P, Hamdan AI, Hassona Y. Chronic lymphocytic leukemia presenting as gingival swelling and tooth mobility. Spec Care Dentist. 2021 Nov 12. doi: 10.1111/scd.12679. Epub ahead of print. PMID: 34766641.
Hintergrund: Leukämie
Die chronisch lymphatische Leukämie (CLL) ist laut Robert Koch-Institut (RKI) mit etwa 37 Prozent die häufigste Form der Leukämien in Deutschland. Sie tritt vorwiegend in höherem Lebensalter und vermehrt bei Männern auf. Das deutsche Krebsforschungszentrum berichtet, dass etwas 9 von 10 Erkrankten über 55 Jahre alt sind. Dabei sei die Bezeichnung der CLL irreführend, denn eigentlich handle es sich dabei um ein Lymphom, weshalb sich die Behandlung auch von den anderen Leukämien unterscheidet [dkfz].
Die Diagnose einer CLL gilt als bestätigt, wenn die folgenden Punkte zutreffen:
„Die Zahl der veränderten B-Lymphozyten liegt mindestens 3 Monate bei 5.000 pro Mikroliter (µl) oder darüber.
Unter dem Mikroskop liegen vor allem kleine, vom Aussehen her "ausgereift" wirkende Lymphozyten vor.
Die B-Lymphozyten zeigen bei der Immunphänotypisierung alle die gleichen Oberflächenmerkmale. Das belegt, dass alle diese Zellen von der gleichen Ursprungszelle abstammen („monoklonal“).“ [dkfz]
Die Symptome sind eher unspezifisch und reichen von geschwollenen Lymphknoten und Schmerzzuständen bis hin zu Dyspnoe. Später kann eine B-Symptomatik mit der Trias Fieber, Gewichtsverlust und Nachtschweiß auftreten. Konkrete Ursachen für die Erkrankung sind bislang nicht bekannt, es konnte aber ein häufiger Kontakt mit Benzol und 1,3-Butadien als potentieller Risikofaktor identifiziert werden [RKI].