Gassen: „Die Praxen arbeiten seit fast zwei Jahren am Anschlag“
Derzeit schlagen in Sachen Impfung Hiobsbotschaften im Tagesrhythmus auf die Arztpraxen ein, sagte Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), auf der heutigen digitalen Vertreterversammlung in Berlin. Dass Corona hierzulande nicht in den Griff zu bekommen sei, sei nicht die Schuld der Praxen, so Gassen: "Nicht die Praxen bremsen den Impffortschritt, sondern die Politik bremst die Praxen massiv aus." Daher wäre es aus seiner Sicht wünschenswert, dass zuerst einmal die Praxen so impfen könnten, wie sie das gerne täten, und dass auch ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht: "Wem hilft es, wenn wir Vertragsärzte mit Apothekern, Zahn- und von mir aus auch noch Tierärzten um nicht vorhandenen Impfstoff konkurrieren? Wir stehen schlichtweg mit leeren Händen da."
"Der Vorwurf, wir arbeiten nicht genug, ist eine Frechheit!"
Scharf kritisierte Gassen den Zickzackkurs der noch amtierenden Bundesregierung. Zunächst habe es seitens der Politik geheißen, alle sollen sich boostern lassen. Nach dem danach folgenden enormen Ansturm zum Boostern aber, das Impftempo sei zu langsam. Und dann habe der Bund gemeldet, der Impfstoff sei zu knapp, man könne nicht liefern. Vorwürfen aus der Politik, dass das Impftempo zu langsam sei, widersprach der KBV-Chef energisch. "Tatsache ist: Die Praxen arbeiten seit fast zwei Jahren am Anschlag. Dass es immer noch keine Bonuszahlung für die Medizinischen Fachangestellten gibt, ist ohnehin fast schon ein Skandal – uns dann auch noch zu unterstellen, wir würden nicht genug arbeiten, ist eine Frechheit!", so Gassen.
Der kommenden Ampelkoalition prognostizierte Gassen beim Regierungsantritt "keine einfache Zeit". Positiv hob er heraus, dass die Koalitionäre einen ständigen Corona-Krisenstab und einen Expertenrat im Kanzleramt einrichten wollen. Von der neuen Regierung erwarte er vor allem "Verlässlichkeit und Weitsicht" - zwei Dinge, die in der Pandemie schmerzlich vermisst worden seien. Mit Blick auf die in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedete Rekordzahl von Gesundheitsgesetzen wünschte er sich jetzt "etwas weniger Aktionismus, dafür mehr Gründlichkeit und Nachhaltigkeit".
"Die Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger bleibt wieder an uns hängen"
Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender, kritisierte das vom Bundesgesundheitsministerium verursachte Durcheinander in der Kommunikation um die beiden mRNA-Impfstoffe BioNTech/Pfizer und Moderna: "Die Aufklärung und vor allem auch Beruhigung der Bürgerinnen und Bürger, die durch diese Art der Kommunikation einmal mehr und völlig nachvollziehbar verunsichert sind, bleibt wieder einmal in den Praxen hängen", kritisierte er. "Nehmen Sie nur zwei Minuten Aufklärungszeit pro Impfung durch den Impfstoffwechsel, so sind das bei 20 Millionen Impfungen über 76 Jahre Redezeit, die völlig unnötigerweise verloren gehen." Gleichzeitig betonte er ausdrücklich die Sicherheit des Impfstoffs von Moderna und der Kreuzimmunisierung beim Boostern.
Nach eineinhalb Jahren Pandemie stehe Deutschland wieder ohne Plan und Ziel da – "als hätten wir nichts gelernt", sagte der KBV-Vize. Um gemeinsam schwere Zeiten zu bestehen, brauche es Vertrauen. "Für Vertrauen braucht es klare Kommunikation, transparente Maßnahmen, erklärte Ziele und einen ruhigen Kurs", appellierte er an die Politik. Und an die Bürger gerichtet, die jetzt dringend eine Booster-Impfung haben wollen: "Bitte bleiben Sie besonnen! Der Schutz durch die ersten beiden Impfungen ist nicht von heute auf morgen weg." Viel wichtiger als gesunde 30-Jährige zu boostern, sei es, die noch ungeimpften Erwachsenen zu erreichen und zum Impfen zu bewegen.
Dr. Thomas Kriedel, Vorstandsmitglied der KBV, übte auf der digitalen Vertretersammlung seiner Organisation deutliche Kritik am scheidenden Bundesgesundheitsminister und seiner Digitalisierungspolitik. Er bot der neuen Bundesregierung einen konstruktiven Dialog an. Kriedel: "Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Ampelkoalition künftig die Digitalisierung an der Versorgung ausrichten will." Um diese vorwärtsgerichtet zu gestalten, stehe die Vertragsärzteschaft stehe bereit, um diese vorwärtsgerichtet zu gestalten - mit ihrer Expertise und auch mit den bisher gemachten Erfahrungen mit der Telematikinfrastruktur 1.0.