Neue Erkenntnisse auf dem Weg zur Heilung von HIV
Diese Reservoirs sind das größte Hindernis für die Heilung von HIV, aber immer noch ungenügend erforscht. Mit der antiretroviralen Therapie (ART) steht seit vielen Jahren zwar eine hochwirksame Therapie zur Verfügung, die die Vermehrung der Viren hemmt und eine Übertragung auf andere Personen verhindert.
Dank der ART können HIV-infizierte Personen heute ein nahezu uneingeschränktes Leben führen, auch ihre Lebenserwartung nähert sich der nichtinfizierter Menschen an. Die ART muss dafür jedoch ein Leben lang ununterbrochen durchgeführt werden, und die ART-Medikamente können den Körper mit Nebenwirkungen belasten.
Wird die Therapie unterbrochen, kommt es bei nahezu allen HIV-infizierten Menschen zu einem Wiederanstieg der im Blut messbaren HI-Viren. Die Ursache dafür sind Reservoirs von latent HIV-infizierten Zellen. Diese bestehen vor allem aus infizierten, jedoch ruhenden CD4+ T-Gedächtniszellen.
Die HIV-Heilung muss bei den viralen Reservoirs ansetzen
Diese Reservoirs bilden sich rasch nach der HIV-Infektion und überdauern auch eine jahrzehntelange Behandlung mit ART. Fachleute sind sich einig, dass die Heilung einer HIV-Infektion bei diesen viralen Reservoirs ansetzen und die latent infizierten Zellen darin entweder deutlich reduzieren oder - im besten Fall - eliminieren muss. Noch sind die Reservoirs aber nicht umfassend erforscht.
Zwar ist bekannt, dass ihre Größe nach dem Start der ART erst einmal abnimmt, und kleinere Studien haben gezeigt, dass sich die Größe der Reservoirs individuell und über die Zeit hinweg auch unter einer laufenden ART stark verändern kann.
Wegen der relativ kleinen Zahlen der Studienteilnehmenden und der relativ kurzen Studiendauer sowie der beschränkten Anzahl untersuchter Ko-Faktoren beantworteten diese Untersuchungen bislang aber Frage, welche Faktoren die Reservoirs über die Zeit unter ART beeinflussen. Solche Erkenntnisse sind für das bessere Verständnis der latenten Reservoirs jedoch extrem wichtig.
Zehn mal mehr Probanden als in vergleichbaren Studien
Ein multidisziplinäres, nationales Forschungsteam der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich haben in der bisher größten longitudinalen Beobachtungsstudie untersucht, wie sich die Größe des Reservoirs langfristig verändert und welche Faktoren die Veränderungen beziehungsweise die Größe der Reservoirs beeinflussen.
"Unsere Studie erfasst zehn mal mehr Probanden als die bisher größte vergleichbare Studie und erlaubt entsprechend belastbarere Aussagen", erklärt Prof. Huldrych Günthard, eine der Expertinnen, den großen Umfang ausgewerteter Daten. Das Forscherteam wertete in aufwendigen Testreihen Blutproben und die dazugehörenden Daten von insgesamt 1.057 Personen aus, die über viele Jahre erfolgreich mit ART behandelt wurden.
Sie konnten dafür auf die Swiss HIV Cohort Study (SHCS) mit ihrer umfassenden Biobank zurückgreifen. In dieser seit 1988 laufenden prospektiven Kohortenstudie sind etwa 75 Prozent aller HIV-infizierten Menschen der Schweiz erfasst, die eine antiretrovirale Therapie bekommen und ihre Daten und Blutproben der Forschung zur Verfügung stellen.
Von allen Personen standen mindestens drei Proben zur Messung der HIV-Reservoirs zur Verfügung, die im Mittel 1,5, 3,5 und 5,4 Jahre nach Beginn einer ART entnommen worden waren. Von 412 Personen lagen Daten vor, die erlaubten, den Verlauf der HIV-Reservoirs bis auf zehn Jahre zurückzuverfolgen.
Dank dieser umfassenden klinischen, virusgenetischen, demografischen, verhaltens- und therapiespezifischen Daten konnten erstmals eine Vielzahl potenziell Reservoir-beeinflussender Faktoren gleichzeitig in multivariablen, statistischen Modellen untersucht werden.
Im Durchschnitt verringerte sich die Größe der Reservoirs während der ersten 5,4 Jahre nach Beginn der ART. Über die Beobachtungsdauer flachte der Abfall deutlich ab und schien sich einem Plateau anzugleichen. Entgegen den Erwartungen nahmen die Rservoirs jedoch trotz erfolgreicher antiretroviraler Therapie bei 281 der analysierten Personen (26,6 Prozent) nicht ab, sondern sie vergrößerten sich sogar.
"Das ist ein überraschender und wichtiger Befund. Was zu dieser Zunahme führt, wissen wir noch nicht", so Günthard. "Möglicherweise teilen sich latent infizierten Zellen, oder bei einem Teil der Patientinnen und Patienten vermehren sich die HI-Viren trotz der ART noch auf einem tiefen Niveau. Beides könnte längerfristig zum Anstieg der Reservoirs führen."
Gezielte Studien dazu sind in Planung. Dass mangelnde Therapietreue der Patienten zu diesem Effekt führen könnte, kann weitgehend ausgeschlossen werden, da in der Datenbank auch Therapietreue und Therapieunterbrüche dokumentiert wurden.
Blips sind relevanter als bisher vermutet
Hatte die Therapie innerhalb des ersten Jahres nach der HIV-Infektion begonnen und war die Viruslast zu diesem Zeitpunkt tief, waren auch die Reservoirs 1,5 Jahre nach Therapiestart tief. Diese Beobachtung bestätigt die Resultate von früheren Studien anderer Gruppen. Neu war hingegen, dass so genannte virale "Blips" - kurzzeitig zwischen zwei nicht nachweisbaren Plasma-Virusmessungen im Blut nachweisbare Viren -, mit größeren Reservoirs und mit einem kleineren Abfall derselben im Verlauf der Zeit zusammenhängen.
Bisher galten diese Blips als klinisch nicht oder kaum relevant. Die Studie zeigt, dass diese jedoch von biologischer Bedeutung sind. "Die Resultate unserer Studie zeigen, dass das Verhalten der Reservoirs nach wie vor ungenügend verstanden wird," erklärt Günthard.
"Für die HIV-Forschung haben Studien, die zu einem besseren Verständnis der Reservoirs und Studien, die Strategien zur Elimination aller HI-Viren von infizierten Patienten testen Top-Priorität, um unserem Ziel, der Heilung von HIV, näher zu kommen", resümiert die Forscherin.
Originalpublikation: Nadine Bachmannn, Chantal von Siebenthal, Valentina Vongrad et al., [Determinants of HIV-1 reservoir size and long-term dynamics during suppressive ART]. Nature Communications, doi.org/10.1038/s41467-019-10884-9