Parodontitis-Prävention könnte fast 12 Milliarden Euro einsparen
"You would not ignore bleeding from your eye, so why would you ignore bleeding from your mouth?" Prof. Maurizio Tonetti, Executive Director of the European Research group on Periodontology.
Eine aktuelle Analyse, die die Economist Intelligence Unit (EIU) im Auftrag der European Federation of Periodontology (EFP) durchgeführt hat, zeigt: Würde man in Europa die Gingivitis konsequent therapieren, könnte man Milliarden Euro einsparen. Allein in Deutschland könnten die Kosten für Parodontitisbehandlungen durch eine konsequente Therapie der Gingivitis als Vorstufe der Parodontitis halbiert werden.
Die Modellierung zeigt für sechs europäische Länder die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen auf, die mit der parodontalen Gesundheit verbunden sind: Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Spanien und das Vereinigte Königreich. Diese Länder wurden aufgrund ihrer geografischen, demografischen, epidemiologischen und sozioökonomischen Vergleichbarkeit ausgewählt.
An der Studie sind namhafte Parodontologen beteiligt wie Prof. Iain Chapple, Birmingham, Prof. Nicola West, Bristol, Prof. Maurizio Tonetti, Genua, Prof. Lior Shapira, Jerusalem, Prof. Mariano Sanz, Madrid und Oslo, Dr Nigel Carter, UK, Prof. Philippe Bouchard, Paris, Prof. Thomas Kocher, Greifswald und Prof. Stefan Listl, Heidelberg.
"In Deutschland werden etwa 30 bis 40 Prozent aller Zähne infolge einer Parodontalerkrankung gezogen, und dies scheint sich in den letzten 15 Jahren nicht verändert zu haben." Prof. Thomas Kocher, Direktor der Abteilung Parodontologie am ZZMK der Universität Greifswald, Deutschland.
Parodontitis ist weitgehend vermeidbar
Zahnfleischerkrankungen sind weit verbreitet und können unbehandelt zu Zahnverlust führen. Zudem sind Wechselwirkungen mit fast 60 systemischen Erkrankungen bekannt, unter anderem mit Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen. Durch gute Mundhygiene und regelmäßige zahnärztliche Untersuchungen wären die meisten Parodontitisfälle weitgehend vermeidbar.
Dennoch stellt der Bericht des EFP fest, dass in Westeuropa die Entwicklungen in der Prävention und Behandlung zu stagnieren scheinen und die Prävalenz von Parodontitis in den letzten zehn Jahren eher unverändert geblieben ist. In Deutschland sind die Zahlen laut der letzten Mundgesundheitsstudie (DMS V) tendenziell rückläufig. Dennoch ist weiterhin rund jeder zweite Erwachsene von einer Parodontitis betroffen.
Die Wissenschaftler entwickelten ein Modell, um die wirtschaftliche Belastung durch Zahnfleischerkrankungen und die Kapitalrendite (Return on Investment - ROI) für die Behandlung von Parodontitis zu ermitteln. Um die Auswirkungen von Prävention und Behandlung zu messen, orientierte sich das Modell an den EFP-Behandlungsrichtlinien, die vier Behandlungsschritte einer Parodontitis beschreiben (Abbildung 1).
Schließlich modellierten die Autoren den Übergang zwischen den verschiedenen Gesundheits- und Krankheitsstadien über einen Zeitraum von zehn Jahren anhand fünf verschiedener Szenarien:
FÜNF VERSCHIEDENE SZENARIEN
Ausgangssituation: Beibehaltung der derzeitigen Präventions- und Behandlungssituation.
Rückgang der Gingivitis-Behandlungsrate von 95 auf zehn Prozent. Dies würde bedeuten, dass in der Folge einer unbehandelten Gingivitis deutlich mehr Patienten eine Parodontitis entwickeln würden.
Beseitigung von Gingivitis durch eine verbesserte häusliche Mundpflege. Dadurch würde der Übergang einer Gingivitis in eine Parodontitis verhindert werden.
Keinerlei Parodontitisbehandlungen werden durchgeführt. Es würden somit alle Patienten mit einer Parodontitis unbehandelt bleiben.
90 Prozent der Parodontitisfälle werden diagnostiziert und einer Behandlung unterzogen.
Die Beseitigung der Gingivitis mit Präventionstechniken der häuslichen Pflege (wie Zähneputzen und Interdentalbürsten) als auch die Erhöhung der Diagnose- und Behandlungsrate von Parodontitis auf 90 Prozent hätte in allen fünf Ländern einen positiven Return on Investment.
Anstrengungen zur Eliminierung der Gingivitis und damit zur Verhinderung des Fortschreitens der Parodontitis würden über einen Zeitraum von 10 Jahren im Vergleich zum "Business as usual" erhebliche Kosten einsparen: von 7,8 Milliarden Euro in den Niederlanden bis 36 Milliarden Euro in Italien.
Das Modell berechnete die Folgen der einzelnen Szenarien auf die Gesamtkosten, die Kapitalrendite und den Gewinn oder Verlust von gesunden Lebensjahren und deren Kosten pro Jahr (Healthy Life Years –HLY) im Vergleich zur Ausgangssituation. Die Kosten für die Beibehaltung des Basisszenarios reichten von 18,7 Milliarden Euro in den Niederlanden bis zu 96,8 Milliarden Euro in Italien über einen Zeitraum von zehn Jahren.
Eliminierung von Gingivitis ist die kosteneffektivste Strategie
Die Autoren stellten fest, dass die Behandlung von Gingivitis als Vorstufe der Parodontitis (Szenario 3) eine positive Kapitalrendite für alle Länder und einen Zuwachs an gesunden Lebensjahren im Vergleich zu "business as usual" zur Folge hätten. Die Diagnose und Behandlung von 90 Prozent aller Parodontitisfälle (Szenario 5) würde ebenfalls die Zahl der gesunden Lebensjahre in allen Ländern erhöhen und es würde sich trotz des Kostenanstiegs auch hier eine positive Kapitalrendite ergeben. Die Vernachlässigung der Behandlung von Gingivitis und die Nicht-Behandlung von Parodontitis (Szenario 2 und 4) hatten eine gegenteilige Wirkung.
Würde man in Deutschland in den nächsten zehn Jahren mit den aktuellen Strategien fortfahren (Szenario 1), so würden sich die Gesamtkosten im Zehn-Jahres-Zeitraum auf 21,9 Milliarden Euro belaufen, was 35 Euro pro "gesundem Lebensjahr" entspräche. Dahingegen würde sich bei einer Behandlung von lediglich zehn Prozent aller Gingivitis-Fälle (Szenario 2) eine leichte Kosteneinsparung auf rund 21,4 Milliarden Euro ergeben (42 pro gesundem Lebensjahr). Allerdings würden unter dieser Prämisse die Anzahl der gesunden Lebensjahre um 5,7 Millionensinken und eine negative Kapitalrendite von -1.007 erzielt werden.
Kostenhalbierung durch Prävention möglich
Könnte durch die Beseitigung von Gingivitis (Szenario 3) der Übergang in eine Parodontitis verhindert werden, würden sich die Kosten mit 11,8 Milliarden Euro langfristig nahezu halbieren. Dies würde rund 19 Euro pro gesundem Lebensjahr sowie 5,7 Millionengewonnene gesunde Lebensjahre auf die Gesamtheit der in Deutschland lebenden Menschen bedeuten. Die Kapitalrendite würde indes auf 57,5 ansteigen.
würden alle Fälle behandelt, verdreifachen sich die Kosten
Würden 90 Prozent aller an Parodontitis erkrankten Patienten in den nächsten zehn Jahren diagnostiziert und einer Behandlung unterzogen werden (Szenario 5), müsste mit einer Verdreifachung der Kosten auf 66,4 Milliarden Euro gerechnet werden, dies wären 104 Euro pro gesundes Lebensjahr. In Bezug auf die gesunden Lebensjahre wäre ein Gewinn von 5,1 Millionen zu verzeichnen. Dieser läge damit unter dem des Szenarios 3. Die Kapitalrendite läge bei lediglich 10,4.
Die Kosten für Zahnarztbesuche sind ein Hindernis
Die Kosten für Zahnarztbesuche seien für die Allgemeinheit ein Hindernis: "Die Menschen gehen dann eher zum Zahnarzt, wenn etwas nicht in Ordnung ist, anstatt zu Kontrolluntersuchungen zu gehen." Zahnärztliche Tarife seien in Europa sehr unterschiedlich, einige Länder wie das Vereinigte Königreich und Frankreich erstatten teilweise die Gebühren, während in anderen wie in Italien und Spanien zahnmedizinische Behandlungen weitgehend eine Privatleistung sind. Wegen der Kosten vermeiden Menschen häufig Vorsorgeuntersuchungen, was am Ende zu teuren Behandlungen führe. Die zahnmedizinischen Kosten sollten daher von der Politik in ganz Europa überprüft werden.
Setzt man erst bei der Parodontitis an, ist es zu spät
"Es ist eine große Herausforderung, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten einer komplexen Krankheit wie Parodontitis zu ermitteln", sagt Autor Prof. Iain Chapple. "Die Daten zeigen deutlich, dass der weitaus größte ROI aus der Prävention von Parodontitis resultiert, also aus der Behandlung von Gingivitis, die traditionell als trivial angesehen und ignoriert wird. Stattdessen setzt man auf die Behandlung von Parodontitis - was natürlich zu spät ist."
Prof. Bettina Dannewitz, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DG PARO), begrüßt den Bericht. In Deutschland habe sich die Situation durch das in Kraft treten der neuen PAR-Richtlinien zum 1. Juli verbessert. Sie bemängelt aber, dass "die Behandlung von Zahnfleischentzündungen bei Erwachsenen immer noch nicht abgedeckt ist".
Quelle: The Economist Intelligence Unit. 2021. Time to take gum disease seriously: The societal and economic impact of periodontitis. London, The Economist Intelligence Unit.