Raus aus der Komfortzone
Zigarettenqualm liegt in der Luft, Süßigkeiten und Eier stehen am kleinen Esstisch, Musik kommt aus den Boxen, drei Mitbewohner unterhalten sich. Es könnte eine normale Szene aus dem Alltag einer Wiener Wohngemeinschaft sein.
Ein Experiment
Doch der 21-jährige Student Maximilian wohnt hier nicht mit Freunden zusammen, sondern mit Menschen, um die viele eher einen weiten Bogen machen. Der Wiener teilt sich die Unterkunft in einem Experiment mit zwei ehemals Obdachlosen: "Hier ist man gezwungen aus der eigenen Welt rauszugehen. Weg aus der Komfortzone."
Seit gut einem halben Jahr teilen sich der Student der Bodenkultur und Zadina, ein 42-jähriger Schweizer mit Wurzeln aus Kamerun, eine kleine Küche und das Badezimmer. Das Leben von Zadina, einem quirligen Mann mit einnehmendem Lachen und breitem Schweizer Dialekt, kam mit seinem Umzug nach Wien ins Schleudern. "Ich habe schon so viele Jobs gehabt", sagte Zadina. In Bern bei UBS, bei Umzugsfirmen und im vergangen Jahrzehnt vor allem in Küchen. "Doch es gibt einfach zu wenige leistbare Wohnungen in Wien."
Ein Zuhause und Anschluss
Vor rund zwei Monaten ist Umar aus Tschetschenien zu dem Duo gestoßen. Der 30-Jährige spricht wenig und nur in gebrochenen Deutsch. Kurz vor Weihnachten startete sein Sprachkurs. "Es ist sehr schön hier", sagt Umar leise. Seit etwas über zwei Jahren ist er in Österreich und wechselte seither fast täglich seine Unterkunft. Das Projekt bietet ihm ein Zuhause und Anschluss. Warum er seine Heimat verlassen hat, darüber kann Umar nicht sprechen: "Da kommen zu viele Dinge in den Kopf, über die ich nicht nachdenken will."
Das Haus "VinziRast-mittendrin" mit seinen vorwiegend männlichen Bewohnern eröffnete im Mai in bester Lage in der österreichischen Hauptstadt. Die Idee entstand bei Protesten an der nahen Universität, wo im besetzten Hörsaal Obdachlose nächtigten. Zehn Wohngemeinschaften für 29 Studenten und ehemals Obdachlose sind für 280 bis 355 Euro pro Zimmer im Monat zu haben. Große Gemeinschaftsküchen auf jeder der drei Etagen des Biedermeierhauses, Gemeinschaftsräume und eine große Dachterrasse samt Hochbeet inklusive. In Werkstätten und im öffentlichen Restaurant im Erdgeschoss können Bewohner dazu verdienen.
Ein Gemeinschaftsgefühl aufbauen
Hinter dem Projekt steht die 73-jährige Cecily Corti. Rastlos wandert sie fast täglich im Laufschritt durch das Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Mit jedem Bewohner und jedem Mitarbeiter, der ihr am Weg begegnet, werden neue Aufgaben oder Probleme besprochen. Corti setzt sich seit Jahren mit finanzieller Unterstützung von Industriellen für Obdachlose in Wien ein. Mit wenig Kontrolle soll in ihren Häusern langsam ein Gemeinschaftsgefühl aufgebaut werden. "Ich will vor allem das mit meinem Tun ausdrücken, was mir wichtig und kostbar ist, das wonach ich mich selbst am meisten sehne", so Corti.
Insgesamt gelten laut Statistik rund zwölf Prozent der Bewohner Österreichs als armutsgefährdet. Über 9.000 Menschen sind offiziell obdachlos, die Dunkelziffer ist sehr hoch. Klar ist, dass die Situation in Wien mit seinen 1,7 Millionen Einwohnern am schlimmsten ist. Hier werden laut Caritas rund 5.000 Wohn- und Notquartiersplätze für Bedürftige angeboten.
Eine Frage der Würde
Corti gründete 2004 eine Notschlafstelle, später folgten Wohnplätze. Mit dem neuesten Projekt soll die Integration von Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, noch weitergehen. "Mir wurde klar, dass auch unsere Würde beschädigt wird, wenn wir zulassen, wie die Menschen auf der Straße zu leben gezwungen sind", erklärt die resolute Frau ihre Beweggründe.
Gereon, ein Psychologie-Student aus Köln, glaubt ebenfalls noch fest an das Projekt, obwohl er schon negative Erfahrungen machen musste. "Am Anfang war mein Mitbewohner hier ordentlicher und hat weniger getrunken als meine alten WG-Kollegen, die Psychologie studiert haben", sagte der 21-jährige Buddhist. Doch der ehemals obdachlose 47-jährige Wiener wurde zusehends aggressiv, trank vermehrt und begann Gereon zu bedrohen. "Ich wollte ja nicht, dass er wieder auf die Straße muss, aber es ging einfach nicht mehr." Jetzt freue er sich auf einen neuen Mitbewohner.
von Sandra Walder, dpa