Sollten Augenbrauenwülste den Schädel beim Kauen schützen?
Im Laufe der Evolution hat der Mensch sein Aussehen deutlich verändert. Während unsere Stirn heute eher flach ist, verfügten frühe Menschen über stark gewölbte Verdickungen über den Augen. Doch welche Funktion erfüllten diese sogenannten Überaugen- oder Augenbrauenwülste bei unseren Vorfahren?
Diese Frage ist bisher nicht eindeutig geklärt. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Struktur den sonst freien Raum zwischen Hirnschädel und Augenhöhle ausfüllte. Oder dass der Wulst den Schädel stabilisierte und ihn vor den mechanischen Belastungen schützte, die beim Beißen und Kauen auf ihn einwirkten.
Wissenschaftler um Ricardo Miguel Godinho von der University of York haben nun überprüft, wie plausibel diese Erklärungen sind. Dafür erstellten sie ein virtuelles Modell des 125.000 bis 300.000 Jahre alten sogenannten Kabwe-Schädels. Das Fossil wurde am gleichnamigen Fundort in Sambia entdeckt, vereint die typischen anatomischen Merkmale eines Frühmenschen und gehört wahrscheinlich der Art Homo heidelbergensis an.
Starke Augenbrauen als Signal für sozialen Status?
Am Computer variierten die Forscher die Größe der Überaugenwülste und beobachteten, wie sich diese Veränderungen auswirkten. Dabei stellten sie fest: Die Struktur schien keinen räumlichen Vorteil zu schaffen und war deutlich größer als sie nötig gewesen wäre, um den Übergang zwischen Gesicht und Schädel zu stabilisieren.
Auch eine Schutzfunktion beim Kauen schien die knöcherne Verdickung nicht zu erfüllen. Die Belastungen auf den Schädel schwankten in der Simulation lediglich je nach Kaukraft und benutzten Zähnen, waren aber unabhängig von der Ausprägung der Überaugenwülste. "Das deutet darauf hin, dass in der Evolution des Homo-Gesichts im mittleren Pleistozän der Biomechanik der Augenbrauenwülste kaum eine adaptive Bedeutung zukam", kommentiert Paläobiologe Markus Bastir vom Nationalen Naturkundemuseum in Madrid.
Stattdessen glauben Godinho und seine Kollegen, dass der Struktur statt einer physikalischen womöglich eine soziale Bedeutung zukam: als visuelles Signal für Dominanz oder Aggression. "Schaut man sich andere Tiere an, ergeben sich interessante Hinweise auf die mögliche Funktion der markanten Wülste", sagt Studienautor Paul O’Higgins. "Bei Mandrillen haben dominante Männchen beispielsweise farbenfrohe Verdickungen auf beiden Seiten ihres Mauls, die ihren sozialen Status zur Schau stellen. Das Wachstum dieser Strukturen wird durch Hormone gesteuert und die Knochen darunter sind von einer Art mikroskopischen Kratern durchzogen – dieses Merkmal findet sich auch in den Augenbrauenknochen archaischer Hominini."
Subtile Kommunikation dank beweglicher Augenbrauen
Demnach könnte die auffällige Gesichtsstruktur für unsere Vorfahren so etwas gewesen sein wie das Geweih für den Hirsch. Doch was eine Zeit lang praktisch war, musste irgendwann weichen: Die dicken Wülste verschwanden, die Stirn wurde flacher, die Augenbrauen beweglicher. Der Treiber hinter dieser Entwicklung war wahrscheinlich wiederum ein sozialer, wie die Wissenschaftler vermuten: "Moderne Menschen sind die letzten überlebenden Hominini. Während unsere Schwester-Spezies, der Neandertaler, ausstarb, kolonisierten wir im rasenden Tempo den gesamten Erdball und überlebten auch in extremen Lebensräumen. Dieser Erfolg hatte viel mit unserer Fähigkeit zu tun, große soziale Netzwerke aufzubauen", konstatiert Godinhos Kollegin Penny Spikins.
Bewegliche Augenbrauen erlaubten den Menschen, komplexe Emotionen auszudrücken und aus fremden Gesichtern abzulesen. Durch winzige Bewegungen drücken wir Erstaunen oder Anerkennung aus und verraten unbewusst, ob wir gerade ehrlich sind oder unser Gegenüber täuschen. "Die Augenbrauen sind das entscheidende Puzzlestück, das erklärt, warum die modernen Menschen so viel besser miteinander auskamen als andere, inzwischen ausgestorbene Hominini", sagt Spikins. Die flexiblen Brauen waren demnach ein Mittel für eine subtile Form der Kommunikation.
Paläobiologe Bastir bewertet den Ansatz des Forscherteams als spannend und interessant – die Interpretationen seien jedoch mit Vorsicht zu genießen. Denn es gibt einen Haken: Weil dem Kabwe-Schädel der Unterkiefer fehlt, hat das Team für seine Simulationen das passende anatomische Stück eines Neandertaler-Fossils ergänzt. Die Größe des Gesichts ist bei beiden Arten zwar ähnlich, aber eben nicht identisch. Es bleibt demnach offen, ob die biomechanischen Effekte der Überaugenwülste richtig berechnet wurden. "Trotzdem versorgen uns die Autoren durch ihre Arbeit mit stimulierenden Ideen für die Erforschung der Evolution des Homo-Gesichts", schließt er.
Ricardo Miguel Godinho (University of York) et al., Nature Ecology & Evolution,
doi: 10.1038/s41559-018-0528-0