Zahnärzteschaft bekennt sich zu ihrer Verantwortung in der NS-Zeit
Bei der Gedenkveranstaltung am Mittwochabend in Berlin betonten Vertreter der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) die Bedeutung einer offenen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit gehe zugleich die Verpflichtung einher, sich auch künftig klar Antisemitismus, Ausgrenzung und Menschenverachtung entgegenzustellen.
Erstmals wurde der „Hans-Türkheim-Preis“ für herausragende wissenschaftliche Arbeiten zur Zahnheilkunde im Nationalsozialismus verliehen. Zudem wurde das auf achte Bände angelegte Lexikon der Zahnärzte und Kieferchirurgen im „Dritten Reich“ und im Nachkriegsdeutschland vorgestellt. Höhepunkt der Veranstaltung waren die Schilderungen des 99-jährigen Holocaust-Überlebenden und Arztes Dr. Leon Weintraub.
„Lasst uns in Frieden miteinander leben!“
Höhepunkt der Gedenkfeier war das Gespräch zwischen dem Zeitzeugen Dr. Leon Weintraub und Dr. Nico Biermanns von der RWTH Aachen. Der 1926 in Polen geborene Weintraub schilderte seine Erlebnisse während der NS-Zeit. Er erlebte Hunger und Entrechtung und entkam in Auschwitz nur mit Glück dem Tod. Vier von fünf Mitgliedern seiner Familie wurden von den Nazis ermordet. Im Jahr 1940 wurde er gemeinsam mit seiner Familie von den Nationalsozialisten in das Ghetto Litzmannstadt umgesiedelt, wo er als Elektriker Zwangsarbeit leisten musste. Später war Weintraub in mehreren Konzentrationslagern inhaftiert. Nach dem Krieg studierte er Medizin in Göttingen und gründete eine Familie. Anschließend arbeitete er in Warschau als Gynäkologe, bevor er nach Schweden auszuwanderte, wo er seitdem lebt. „Was ist unsere Erde mehr als ein Stäubchen im Weltall“, fragte der 99-Jährige zum Schluss seiner Schilderungen. Es sei absurd, auf diesem Stäubchen die Einwohner in Gruppen zu unterteilen. „Wir sind alle als Menschen geboren. Lasst uns in Frieden miteinander leben“, appellierte Weintraub an alle. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gedenkveranstaltung, die von seinen Ausführungen tief bewegt waren, dankten ihm mit stehendem Applaus.
Vorausgegangen war ein Forschungsprojekt, in dem zwischen 2017 und 2019 die Verstrickungen der Zahnärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus umfassend wissenschaftlich aufgearbeitet wurden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung hatten BZÄK, KZBV und DGZMK 2019 in einer Pressekonferenz vorgestellt. Nach den pandemiebedingten Einschränkungen sollte mit der Gedenkveranstaltung nun „ein würdiger Rahmen geschaffen werden, um der Opfer zu gedenken und Verantwortung für Schuld und Versäumnisse des Berufsstandes in der Vergangenheit zu übernehmen“, hieß es.
Der Berufsstand war tief verstrickt
Martin Hendges, Vorsitzender des Vorstands der KZBV, nannte die Ergebnisse des Forschungsprojekts „erschütternd“. „Der Berufsstand war tief verstrickt, und diese Verstrickung setzte sich nach 1945 vielfach fort“, sagte Hendges. Es habe aber auch Kolleginnen und Kollegen gegeben, die sich der nationalsozialistischen Ideologie verweigerten und sich offen gegen Unrecht und Verfolgung stellten. Viele von ihnen hätten dies mit ihrem Leben bezahlt.
„Ihr Beispiel mahnt uns bis heute, Verantwortung zu übernehmen, wo Unrecht geschieht, und für die Würde jedes einzelnen Menschen einzustehen“, betonte Hendges. Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt bezeichnete er als „Mahnung und Verpflichtung zugleich“. Sie forderten dazu auf, Verantwortung zu übernehmen für eine Geschichte, die nicht vergehe und für eine Zukunft, in der Rassismus, Ausgrenzung und Antisemitismus keinen Platz haben dürfe.
Angesichts des beunruhigenden Wiedererstarkens von Antisemitismus in Deutschland stellte Hendges klar, dass KZBV, BZÄK und DGZMK „an der Seite der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland“ stehen und jede Form von Antisemitismus klar verurteilten. Jüdinnen und Juden müssten überall im Land sicher und ohne Angst leben können. Hendges rief dazu auf, „die Erinnerung wach zu halten und alles zu tun, um jeder Form des Antisemitismus in unserer Gesellschaft eine klare Absage zu erteilen“.
Was manche Zahnärzte taten, stand im Widerspruch zum Heilberuf
Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, zollte der Zahnärzteschaft Respekt für die Aufarbeitung ihrer Rolle in der NS-Zeit. Die historische Aufarbeitung habe gezeigt, wie tief die Verstrickungen der Zahnmediziner reichten. Er rief die Zahnärzteschaft auf, nun nicht nachzulassen, sondern sich dem wieder zunehmenden Antisemitismus klar entgegenzustellen.
„Nie wieder ist jetzt“, betonte Klein, denn seit dem 7. Oktober 2023 habe die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland drastisch zugenommen. Heilberufe müssten mit gutem Beispiel vorangehen. „Ich wünsche mir, dass die Zahnärzteschaft Vorbild bleibt“, machte Klein deutlich.
Dr. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, dankte in einer Video-Botschaft dem Medizinhistoriker Prof. Dr. Dominik Groß vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen für „seine unermüdliche Initiative, wissenschaftliche Präzision und Hartnäckigkeit“. Was manche Zahnärzte in der NS-Zeit getan hätten, habe im Widerspruch zu dem gestanden, wofür Heilberufe eigentlich da seien.
Dass sich die organisierte Zahnärzteschaft mehr als 80 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus ihrer eigenen Verantwortung stelle, verdiene Respekt. Leider gebe es in der Gegenwart wieder Hassparolen gegen Juden. „Erinnerung ist eine Haltung. Hoffentlich schützt sie vor einer Wiederholung der Unmenschlichkeit“, sagte Schuster.
Bis zu 60 Prozent der Zahnärzte waren in der NSDAP
Groß fasste im Anschluss wichtige Erkenntnisse des Forschungsprojekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ zusammen. So sei der Anteil der Zahnärzte, Hochschullehrer und Standespolitiker, die Mitglied der NSDAP waren, mit 50 bis 60 Prozent vergleichsweise hoch gewesen.
Als einen Grund dafür nannte Groß die Konkurrenzsituation zwischen Zahnärzten und Dentisten, aber auch die Rolle der Zahnärzte in der Gesundheitserziehung der Bevölkerung. 305 Zahnärzte seien in der Waffen-SS im Einsatz gewesen, etwa 100 waren KZ-Zahnärzte. In diesen Funktionen waren Zahnärzte für Selektionen von Inhaftierten in Konzentrationslagern und Zahngoldraub mitverantwortlich. Einige wirkten bei Menschenversuchen mit.
Zugleich konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass während der NS-Zeit 2.300 Zahnbehandler verfolgt wurden, wegen ihrer jüdischen Herkunft oder aus anderen Gründen. Die meisten verließen Deutschland, knapp ein Viertel wurde deportiert. Nur sechs Prozent der Deportierten hätten überlebt, berichete Groß.
Lisa Bitterich erhält Hans-Türkheim-Preis
Während der Veranstaltung wurde außerdem erstmals der Hans-Türkheim-Preis verliehen, den die DGZMK für herausragende wissenschaftliche Arbeiten zum Themenfeld „Zahnheilkunde und Zahnärzteschaft im Nationalsozialismus“ stiftet. Namensgeber des Preises ist der in Hamburg geborene, jüdische Hochschullehrer Hans Türkheim, der aufgrund der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1936 nach Großbritannien fliehen musste und in London eine private Zahnarztpraxis eröffnete.
DGZMK-Präsident Prof. Dr. Dr. Jörg Wiltfang und der Historiker Kay Lutze überreichten den Preis an Dr. Lisa Bitterich von der RWTH Aachen, die in ihrer kumulativen Promotion vier international beachtete Studien veröffentlichte – unter anderem über das Verhältnis zahnärztlicher Hochschullehrer zum Nationalsozialismus. Wiltfang würdigte die Preisträgerin und ihre Arbeit als wichtigen Impuls für die fortlaufende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Berufsstandes: „Mit dem Hans-Türkheim-Preis ehren wir Forschung, die Erinnerung lebendig hält und Verantwortung im wissenschaftlichen Diskurs verankert. Frau Dr. Bitterich zeigt mit ihrer Arbeit, wie Aufarbeitung wissenschaftlich fundiert, kritisch und zugleich zukunftsweisend gestaltet werden kann."
Im Anschluss stellte Prof. Dr. Peter Proff, Präsident elect der DGZMK, das Lexikonprojekt vor, das aus dem Forschungsprojekt hervorgegangen ist. Die in diesem Rahmen dokumentierten Biografien von Tätern, Mitläufern und Opfern unter den Zahnärzten während der NS-Zeit sollen in einem auf acht Bände ausgelegten Personenlexikon erscheinen. Vier der acht Bände sind bereits erschienen.
Für den Autor des „Opus Magnus“, Dominik Groß, sei das Projekt „eine echte Herzensangelegenheit“. Allein der vierte Lexikonband umfasse über 1.300 Seiten und enthalte 640 weitere Biografien. Das Werk habe Gedenkbuchcharakter und hole Lebensläufe ins kollektive Gedächtnis zurück. Wenn es fertiggestellt sei, stehe damit das umfassendste Nachschlagewerk der NS-Aufarbeitung einer Berufsgruppe zur Verfügung, sagte Proff.
„Erinnerung darf kein punktuelles Ereignis sein“
„Diese gemeinsame Gedenkveranstaltung ist kein Schlusspunkt, sondern ein weiterer Schritt im fortlaufenden Prozess der Erinnerung und Aufarbeitung. Erinnerung darf kein punktuelles Ereignis bleiben“, sagte BZÄK-Präsident Prof. Dr. Christoph Benz zum Abschluss. „Sie ist Teil unserer beruflichen und gesellschaftlichen Identität – heute und in Zukunft.“




