Zeitdruck verschlechtert chirurgische Qualität
Zeitdruck zählt zu den größten Stressfaktoren in der Chirurgie und kann die Qualität chirurgischer Eingriffe beeinträchtigen. Wie genau sich die Verknappung der Zeit auf die chirurgischen Fähigkeiten bei minimalinvasiven Eingriffen auswirkt, haben Forschende des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden und der TU Dresden nun in einer Studie anhand verschiedener Qualitätskriterien untersucht.
In die Studie eingeschlossen waren 63 Probanden: 43 Medizinstudierende, die zuvor ein bestimmtes Trainingslevel für minimalinvasive Operationstechniken erreicht hatten, sowie 20 erfahrene Chirurgen (Assistenz-, Fach- und Oberarzt-Level).
Untersucht wurde die von allen Teilnehmenden ausgeübte mittlere und maximale Kraft sowie das Auftreten vordefinierter Fehler bei vier für das Training minimalinvasiver Operationen typischen Aufgaben. Die Aufgaben wurden an einer Trainingsbox ausgeführt, zunächst ohne Zeitvorgabe und zu einem späteren Zeitpunkt unter der Maßgabe, die zuvor individuell benötigte Zeit um mindestens zehn Prozent zu unterschreiten.
Bei zu viel Kraft kann das Gewebe geschädigt werden
Bei der Ausführung der Aufgaben unter Zeitdruck zeigte sich über alle Teilnehmenden hinweg ein signifikanter Anstieg bei der mittleren und maximalen Kraftaufwendung. Dieser Anstieg war bei den erfahrenen Operateurinnen und Operateuren bei zwei von vier Aufgaben messbar, bei den Studierenden bei allen vier Aufgaben (mittlere Kraft), beziehungsweise bei drei von vier Aufgaben (maximale Kraft). Die Forschenden arbeiteten hierbei mit einem System, das die ausgeübte Zug- und Druckkraft in allen drei Dimensionen messen kann.
Prof. Marius Distler, stellvertretender Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie (VTG) des Universitätsklinikums Dresden, erklärt: „Die ausgeübte Kraft, besonders die maximale Kraft, ist ein wichtiges Qualitätskriterium für chirurgische Eingriffe. Wird zu viel Kraft ausgeübt, kann das Gewebe geschädigt werden, mit zum Teil gravierenden Folgen für den Patienten. Wir konnten feststellen, dass die durch den Zeitdruck bedingte erhöhte Kraftausübung bei Anfängern besonders hoch ist und mit zunehmender Erfahrung der Chirurgen abnimmt. Dennoch waren wir überrascht, wie deutlich dieser Effekt auch bei erfahrenen Kolleginnen und Kollegen messbar war.“
Eingriffe lassen sich nicht beliebig beschleunigen
„Die Erkenntnisse dieser Studie sind, obwohl sie vielleicht auf der Hand liegen, ein wichtiges Moment, die Abläufe, die Zeitplanungen und die Personalstrukturen in den Kliniken einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Am Universitätsklinikum Dresden erfolgt das seit Jahren durch ein hoch spezialisiertes Qualitätsmanagement“, betont Prof. Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand des Universitätsklinikums Dresden.
„Unsere Operationen werden mit umfänglichen Laufzeiten und voll besetzten Teams geplant, was ausreichend Kapazitäten schafft. Der Fokus liegt ganz klar auf Qualität. Der Versuchung, die Dauer von Operationen beispielsweise aufgrund von wirtschaftlichen Erwägungen auf ein Minimum zu reduzieren, sollte man keinesfalls nachgeben“, so Prof. Jürgen Weitz, Direktor der Klinik für VTG-Chirurgie des Universitätsklinikums Dresden.
Der in der aktuellen Studie gemessene erhöhte Kraftaufwand ist gerade auch in der minimalinvasiven Chirurgie ein Problem, schreiben die Forschenden. Denn hier wird die Kraft über Instrumente oder robotergestützte Systeme ausgeübt.
„Der Chirurg hat hierbei ein sehr viel eingeschränkteres Kraftempfinden als bei einer offenen Operation, bei der er das Gewebe direkt berührt. Ein stressbedingter erhöhter Kraftaufwand ist so für Operateurinnen und Operateure schwerer wahrnehmbar. Wir arbeiten daher gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU auch an der Entwicklung von Systemen, die Chirurgen bei minimalinvasiven Eingriffen künftig ein taktiles Feedback bieten sollen“, sagt Dr. Florian Oehme, Oberarzt an der VTG-Klinik des Dresdner Uniklinikums.
Erfahrene Operateure schätzen ihr Stresslevel seltener richtig ein
Als zweites Qualitätskriterium wurde das Auftreten bestimmter vordefinierter Fehler untersucht. Dabei zeigte sich bei den Studierenden wie bei den erfahrenen Chirurginnen und Chirurgen eine deutliche Zunahme der Fehlerrate bei einer der vier Aufgaben – beim Ausführen einer präzisen Naht (Anzahl Fehler beim präzisen Nähen über alle Teilnehmenden ohne Zeitdruck: 6; mit Zeitdruck: 43)
Alle Teilnehmenden gaben über Fragebögen jeweils vor und nach Absolvierung der vier Aufgaben Auskunft über das selbst empfundene Stresslevel. Hierbei war das persönliche Stressempfinden bei den Studierenden nach Ausführung der Aufgaben unter Zeitdruck deutlich erhöht, während die erfahrenen Kolleginnen und Kollegen keine wesentlichen Unterschiede vermerkten.
„Dies gibt zumindest einen Hinweis darauf, dass die Selbsteinschätzung erfahrener Chirurginnen und Chirurgen hinsichtlich der Auswirkung von zeitbedingtem Stress auf ihre chirurgischen Fähigkeiten nicht immer zutreffend ist. Zwar waren die über die untersuchten Qualitätskriterien messbaren negativen Effekte bei ihnen geringer als bei den Studierenden, aber dennoch deutlich messbar“, sagt Dr. Felix von Bechtolsheim, Erstautor der Studie und Arzt an der VTG-Klinik.
Zeitdruck sollte bei Ops soweit wie möglich reduziert werden
Insgesamt deutet die Studie darauf hin, dass Zeitdruck in der minimalinvasiven Chirurgie so weit wie möglich reduziert werden sollte. „Vor allem junge Chirurginnen und Chirurgen benötigen zudem ein umfängliches Training in einer stressfreien Umgebung, um Fehler und hohe Kraftaufwände dann in realen Operationen so weit wie möglich vermeiden zu können“, ergänzt Prof. Distler.
F. von Bechtolsheim, S. Schmidt, et al. Does speed equal quality? Time pressure impairs minimally invasive surgical skills in a prospective crossover trial, International Journal of Surgery, Volume 104, 2022,https://doi.org/10.1016/j.ijsu.2022.106813