Internationaler Tag der seelischen Gesundheit

Beratung für Seele und Zähne

Seelische Belastungen können die Mundgesundheit negativ beeinflussen und umgekehrt können hinter seelischen Konflikten auch zahnmedizinische Aspekte stehen. Deshalb haben Berliner Zahnärzte und Psychotherapeuten vor knapp zehn Jahren ein bislang immer noch einzigartiges Projekt geschaffen – die Beratung für Seele und Zähne. Zahnärztin Dr. Bettina Kanzlivius stellt zwei Patientenfälle vor.

„Uns suchte beispielsweise eine Patientin* (die Patientenfälle wurden leicht verändert um die Anonymität der Patienten zu wahren) auf, die über Mundtrockenheit, unerträgliches Zungenbrennen und einen schlechten Geschmack klagte und ihre Prothese deshalb nicht tragen konnte“, berichtet Dr. Bettina Kanzlivius, zahnmedizinische Leiterin der Patientenberatung „Seele und Zähne“ zum internationalen Tag der seelischen Gesundheit am 10. Oktober.

Ihr Leben war aus den Fugen geraten

„Ein Gutachter hatte die Prothese als frei von Mängeln eingestuft. Doch die Patientin beklagte sich weiterhin: Ihr Leben sei aus den Fugen geraten, sie hätte stark abgenommen, da sie nur noch Suppe essen könne und würde nicht mehr aus dem Haus gehen „ohne Zähne“. Im vertrauensvollen Gespräch stellte sich dann heraus, dass sie immer wieder daran zweifelte, dass die Zähne gezogen werden mussten.“

Vor knapp zehn Jahren haben die Zahnärztekammer Berlin und die Psychotherapeutenkammer Berlin die bundesweit erste fachübergreifende, kostenlose Patientenberatungsstelle ins Leben gerufen: Bei „Seele und Zähne“ arbeiten Zahnärzte eng mit Psychotherapeuten zusammen, um bei den anfragenden Patienten mit gemeinsamer Fachkompetenz herauszufinden, ob die Ursache ihrer Zahnprobleme somatischer oder seelischer Natur ist. Etwa 25 Prozent der Bevölkerung gelten zurzeit als zumindest zeitweise psychosomatisch erkrankt. Dies trifft auch auf die Patientin zu von der Kanzlivius berichtet. Den Eingriff empfand diese als sehr traumatisch, ein Zahn war abgebrochen und musste ’aus dem Knochen gefräst’ werden. Immer wieder betonte sie, dass die Zähne vielleicht hätten erhalten werden können. „Im vertrauensvollen Gespräch erkannte die Patientin, dass sie die Prothese nicht annehmen konnte, weil sie den Verlust der Zähne nicht verkraftet hatte“, erläutert die Zahnärztin und und Diplom-Psychologin. Mithilfe eines Psychotherapeuten arbeitet sie nun dieses Trauma auf und lernt, sich auf ihren Zahnersatz einzulassen.

Sein Selbstbild war gestört

Eine anderer, junger Patient litt an starken Ängsten und Depressionen seit er fünf Zahnfüllungen erhielt. Er hatte einen Tag vor einem Auslandspraktikum einen Zahnarzt zur Kontrolle aufgesucht. Er hatte zuvor noch niemals eine Behandlung erhalten und wähnte sich komplett gesund. Der Zahnarzt hatte die Läsionen in einer Sitzung behandelt, um dem Patienten einen beruhigten Auslandsaufenthalt zu ermöglichen. Dieser litt jedoch seither an Depressionen, Schlaflosigkeit, sozialen Ängsten, einer Phobie, dass er Zähne verlieren könne. Im Gespräch schaffte er es, die Zusammenhänge zu erkennen und seine Ängste besser einzuordnen: „Dass er mehrere kariöse Zähne hatte, hatte ihn nicht nur unter starken Zeitdruck in einer an sich schon sehr aufregenden Umstellungssituation überrascht, sondern zudem noch sein Selbstbild als kerngesunder junger Mensch gestört.“

Dies sind nur zwei Beispiele von vielen. „Jeder Mensch und jeder Fall muss individuell betrachtet werden, wenn man die passende Hilfe zuteil werden lassen will“, erläutert Kanzlivius weiter. „Die seelische Gesundheit ist ein entscheidender Faktor der Lebensqualität mit weitreichenden Folgen – ihr sollte angemessene Beachtung geschenkt werden.“

In der Beratungsstelle „Seele und Zähne“ wird den Patienten die nötige Zeit gegeben, von ihren Problemen zu berichten. Die zahnmedizinische Vorgeschichte, Lebensumstände und besondere Belastungen kommen dabei meist zur Sprache. Daran kann das Berater-Team ansetzen, um zahnmedizinische Probleme, die zu psychischen Belastungen führen, ebenso wie eine psychosomatische Ursache von Zahn- und Kieferbeschwerden, zu analysieren.

Eine Erkrankung ist auch ein Informant

„Wichtig ist, den Patienten immer ernst zu nehmen, denn er erlebt seinen Leidensdruck unabhängig davon, ob andere ihn nachvollziehen können und benötigt Hilfe“, erklärt die Leiterin der Beratungsstelle. „Durch dieses Verständnis bauen die Patienten ein gewisses Vertrauen auf, das ihnen ermöglicht, sich für Zusammenhänge zwischen Psyche und Beschwerden zu öffnen und Hilfsangeboten aufgeschlossener gegenüberzustehen.“ Etwa 25 Prozent der Bevölkerung gelten zurzeit als zumindest zeitweise psychosomatisch erkrankt. „Nicht umsonst haben Zahnärzte den Satz ‚An jedem Zahn hängt immer ein ganzer Mensch‘ geprägt“, sagt Dr. Wolfgang Schmiedel, Präsident der Berliner Zahnärztekammer. „Dass Probleme oder Stress auch gravierende Auswirkungen auf die Mundgesundheit haben können, ist vielen Patienten leider nicht bewusst. Aber eine Erkrankung besagt auch häufig etwas über den Patienten im Ganzen und ist gewissermaßen ein Informant.“

Oft seien Zahnärzte daher die ersten Ärzte, die bei Patienten einen belastenden Druck erkennen: So können viele Störungen oder Krankheiten wie Zungen- und Schleimhautbrennen (Burning-Mouth-Syndrom), Zähneknirschen, Pressen (Bruxismus), erhöhte Anfälligkeit für Karies, Parodontitis oder Wangenkauen (Morsicatio) auf einen möglichen psychischen Ursprung hindeuten. Auch Kiefergelenksstörungen können bekanntlich durch psychische Belastung entstehen und unbehandelt zu Nacken-, Rücken- oder Kopfschmerzen sowie Ohrgeräuschen (Tinnitus) führen.

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