Lippen-Kiefer-Gaumenspalten

Stigma Spaltkind

Man kann als Nichtbetroffener nur erahnen, wie man sich mit einem „Spaltkind“ fühlt. Maike Herrmann, Psychologiestudentin an der Universität Leipzig, hat im Rahmen eines fünfmonatigen Praktikums bei der Deutschen Cleft Kinderhilfe e. V. in Indien 107 Mütter von Spaltkindern interviewt. Wie Hilfseinsätze konzipiert sein sollten und warum die „Safari-Chirugie“ nicht funktioniert, diskutiert Alexander Gross, Geschäftsführer der Organisation, in seinem Statement.

„Was löst die Geburt eines Spaltkindes bei Ihnen aus? Was wissen Sie über diese Fehlbildung? Wird die Mutter-Kind-Beziehung dadurch beeinträchtigt?“ – mit (unter anderen) diesen Fragen konfrontierte Maike Hermann 107 Mütter von Spaltkindern in Indien. Die Ergebnisse fließen gerade in ihre Masterarbeit ein.

Lippen-Kiefer-Gaumenspalten

Zahlen & Fakten

Die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte ist eine der häufigsten Fehlbildungen des Menschen. Spaltkinder werden überall auf der Welt geboren.In Europa geht man von einem Fall auf 500 bis 600 Geburten aus. In Asien kommen vermutlich häufiger Kinder mit einer Spalte auf die Welt, in Afrika weniger.

Stärker betroffen sind Gebiete mit schlechten Umweltbedingungen – mit Dioxin oder Kohlenstaub belastete Regionen oder besondere Höhenlagen (Anden, Himalaya).

Die Ursachen, die zur Entwicklung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten führen, sind bis heute medizinisch nicht abschließend geklärt. Genetische Faktoren und auch verschiedene äußere Faktoren wie Schadstoffbelastungen von Umwelt und Nahrungsmitteln, ein Sauerstoffmangel des Embryos und eine Mangelernährung der Mutter (Folsäure- und Vitamin-C-Mangel) spielen eine Rolle.

Wie alt die Kinder zum Zeitpunkt der ersten OP sind, hängt einerseits davon ab, mit welchem Alter sie in Spaltzentren gebracht werden, andererseits aber auch vom gesundheitlichen Zustand. Oft sind Spaltkinder unter einem Jahr unterernährt und müssen erst an Gewicht zulegen, bevor sie operiert werden können.Generell wird die Operation der Lippenspalte in den Zentren der Deutsche Cleft Kinderhilfe e. V. ab dem dritten Monat und die Operation der Gaumenspalte frühestens ab dem sechsten Monat durchgeführt.

www.spaltkinder.org

Die Interviews waren kompliziert. Die Studentin musste sich zunächst auf die völlig anderen Lebensumstände einstellen. Viele der Familien, die sie besuchen wollte, verdingen sich als Tagelöhner und riskieren ihren Job, wenn sie der Arbeit einen Tag fernbleiben. Zudem sind sie auf ihr Tageseinkommen angewiesen. So kam es vor, dass die junge Deutsche manchmal nach fünf Stunden Busfahrt in ein abgelegenes Dorf im südindischen Bundesstaat Karnataka trotz Verabredung vor der verschlossenen Tür einer Hütte stand.

Hatte sie dann eine Interviewpartnerin gefunden, wollten die Väter häufig den Raum nicht verlassen und beantworteten anstelle der Frauen die Fragen – mit der Aussage, eine verheiratete Frau wäre doch per se der gleichen Ansicht wie ihr Ehemann. Wenn Herrmann es schaffte, allein mit den Frauen zu reden, brauchte es eine Weile, bis die sich öffneten.

Auf dem Land liegt es an der Mutter

In ihren Gesprächen fand sie heraus, dass gerade in ländlichen Gebieten den Müttern meist die Schuld an der Fehlbildung ihres Kindes gegeben wird. Weit verbreitet ist dort der volkstümliche Glaube, dass schwangere Frauen während einer Sonnenfinsternis nichts schneiden dürfen, weil sie sonst ein Kind mit einer Spalte gebären würden. Etwa die Hälfte der Mütter begründete dies so – nur ein Viertel wusste, dass zum Beispiel auch eine familiäre genetische Vorbelastung eine Rolle bei der Erkrankung spielt.

Auszeichnung für Nachhaltigkeit

Auf dem International Cleft Congress in Chennai, Indien, wurde die Deutsche Cleft Kinderhilfe im Februar als eine von vier Organisationen für ihre Aufbauleistungen nachhaltiger Projekte und die Ermöglichung von über 40.000 Operationen weltweit ausgezeichnet.

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Die Befragungen haben zudem ergeben, dass die mütterliche Bindung eher stärker ausgeprägt ist, wenn das Kind eine Spaltfehlbildung hat, da die Mütter mehr Zeit in die Pflege ihres Kindes investieren. Im Vergleich zu Müttern von gesunden Babys berichteten Mütter von Spaltkindern aber auch von größerem elterlichem Stress. Den stärksten Druck erleben sie in der Zeit vor der Operation ihres Kindes. Als eindeutige Stresspuffer wirken gute Beziehungen im sozialen Umfeld und ein liebevoller Umgang der Familienmitglieder mit dem Spaltkind.

Eine durch die Deutsche Cleft Kinderhilfe ermöglichte Operation bedeutet für die Mütter vor allem Erleichterung. Nicht nur das Füttern des Kindes und dessen Sprache verbessern sich durch die Behandlung. Kind und Mutter werden bei Familienmitgliedern und Nachbarn deutlich besser akzeptiert. Herrmann fand auch heraus, dass es für die Frauen eine völlig neue Erfahrung ist, ihre Kinder mit Stolz in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Statement

Warum Safari-Chirurgie so nicht funktioniert!

Alexander Gross, Geschäftsführer Deutsche Cleft Kinderhilfe e. V. | © Deutsche Cleft Kinderhilfe e.V.

 

Wie entwickelt sich die Hilfe für Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten weltweit? Welchen Beitrag leistet die Auslandshilfe? In welche Richtung sollte gearbeitet werden? Mit diesen Fragen setzt sich die Deutsche Cleft Kinderhilfe e.V. seit Beginn ihrer Tätigkeit im Jahr 2002 auseinander.

Dabei stehen sich fundamental gegensätzliche Vorstellungen von Hilfe gegenüber. Die Deutsche Cleft Kinderhilfe positioniert sich hier klar und richtet ihre Hilfe auf eine ausschließlich nachhaltige Projektarbeit aus, in deren Rahmen die einheimischen Chirurgen, Ärzte, Therapeuten und Projektmitarbeiter im Zentrum stehen und die Entwicklungen bestimmen.

Viele Organisationen und OP-Teams folgen noch dem „Einsatz-Prinzip“ für ihre Auslandshilfe. Teams werden zusammengestellt, Partner im Ausland für das Auffinden von betroffenen Kindern gesucht und Krankenhäuser als Operationsstandort ausgewählt. Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit unterscheiden sich Einsätze oder „Missions“ im Grad ihrer Anbindung an die vorhandenen einheimischen Strukturen.

Die Bandbreite erstreckt sich von einmaligen chirurgischen Einsätzen („Safari-Chirurgie“), über wiederkehrende Einsätze mit Ausbildungskomponenten (die häufig nicht funktionieren) bis hin zu regelmäßigen Einsätzen mit dem Ziel, ein von Einheimischen getragenes Behandlungszentrum aufzubauen und zu etablieren. Doch auch dies scheitert häufig, weil den kulturellen und politischen Gegebenheiten im Projektland viel zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Fatal an diesen alten Konzepten ist, dass sie positive Entwicklungen in einem Land sogar behindern können.

In Indien fördert die Deutsche Cleft Kinderhilfe sechzehn Spaltzentren – unter anderem in Agra, einer Millionenstadt südlich von Neu-Delhi. Der leitende indische Mund-Kiefer-Gesichtschirurg, Dr. Gaurav Gupta, hat in acht Jahren 1.831 Operationen durchgeführt und betreut seine Patienten über viele Jahre umfassend. Doch seine Arbeit ist extrem belastet. Nicht, weil ein anderes, gut arbeitendes Zentrum Konkurrenz macht, sondern weil Operationsteams aus dem In- und Ausland „einfallen“, den aus sehr einfachen Verhältnissen stammenden Patienten Versprechungen machen und ihnen sogar direkt Geld anbieten. Gupta äußert sich eindeutig: „Operationseinsätze für Spaltpatienten in Indien müssen aufhören! Die Operationsqualität ist schlechter als in Zentren. Es gibt keine Nachbetreuung bei Komplikationen, von einer umfassenden Behandlung unter Beizug von Sprachtherapeuten, Zahnärzten und Kieferorthopäden ganz zu schweigen.“

Die Deutsche Cleft Kinderhilfe kennt die Argumente der Organisationen und Chirurgen, die von der Einzelfallhilfe ausgehen und Einsätze nach wie vor für berechtigt halten. Sie steht diesen Einsätzen in stark unterversorgten Regionen und Ländern auch nicht völlig ablehnend gegenüber, aber eine wirklich positive Veränderung erreichen wir dadurch für ein Land und LKG-Spalten-Patienten nicht.

Ein langfristig wirksames Konzept bedingt echte Partnerschaft, eine gute Beziehungsarbeit, kulturelles Verständnis und die intensive Beschäftigung mit regionalen privaten, gesellschaftlichen und politischen Kräften im Land. Nur dann können Anlaufstellen, chirurgische Projekte und später Spaltzentren erfolgreich aufgebaut werden.

Gute Hilfe im Ausland ist deshalb schwierig. Nehmen wir das Beispiel Vietnam: Ein Land, das als eines der ersten schon ab Mitte der 80er-Jahre von unzähligen LKGS-chirurgischen Gruppen besucht wurde. Zehntausende Kinder sind seither operiert worden, aber die Versorgung im Land ist immer noch auf einem mangelhaften Niveau. Natürlich liegt dies auch an den sozioökonomischen Bedingungen, doch die Initiatoren sollten sich heute die Frage stellen, was sie hätten besser machen können.

Bei den zumeist ehrenamtlichen Operationseinsätzen spielt die Interessenlage eine große Rolle. „Ich kann unbürokratisch operieren“, „Ich bekomme seltene chirurgische Fälle“, „Ich kann ein Land anders kennenlernen“, „Ich schätze das Gruppenerlebnis“, „Ich kann zu Hause über meinen Einsatz positiv berichten“ sind Schlüsselmotive, die wir gut kennen. Die ehrliche Beschäftigung mit dem Land selbst steht in der Regel hintan!

Welchen Normen und Werten folgen die Menschen, denen wir helfen? Welchen Normen und Motiven folgen unsere Verhandlungspartner und Freunde im Land? Für wen gibt es eine Krankenversicherung? Wie viel verdienen Ärzte und das Krankenhauspersonal im staatlichen System und auf privater Basis? Wie hoch sind der formelle und der informelle Eigenbeitrag der Patienten? Wie funktioniert die offizielle Versorgung für Spaltkinder? Wie müssen wir die Politik und die Verwaltung im Land einbinden? Welche negativen Konsequenzen lösen wir im Land durch unser Engagement aus? Welche ausländische Gruppe hilft sonst noch im Land oder in der Region, wo ich tätig werden möchte?

Die Suche nach Antworten ist schwierig und zeitaufwendig, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit markant, dass das eigene Projekt eine nachhaltig positive Wirkung für die medizinische Versorgung im Land auslösen kann und keine Eintagsfliege wird. Wir müssen deshalb offen sein für eine intensive Kommunikation mit den unterschiedlichsten Gesprächspartnern.

Im Kern ist es unmöglich, die Lebensbedingungen, die Lebensumstände und die kulturellen Eigenheiten eines anderen Landes tiefgründig zu verstehen. Wir können uns jedoch annähern und so einen nachhaltigeren Beitrag leisten, damit endlich in unserem Fall mehr Spaltkinder umfassender behandelt werden – inklusive einer guten Aufklärung der Eltern und der notwendigen psychologischen Betreuung.

Eine über einheimische Strukturen getragene, eigenverantwortliche Lösung für ein medizinisches Problem sollte unser Anspruch und unser Ziel sein. Zehn bis 20 Jahre sind der Zeitraum, den wir dafür einplanen müssen. Alle ehrenamtlich am Ausland Interessierten bitten wir, sich ebenfalls in so angelegten Projekten zu engagieren.

Alexander Gross
Geschäftsführer Deutsche Cleft Kinderhilfe e. V.

sf

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