Aufarbeitung der NS-Zeit

„Das Thema lässt mich nicht mehr los“

Das Thema verspricht wenig Ruhm und Ehre. Im Gegenteil, es lenkt den Blick auf Geschehnisse und Zeiten, die die allermeisten aus eigenem Erleben nicht mehr kennen und viele am liebsten eher verdrängen. Im Herbst dieses Jahres wird die medizinisch-historische Analyse zur Verstrickung der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in den Jahren des NS-Regimes in Deutschland vorgestellt. Prof. Dr. mult. Dominik Groß, Uni Aachen, zum Stand der Dinge.

Wann und warum haben Sie begonnen, sich mit der NS-Zeit aus medizinisch-historischer Sicht zu befassen?

Prof. Dominik Groß: Das begann vor gut 20 Jahren, als ich die Geschichte der DGZMK verfasste und über deren langjährigen Präsidenten Hermann Euler stolperte. Damals hatte ich aber noch nicht die Zeit, tiefer in die Materie einzutauchen. Das Autorenteam Hans Jörg Staehle und Wolfgang U. Eckart trat dann 2005 mit Enthüllungen über Euler und dessen Rolle bei den politischen „Säuberungen“ an der Universität Breslau an die Öffentlichkeit. Darauf wandte sich die DGZMK an mich mit der Bitte, eine Stellungnahme zu Euler abzugeben, die sich auch mit der Frage befassen sollte, ob die Hermann-Euler-Medaille weiterhin diesen Namen tragen sollte. Das Ergebnis kennen wir: Die Medaille wurde umbenannt. Seit diesem Zeitpunkt lässt mich das Thema nicht mehr los.

Wie ist es um die Faktenlage bestellt, gibt es genügend und eindeutige Quellen, um einzelne (Fehl-)Entwicklungen nachzuzeichnen?

Absolut. Es gibt reichlich Quellen, die zum Teil noch nie für Publikationen ausgewertet wurden. Vor allem im Bundesarchiv Berlin, wo sich auch die NSDAP-Mitgliederkartei befindet, aber auch in vielen Staats-, Landes-, Stadt- und Uniarchiven, wo zum Beispiel Entnazifizierungs- und Personalakten lagern. Insgesamt sind aber die Täter besser dokumentiert als die Opfer – vor allem wenn Letztere zwangsemigriert, geflüchtet oder eines gewaltsamen Todes gestorben sind.

Wie war die Resonanz auf Ihr Vorhaben, gab es nennenswerte Widerstände beziehungsweise war der Berufsstand nach Jahrzehnten des Nichtstuns offen für eine solche Aufarbeitung?

Eigentlich gab es kaum kritische Reaktionen nach dem Bekanntwerden der Förderung, eher Unterstützung und Wohlwollen. Es hat allerdings lange gedauert, bis das Aufarbeitungsprojekt letztlich zustande kam. Und das hat vermutlich damit zu tun, dass mancher Verantwortliche fürchtete, die deutsche Zahnärzteschaft würde ein solches Forschungsvorhaben – und insbesondere unerfreuliche Ergebnisse des Projekts – kritisch aufnehmen. Aber auch das sehe ich bisher nicht.

Zahnmedizinische Wissenschaft: Inwieweit wurde diese von den Nazis missbraucht?

Korrekterweise müssen wir sagen: Sie hat sich missbrauchen lassen – in weiten Teilen sehr bereitwillig. So haben sich zum Beispiel bereits 1933 kurz nach Hitlers Machtübernahme 38 führende zahnärztliche Hochschullehrer zur „zahnärztlichen Einheitsfront“ zusammengefunden, um den bekennenden Nationalsozialisten Otto Loss (als „Reichsdozentenführer“) und Ernst Stuck (als „Reichszahnärzteführer“) ihre Treue auszusprechen. Man darf auch nicht vergessen: Die Entrechtung der Juden an den deutschen Universitäten bedeutete für viele karrierewillige „arische“ Kollegen enorme Aufstiegschancen. Letztlich zeigten sich nur ganz wenige Zahnärzte mit den jüdischen Kollegen solidarisch. Dies war freilich unter den Ärzten oder Juristen nicht anders ...

Auch in der Zahnmedizin konnten NS-Protagonisten nach dem Krieg mehr oder minder ungehindert wieder arbeiten. Gab es Beispiele, wo Ihre Forschungsergebnisse sagen, so einer hätte niemals mehr Patienten behandeln dürfen?

Da gibt es leider etliche Beispiele. Ich möchte hier vier prägnante Fälle nennen: Der Zahnarzt und SS-Obersturmbannführer Hermann Pook, Vorgesetzter aller Zahnärzte in den Konzentrationslagern und Angeklagter im Rahmen der Nürnberger Prozesse, praktizierte späterhin in der Bundesrepublik als niedergelassener Zahnarzt in Hemmingstedt.

Hitlers Zahnbehandler, der Dentist Hugo Blaschke, trug als „oberster Zahnarzt der SS“ eine weitreichende Verantwortung für die KZ-Zahnstationen und den „Zahngoldraub“ an den ermordeten Juden. Dennoch konnte er in Nürnberg eine Zahnarztpraxis gründen und sogar den von Hitler verliehenen Professorentitel weiterführen.

Der KZ-Zahnarzt Willy Schatz – unter anderem zuständig für die todbringende Selektion von KZ-Häftlingen – war später als niedergelassener Zahnarzt in Hannover tätig.

Und der berüchtigte Gauleiter und Zahnmediziner Otto Hellmuth wurde in der Bundesrepublik Kassenzahnarzt in Reutlingen. Dabei war er im „Dritten Reich“ nicht nur an der Erschießung von notgelandeten alliierten Fliegern im September 1944 beteiligt, sondern hatte 1940 auch die Heil- und Pflegeanstalt Werneck räumen lassen – mit tödlichen Folgen, denn viele Patienten wurden daraufhin, über verschiedene Zwischenstationen, in Tötungsanstalten gebracht und vergast.

Kommt diese historische Aufarbeitung insgesamt nicht ein wenig spät? Erwarten Sie konkrete Auswirkungen aufgrund der Ergebnisse?

Besser spät als nie. Ich glaube schon, dass die organisierte Zahnärzteschaft nach der Präsentation der Endergebnisse öffentlich reagieren wird. Die Entscheidungsträger bei der DGZMK, der BZÄK und der KZBV stehen hinter dem Projekt und werden sicherlich eine passende Form und einen geeigneten Rahmen finden.

Die Fragen stellte Markus Brakel (Pressebüro Brakel).

Die Fotos sind den beiden jüngsten zm-Artikeln zum Thema „Zahnärzte und die NS-Zeit“ entnommen: zm 20/2017 „Im Dienste des Volkskörpers“ und zm 15-16/2017 „Halbgötter in Braun“.

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