Kommentar Bernd Oppermann und Dr. Gerald Neitzke

„Der Zahnarzt muss die Studenten gemäß ihrem Ausbildungsstand einsetzen“

Gerald Neitzke
,
Bernd Oppermann

Eine Famulatur auf den Cook-Inseln oder in den Anden Perus? Abenteuerlust und Idealismus können den Einzelnen motivieren, eine Auslandsfamulatur in einem Land mit unzureichender Gesundheitsversorgung anzutreten. Für die ethische Analyse der geschilderten Situation sollen zunächst die breit akzeptierten vier Prinzipien nach Beauchamp und Childress angewendet werden (Prinzipienethik). Konkret handelt es sich dabei um den Respekt vor der Patientenautonomie, das Gebot des Nichtschadens (nonmaleficence), das Prinzip des Wohltuns (beneficence) und das Gebot der Gerechtigkeit.

Bei der Analyse sind die Konsequenzen für alle Beteiligten zu prüfen – und zwar sowohl in Bezug auf das gewählte Vorgehen als auch für den Fall, dass den Studierenden die Behandlung untersagt wird. Alle Bewertungen müssen in einen Abwägungsprozess einmünden, der dann wegweisend für die Entscheidung ist.

Autonomie ist in liberalen, pluralistischen Gesellschaften ein anerkannter Grundwert. Auf diesem Prinzip fußt das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen. Für Patientenautonomie bedeutet dies, dass durch empathisches Handeln die Fähigkeit des Patienten zur Entscheidungsfindung gestärkt und die Entscheidung dann respektiert wird. Den vier Hauptprinzipien haben Beauchamp und Childress Prinzipien zweiter Ordnung hinzugefügt, die sich speziell auf das Arzt-Patient-Verhältnis beziehen. Im vorliegenden Fall sind vor allem die Glaubwürdigkeit (veracity) und Ehrlichkeit (fidelity) berührt.

Ethische Falldiskussion „Hilfsaktionen“

Diesem Themenaufriss folgt ein Erlebnisbericht über eine Auslandsfamulatur auf den Cook Islands. Die eigentliche Falldiskussion wird wie gewohnt von zwei Kommentaren (Kommentar 1/Kommentar 2) begleitet, hinzu kommt dieses Mal eine juristische Stellungnahme.

Daraus lässt sich ableiten, dass die Patienten im Rahmen des Informed Consent (neben Risiken und Alternativen) auch über den Ausbildungsstand der Studenten informiert werden müssen. Die Patienten darüber im Unklaren zu lassen, dass die Studenten über keine ausreichende chirurgische Erfahrung verfügen, wäre bevormundend und stark paternalistisch (und in Deutschland rechtswidrig). Gemäß Beauchamp und Childress darf starker Paternalismus aber nur angewendet werden, wenn vitale Interessen oder die Autonomie selbst auf dem Spiel stehen. Beides ist hier nicht der Fall, daher sind chirurgische Behandlungen durch die Studenten nicht zu rechtfertigen.

Das Prinzip des Nichtschadens muss ebenfalls geprüft werden. Aufgrund der ungünstigen Arbeitsbedingungen (unzureichendes Instrumentarium, keine Röntgendiagnostik), des Ausbildungsstands und der Unmöglichkeit, die Studenten anzuleiten und zu beaufsichtigen, besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Komplikationen, die durch die Studenten nicht vorhergesehen oder therapiert werden können. Dr. W. könnte die Patienten bei Problemen nicht ausreichend vor Schäden schützen, die während der Behandlung auftreten. Das erhöhte Komplikationsrisiko durch die Studentenbehandlung verletzt das Gebot des Nichtschadens. Für das alternative Vorgehen, nämlich eine Beschränkung auf ausbildungsgerechte Behandlungen, lassen sich aber ebenfalls schädliche Konsequenzen identifizieren: Möglicherweise wird bei einzelnen Patienten eine rechtzeitige und erfolgreiche Behandlung zu ihrem Schaden unterlassen. Ein Schaden für die Studierenden ist hingegen nicht zu erkennen, da sie ja keinerlei Anspruch auf die Durchführung chirurgischer Eingriffe haben.

Kontrovers lässt sich das Prinzip des Wohltuns diskutieren. Aufgrund der mangelhaften medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten Südamerikas kann prinzipiell jedes Hilfsprojekt die Versorgungslage der Bevölkerung verbessern. Vereinfacht könnte man sagen: Unqualifizierte Hilfe ist besser als gar keine Hilfe. Auch für die Studenten hat die chirurgische Behandlung positive Konsequenzen, da sie – zulasten ihrer Patienten – zahnärztliche Eingriffe erlernen können. Allerdings besteht die Gefahr, dass durch die Behandlungstätigkeit der Studenten Ressourcen genutzt werden, die an anderer Stelle fehlen. Treten zusätzlich Komplikationen auf, die dann von W. behandelt werden müssen, fehlt seine Arbeitskraft anderweitig. Außerdem könnten die Studenten einheimisches Personal binden, das dann andere Arbeiten nicht durchführen kann.

Diese Punkte berühren das letzte Prinzip der Gerechtigkeit . Die von den Studenten gebundenen Ressourcen stehen anderen Patienten nicht mehr zur Verfügung. Es sind aber auch Tätigkeiten der Studenten denkbar, durch die den Patienten ein Nutzen entsteht. Dies wären z. B. Mundhygieneinstruktionen, einfachere Füllungen, Befundaufnahmen oder Vorbehandlungen, durch die die Arbeit von W. effizienter gestaltet werden kann. So würde der Einsatz der Studenten möglichst vielen Patienten gerecht.

W. sollte die Lösung seines Problems durch das Abwägen der einzelnen Prinzipien finden. Wir sind der Ansicht, dass eine chirurgische Behandlung durch Studenten alle vier geprüften Prinzipien verletzt, ohne dass dies vom Nutzen für die Studenten aufgewogen wird. Es obliegt der Verantwortung von W., die Studenten nur ihrem Ausbildungsstand entsprechend einzusetzen. Der ethische Wert der Verantwortung, der in der Prinzipienethik nicht vorkommt, ist also für eine praktische Lösung unverzichtbar.

Dr. Bernd Oppermann

Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin

Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

Niedergelassener Zahnarzt in Hildesheim

bernd.oppermann.za@arcor.de

Dr. Gerald Neitzke

Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin

Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

neitzke.gerald@mh-hannover.de

Dr. Gerald Neitzke

Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

Dr. Bernd Oppermann

Bahnhofsallee 33, 31134 Hildesheim

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