Aus der Wissenschaft

Milchprodukte nach Dentoalveolär-Chirurgie?

Viele Kolleginnen und Kollegen haben es so gelernt, ob an der Uni, von ihrem ersten Chef oder aus Büchern: Nach chirurgischen Eingriffen sollte der Patient keine Milchprodukte zu sich nehmen. Aber warum eigentlich nicht? Und gibt es dafür überhaupt eine Evidenz?

Die Zahnärztin Schiwa Seyedi Moghaddam aus Bad Soden und Prof. Dr. Andreas Neff aus Marburg sind diesen Fragen im Rahmen einer Pilotstudie jetzt nachgegangen. Die Forscher verschickten 150 Fragebögen an Zahnärzte, Fachzahnärzte für Oralchirurgie und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen im Raum Marburg-Biedenkopf, Aschaffenburg und Wiesbaden. Sie erhielten 114 Fragebögen beantwortet zurück, die Mehrzahl von Allgemeinzahnärzten (76), 25 von Fachzahnärzten für Oralchirurgie und 13 von MKG-Chirurgen.

Ergebnisse

Insgesamt rieten 56,1 Prozent der Befragten ihren Patienten nach chirurgischen Eingriffen auf Milch und Milchprodukte zu verzichten. Zwischen den Antworten der chirurgischen Fachkollegen und denen der Allgemeinzahnärzte gab es allerdings einen signifikanten Unterschied: 64,9 Prozent der Allgemeinzahnärzte würden auf Nachfrage von Patienten eher zum Verzicht auf Milchprodukte raten, aber nur 42,1 Prozent der chirurgischen Fachkollegen würden das tun. Es herrscht also Uneinigkeit.

Zum Thema Milch und Milchprodukte nach dentoalveolär-chirurgischen Eingriffen existieren erstaunlicherweise keine Studien, die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hält keine Leitlinie bereit, in der dieses Thema vorkommt. Selbst im englischsprachigen Raum ist keine wissenschaftliche Untersuchung dazu zu finden. Die Empfehlung „keine Milchprodukte nach Zahn-Op“ ist traditionell im deutschsprachigen Raum vorhanden. Alles nur Empirie? Was sind die Befürchtungen der Kollegen, die diese Empfehlung aussprechen und ist ihre Sorge (noch) berechtigt?

Diskussion

Die Studienautoren haben die sechs Hauptargumente gegen Milchprodukte nach dentoalveolär-chirurgischen Eingriffen zusammengetragen und diskutiert. Im Folgenden ist die ausführliche Diskussion der Studie in aller Kürze zusammengefasst.

  • Milchprodukte könnten die Wirksamkeit von Antibiotika beeinträchtigen.

Bei Tetrazyklinen und Chinolonen kommt es über eine Komplexbildung mit dem Kalzium der Milch zu einer geringeren Aufnahme im Magen-Darm-Trakt und damit zu einer geringeren Wirksamkeit des Antibiotikums. Doch beide Wirkstoffe sind keine Antibiotika der 1. Wahl nach chirurgischen Eingriffen in der Mundhöhle. Häufiger verschreiben Kollegen Amoxicillin und Clindamycin. Hier spielt die Interaktion mit Milchprodukten keine Rolle.

  • Rohmilch könnte zu einer Infektion mit Tuberkulose führen.

Diese Gefahr besteht in Deutschland nicht mehr. Die Rinderbestände sind zu 99,9 Prozent nicht befallen und gelten daher amtlich seit 1997 als tuberkulosefrei. Zudem ist aufgrund von Pasteurisierung und Ultrahocherhitzung die Gefahr einer Infektion sowieso nicht gegeben, denn die beiden Verfahren töten alle pathogenen Keime ab auch Mycobacterium tuberculosis.

  • Milchsäurebakterien könnten die Wundheilung beeinträchtigen.

Milch ist ein gutes Nährmedium für Bakterienkolonien, demzufolge auch für pathogene Bakterien. Allerdings zeigte eine In-vivo-Studie [Schutt et al., 2014], dass die bakterielle Zusammensetzung in der Mundhöhle nach Milchkonsum bei gesunden Probanden unverändert ist, so wie auch nach chirurgischen Eingriffen. Daher könnte dieses Argument nur bei schwer immunsupprimierten Patienten zählen.

  • Die Koagelbildung könnte gestört werden.

In der Milch befindet sich zwar fibrinolytisches Plasminogen, das ab einer gewissen Konzentration Blutgerinnsel auflösen kann. Allerdings ist die Konzentration im Blut (also auch im Koagel selbst ) 100- bis 1000-fach so hoch wie in Milch. Daher dürften die Konzentrationen des Enzyms in der Milch vernachlässigbar sein.

  • Die Milch könnte mit resorbierbaren Fäden reagieren.

Dieses Argument zielt einerseits auf die Dochtwirkung von polyfilem Nahtmaterial ab. Das Problem, dass Bakterien aufgrund des „Wasserziehens“ ins Nahtmaterial vordringen könnten, besteht nicht nur bei Milch und Milchprodukten, sondern auch bei vielen anderen kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln.

Andererseits findet der hydrolytische Abbau von synthetischem resorbierbarem Nahtmaterial im Alkalischen statt, und nicht im Physiologischen oder Sauren [Chu und Moncrief, 1983]. Resorbierbare Nähte haben es grundsätzlich einfach an sich, dass sie einen schnellen Verlust an Reißfestigkeit aufweisen, egal ob mit oder ohne Milchprodukte.

  • Milch und Milchprodukte könnten das Infektionsrisiko erhöhen.

Wie bereits dargelegt, konnten Schutt et al. 2014 zeigen, dass die bakterielle Zusammensetzung in der Mundhöhle nach Milchkonsum bei gesunden Probanden unverändert ist, so wie auch nach chirurgischen Eingriffen. Weitere Hinweise, dass Milchkonsum die Infektionsgefahr nach dentoalveolär-chirurgischen Eingriffen erhöht, finden sich bis dato in der Literatur nicht.

Fazit

Die Empfehlung nach Dentoalveolär-Chirurgie auf Milchprodukte zu verzichten, sollte kritisch hinterfragt werden, sie lässt sich nicht evidenzbasiert belegen, noch hält sie einer kritischen Überprüfung der Argumente dafür stand.

Dr. Kerstin Albrecht

Quelle:

S. Seyedi Moghaddam, A. Neff: Wie halten Sie es mit Milchprodukten nach dentoalveolär-chirurgischen Eingriffen: Erlaubt oder nicht? EKG-Chirurg 2020, 13:55–60 doi.org/10.1007/s12285–019–00238–1

Dr. Kerstin Albrecht

Medizin-/Dentaljournalistin

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