10 Jahre AuB-Konzept

Eine Blaupause für das ganze System

Ältere und beeinträchtigte Menschen brauchen eine intensive und auf sie abgestimmte Versorgung, auch und gerade in der Zahnmedizin. Sie halten das für eine Selbstverständlichkeit? Damals stießen Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) mit ihrem neuen „AuB-Konzept“ in der Politik und bei den Krankenkassen auf großen Widerstand. Heute, zehn Jahre später, gilt das Papier als Blaupause für das gesamte Gesundheitssystem. Gleichwohl sind noch längst nicht alle Ziele erreicht.

Mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 verpflichtete sich die Bundesrepublik, Menschen mit Pflegebedürftigkeit und Behinderungen eine ortsnahe gesundheitliche Versorgung von gleicher Qualität und gleichem Umfang zu garantieren wie für Menschen ohne Beeinträchtigungen. Für die Zahnmedizin der Anstoß, ein Konzept für eine bessere Versorgung dieser Patienten zu entwickeln. Im Juni 2010 stellten KZBV und BZÄK zusammen mit der Wissenschaft ihr Konzept „Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“ zur vertragszahnärztlichen Versorgung von Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderungen, kurz AuB-Konzept, vor. AuB steht dabei für „Alter und Behinderung“. Niederschlag im Sozialgesetzbuch (SGB) fand es aber erst Jahre später – nach viel politischer Überzeugungsarbeit seitens KZBV, BZÄK und den anderen beteiligten Verbänden.

Der Mund war damals Terra incognita

Zu dem Zeitpunkt, das muss man wissen, gab es in der GKV – aus heutiger Sicht unvorstellbar – für diese Patientengruppe weder therapeutische noch präventive zahnmedizinische Leistungen, geschweige denn entsprechende Betreuungsmodelle. Dass sie überhaupt zahnmedizinisch versorgt wurde, verdankte sie allein den vielen Zahnärzten und Zahnärztinnen, die ehrenamtlich im Heim behandelten – in der Regel unentgeltlich oder allenfalls für einen Obolus.

Dort sahen sie Prothesen, die 24 Stunden im Mund blieben, ohne je gereinigt worden zu sein, etliche entzündete Druckstellen. Auch unbehandelte Parodontopathien und Sekundärkaries waren keine Seltenheit.

Hintergrund

„Der Mund war Terra incognita“, bestätigt der KZBV Vorsitzende Dr. Wolfgang Eßer, der das Konzept zusammen mit dem Vizepräsidenten der BZÄK, Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, maßgeblich gestaltet und durchgsetzt hat. Bei der Arbeit im Heim hieß es, improvieren: Behandlungsstühle, geschweige denn eigene Räume? Fehlanzeige! Die Zahnärzte brachten sich ihre Instrumente selber mit, bastelten sich Vorrichtungen zusammen und zweckentfremdeten die vorhandene Einrichtung – Tabletts, das Bett, Tische und normale Stühle –, um wenigstens die Notfallversorgung zu gewährleisten.

Politik und Krankenkassen sahen trotzdem lange Zeit keinen Handlungsbedarf. Einige erinnern sich vielleicht an die Reaktion eines ehemaligen DAK-Chefs , der der Zahnärzteschaft unterstellte, sie habe das AuB-Konzept nur erfunden, um sich die Taschen vollzumachen.

Ein Meilenstein auf dem Weg: Paragraf 22a

Eine Dekade ist seitdem vergangen, viel wurde in dieser Zeit erreicht. Als Erstes das Umdenken, dass die zahnmedizinische Versorgung alter, kranker und schwacher Menschen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist – und nicht die eines einzelnen Berufsstands, der diese Arbeit ehrenamtlich gar nicht alleine schultern kann.

Die Pflegebedürftigen waren der Situation im Heim schließlich zumeist hilflos ausgeliefert: Hatten sie Schmerzen, konnten sie sich oftmals nicht bemerkbar machen. Sie mussten zurechtkommen – ohne eine Untersuchung der Mundgesundheit und ohne regelmäßige Zahnpflege. Mit den Paragrafen 87 2i (2012) und 2j (2014) wurde im Rahmen der aufsuchenden zahnmedizinischen Betreuung von Pflegebedürftigen dieser Missstand beseitigt. Das heißt, zuerst wurde der kurative Teil verankert.

Mit § 22a SGB V folgte der präventive Teil. Ein Meilenstein. Seit dem ersten Juli 2018 haben Menschen mit Pflegebedürftigkeit und Behinderung erstmals Anspruch auf präventive Versorgungsleistungen sowie zusätzliche zahnärztliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Der GKV-Leistungskatalog umfasst sechs Maßnahmen. Diese sehen vor,

  • dass der Mundgesundheitsstatus erhoben,

  • ein Plan zur individuellen Mund- und Prothesenpflege erstellt und

  • über die Bedeutung der Mundhygiene aufgeklärt wird sowie

  • dass Maßnahmen zur Erhaltung der Mundgesundheit durchgeführt

  • und einmal im Kalenderhalbjahr harte Zahnbeläge entfernt werden.

  • Pflege- oder Unterstützungspersonen sollen in die Aufklärung und die Erstellung des Pflegeplans einbezogen werden.

Wir müssen die Versorgungslösungen weiter ausbauen!

Dr. Wolfgang Eßer ist Vorsitzender des Vorstands der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.

Anspruchsberechtigt sind alle gesetzlich Versicherten, die einen Pflegegrad nach § 15 SGB XI besitzen oder Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII bekommen. Außerdem werden Wohneinrichtungen Pflegeheimen gleichgestellt.

Es öffnete sich eine Tür zu neuen Möglichkeiten

„Mit dem Paragrafen 22a wurde die Tür zu neuen Möglichkeiten ein Stück weit geöffnet und ein Schritt in die richtige Richtung getan. Wie mit der Prophylaxe“, verdeutlicht Dr. Imke Kaschke, die seit 2009 den Bereich Medizin und Gesundheit der Sportorganisation Special Olympics Deutschland (SOD) leitet.

Der Einsatz für Menschen im hohen Alter und mit Handicap ist aber längst nicht zu Ende. „Wir müssen das Konzept mit Blick auf die aktuellen Erkenntnisse und die vorhandenen Problemlagen weiterentwickeln, so dass auch mit therapeutischen Maßnahmen besonders Betroffene zielgenau erreicht werden können“, erläutert BZÄK-Vizepräsident Prof. Dr. Dietmar Oesterreich. Die zahnärztliche Behandlung dieser Patienten, die einen überdurchschnittlich hohen Mehraufwand – zeitlich, personell, instrumentell, apparativ – auslösen, sollte durch Honorarzuschläge gefördert werden, fordert er.

Wir wollen diesen Weg weiterverfolgen!

Prof. Dr. Dietmar Oesterreich ist Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer.

 „Hinsichtlich der Honorierung des Mehraufwands sind noch viele Forderungen offen“, bekräftigt Kaschke. „Zum Beispiel gibt es die Fluoridierung bis heute nicht.“ Zudem habe nicht jeder Patient mit Einschränkungen in seiner Umgebbung die Möglichkeit, angemessen zahnmedizinisch behandelt zu werden. Umgekehrt sei die mobile Behandlung in den Pflege- und Seniorenheimen aufgrund der fehlenden Ausstattung immer noch limitiert, das beginne schon mit der Kopflagerung. Maßnahmen zur Befundermittlung, wie Röntgenbilder, sind nach wie vor nur in der Praxis möglich. Darüber hinaus scheitert der spezielle Behandlungsraum oft am fehlenden Platz und am chronischen Zeitmangel des Personals. Die zahnmedizinische Versorgung für erwachsene Menschen mit Behinderungen ist laut Kaschke daher flächendeckend noch nicht sichergestellt.

Defizite bestehen noch in Forschung und Lehre

Während die Grundversorgung vor Ort erfolgen sollte, gehört die spezielle Behandlung von Menschen mit Behinderung und Älteren nach Kaschkes Ansicht allerdings an die Kliniken, wo Forschung und Ausbildung betrieben und eigene Daten ausgewertet werden. Interdisziplinär werde zum Thema bislang nur an der Universität Witten/Herdecke gearbeitet und geforscht. „Wissen und Know-how sind wichtig für den Behandlungserfolg. Leider gibt es keine obligaten Ausbildungsinhalte in der zahnmedizinischen Lehre in dem Zusammenhang“, bedauert sie.

Auch der Vorsitzende der AG Zahnmedizin für Menschen mit Behinderung oder besonderem medizinischem Unterstützungsbedarf, Prof. Dr. Andreas Schulte, setzt sich dafür ein, dass in den nächsten Jahren wichtige weitere Inhalte und Forderungen des AuB-Konzepts in einen Leistungsanspruch übergehen, um die Zahn- und Mundgesundheit dieser Bevölkerungsgruppen zu verbessern. „Insbesondere muss der Mehraufwand, der bei der zahnmedizinischen Therapie bei Patienten mit Behinderung entsteht, honoriert werden. Außerdem müssen die Regelungen zu zahnmedizinischen Versorgungen, die nur in Allgemeinanästhesie möglich sind, verbessert werden. Dies gilt sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Bereich.“

Der Mehraufwand muss honoriert werden

Prof. Ina Nitschke, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ), fasst den Stand mit Blick auf den Behandlungsalltag zusammen: „Wir stehen inzwischen nicht mehr am Anfang der Konzeptentwicklung, aber am Ziel sind wir auch noch lange nicht.“ Als positiv hebt sie hervor, dass die Kooperationsverträge zwischen Zahnärzten und stationären Pflegeeinrichtungen ein sehr gutes Instrument dafür sind, verlässliche Strukturen und einen Rahmen zu schaffen, um pflegebedürftige Menschen mit dem richtigen Augenmaß zu betreuen. Für angemessen hält sie die Zuschläge für den grundsätzlichen Aufwand des Besuchs bei der aufsuchenden Betreuung – der zusätzliche Aufwand für notwendige umfangreiche Behandlungen unter meist erschwerten Bedingungen sei jedoch nicht abgedeckt.

Für die Zukunft sei auch wichtig, dass Pfleger und Zahnärzte intensiver mit den notwendigen Kompetenzen vertrautgemacht werden. Die aktuellen Entwicklungen bei der Pflegeausbildung sowie dem Expertenstandard zur Erhaltung und Förderung der Mundgesundheit seien hier die wesentliche Grundvoraussetzung. Außerdem sollten Kooperationsverträge auch mit Behinderten-Einrichtungen geschlossen werden können.

Über 50 Prozent der Menschen mit Pflegebedarf zwischen 75 und 100 Jahren sind zahnlos. Bei Prothesen-Trägern wäre deshalb die Reinigung der Prothesen analog Zst-Position praktisch. Wenn schon nicht für alle Prothesenträger, dann sollten wenigstens die bisher Anspruchsberechtigten eine Unterstützung bei der professionellen Prothesenreinigung erhalten, regt Nitschke an. Da Anamnese und Aufklärungsgespräche bei Menschen mit Anspruchsberechtigung in der Regel viel aufwendiger sind, wäre zudem eine zusätzliche Leistungsposition im Sinne der PKV-GOÄ-Nr. 4 wünschenswert, betont die DGAZ-Präsidentin.

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