Interview mit Prof. Dr. A. Rainer Jordan zur DMS 6

„Wir untersuchen ingesamt 670 Kinder“

Prof. Dr. A. Rainer Jordan ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ). Im Rahmen der DMS 6 will er herausfinden, wie verbreitet Zahn- und Kieferfehlstellungen in Deutschland sind und welche Risikofaktoren dazu führen.

Warum liegt der Fokus auf den Zahn- und Kieferfehlstellungen bei acht- und neunjährigen Kindern?

Prof. A. Rainer Jordan: In den vergangenen Jahren gab es verschiedene Forderungen, die Evidenzlage in der Kieferorthopädie zu verbessern. So forderte der Bundesrechnungshof im Jahr 2017, die Versorgungsforschung in der Kieferorthopädie anzustoßen. Als gemeinsames Forschungsinstitut der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) waren wir zu diesem Zeitpunkt bereits in der Vorbereitung der Sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS 6) und haben uns darauf verständigt, eine Datengrundlage zu schaffen, um darzustellen, wie verbreitet Zahn- und Kieferfehlstellungen in der Bevölkerung sind. Aktuelle bundesweite Daten fehlen. Wir haben nur verlässliche Zahlen aus der ersten Mundgesundheitsstudie von 1989 für die alten Bundesländer. In den neuen Bundesländern gab es 1992 noch eine Ergänzungsstudie, aber hierbei wurden die Zahn- und Kieferfehlstellungen nicht berücksichtigt. Seitdem hat sich auch die Bevölkerungszusammensetzung in Deutschland wegen Migrationswellen nach dem Mauerfall und den Flüchtlingsströmen vor ein paar Jahren verändert.

Welche Ziele verfolgen Sie mit der aktuellen Studie und welche Ergebnisse erwarten Sie?

Grundsätzlich wollen wir feststellen, wie weit verbreitet Zahn- und Kieferfehlstellungen in der Bevölkerung sind. Einerseits arbeiten wir mit internationalen Indizes, die die unterschiedlichen kieferorthopädischen Erkrankungen klassifizieren. Damit sind für uns als Wissenschaftler internationale Vergleiche möglich.

Für viele Patienten in Deutschland gelten jedoch zur Feststellung einer Behandlungsindikation die sogenannten Kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG), um zu unterscheiden, welche Erkrankungsschwere von der GKV übernommen wird. Mit dem KIG-System können wir zusätzlich nach den Spezifika des deutschen Gesundheitssystems – insbesondere der GKV – schauen, wie hoch der Versorgungsbedarf ist. Anhand der Abrechnungsdaten können wir sehen, wie viele Kinder in Deutschland so behandelt werden.

Start der DMS 6

Die DMS-Studienreihe „Deutschland auf den Zahn gefühlt“ wird in diesem Jahr fortgesetzt. Von Januar bis März sind Zahnärzte bundesweit unterwegs, um Zahn- und Kieferfehlstellungen bei acht- und neunjährigen Kindern zu untersuchen.

An 16 verschiedenen Orten (pro Bundesland einer) in ganz Deutschland werden insgesamt 670 Kinder untersucht. Besonders im Fokus der DMS 6 steht die Kieferorthopädie, denn seit 31 Jahren sind die Zahn- und Kieferfehlstellungen nicht mehr ermittelt worden. Die Ergebnisse dienen als Grundlage für wichtige Entscheidungen im Gesundheitswesen.

Die Kinder werden zufällig ausgewählt, ihre Teilnahme ist freiwillig. Für die Kontaktaufnahme stellen die jeweiligen Einwohnermeldeämter die Adressdaten zur Verfügung, da es sich um eine Studie im „öffentlichen Interesse“ handelt. Von Januar bis März 2021 werden die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern zu einem Besuch in einem Untersuchungszentrum in der Nähe ihres Wohnorts eingeladen.

 

 

Im Vorfeld erhalten die Eltern einen Papierfragebogen zu vergangenen Zahnarztbesuchen und zum Gesundheitszustand ihres Kindes, den sie ausgefüllt zu ihrem Termin mitbringen sollen. Im Untersuchungszentrum werden die Eltern zu Zahnschmerzen und zur Behandlung von Zahnfehlstellungen ihrer Kinder befragt. Im Anschluss findet eine zahnärztliche Untersuchung statt, die einer ausführlichen Kontrolluntersuchung ähnelt. Dabei werden die Zähne des Kindes gezählt und es wird eine Scan-Aufnahme (kein Röntgen) der Zahnreihe gemacht.

Rückblick auf die DMS-Studien

Seit 1989 erforscht das Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) die Mundgesundheit der Bevölkerung. Es geht darum, neue Erkenntnisse und Antworten auf Fragen zu finden: Wie ist es um die Mund-gesundheit der Deutschen bestellt? Wie sieht es bei der Entwicklung von Karies und Parodontalerkrankungen aus? Welche Erfolge konnten bisherige Therapiekonzepte erzielen? Inwiefern haben soziale Umstände Einfluss auf die Mundgesundheit?

Bei der DMS V, von Oktober 2013 bis Juni 2014, wurde erstmals auch die Mundgesundheit von alten und pflegebedürftigen Patienten untersucht. Neben Karies, Parodontitis, Pflegebedürftigkeit, Alter und sozialen Einflussfaktoren erfasste die Studie damit sämtliche Altersgruppen und sozialen Schichten. Deutschlandweit wurden mehr als 4.600 Menschen an 90 Standorten in Deutschland aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen in einer repräsentativen Erhebung befragt und zahnmedizinisch-klinisch untersucht.Im Ergebnis ließ sich vor sieben Jahren ein deutlich positiver Trend sowohl im Hinblick auf die Karies- als auch auf die Parodontitiserfahrung erkennen. Ferner zeigte die Studie, dass pflegebedürftige ältere Menschen generell eine höhere Karieserfahrung und weniger eigene Zähne haben.

Im Vergleich der epidemiologischen Daten mit den Abrechnungsdaten wird sich zeigen, wie gut die Daten übereinstimmen oder nicht. Danach kann man mit der Ursachenforschung beginnen: Woran liegt es, dass einige Kinder es nicht schaffen, sich kieferorthopädisch behandeln zu lassen? Sind dafür soziale Hintergründe verantwortlich? Auch wollen wir schauen, ob es Zusammenhänge mit Karieserkrankungen gibt. Welche Risikofaktoren könnten zu den Zahn- und Kieferfehlstellungen geführt haben? Wenn zum Beispiel Milchmolaren aufgrund von Karies gezogen werden müssen, dann ist das Risiko groß, dass für die nachfolgenden bleibenden Zähne nicht ausreichend Platz vorhanden ist. Würde man die Karies verhindern, könnte man wahrscheinlich auch einen Teil der Zahn- und Kieferfehlstellungen verhindern. Leider muss man ja feststellen, dass sich die Erfolge der Kariesprävention, die wir seit Jahren im bleibenden Gebiss sehen, noch nicht in gleichem Ausmaß im Milchgebiss darstellen. Insofern ist die Frage von großer klinischer Relevanz.

Werden die Ergebnisse zu den Zahn- und Kieferfehlstellungen der Acht- und Neunjährigen einzeln veröffentlicht?

Die Hauptpublikation zur DMS 6 wird voraussichtlich 2025 erscheinen, wenn die Untersuchungen in allen Altersgruppen abgeschlossen sind. Aktuell untersuchen wir nur die acht- und neunjährigen Kinder. Für dieses erste Modul sind wir zurzeit für jedes Bundesland stellvertretend in einer Stadt oder Gemeinde, also an insgesamt 16 Untersuchungsstandorten, unterwegs und untersuchen insgesamt 670 Kinder. Diese Anzahl ist notwendig, um statisch valide Zahlen zu erhalten. Wir rechnen damit, gegen Ende März mit der Felduntersuchung fertig zu sein.

Solange es keine weiteren Verschärfungen in Hinblick auf die Corona-Pandemie gibt, werden wir im zweiten Quartal die statistische Auswertung machen. Im dritten Quartal 2021 ist geplant, den Forschungsbericht schreiben. Gegen Ende des Jahres wird der Bericht dem BMG überstellt. Nächstes Jahr beginnen wir mit der Untersuchung aller anderen Altersgruppen. Das wird wahrscheinlich ein Jahr lang dauern, da viel mehr Personen untersucht werden. Alles zusammen bildet dann die DMS 6. Der kieferorthopädische Teil wird in der Hauptpublikation 2025 mit aufgenommen werden. Inwiefern wir auch schon früher über einzelne Ergebnisse berichten, kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.

Wie ist die Beteiligung an der Studie bislang? Schreckt die Corona-Pandemie mögliche Teilnehmer ab?

Bisher waren wir in Hamburg, Berlin, Reutlingen und Bremen. Hier war die Resonanz gut. Wir haben fast so viele Probanden untersucht, wie wir für jeden Standort geplant haben. Pro Standort sind das 43 Kinder. Die Stichprobenziehung erfolgt über die Einwohnermeldeämter. Wegen Corona haben wir dieses Mal eine sogenannte dreifache Übersetzung gewählt, das heißt, für jeden, den wir untersuchen wollen, werden drei Probanden eingeladen. Allerdings gab es wegen der aktuellen Corona-Situation bei einigen Teilnehmern wegen der Anfahrt zum Untersuchungsstandort Bedenken. In Berlin sind viele auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Daher haben wir diesen Probanden angeboten, Hausbesuche zu machen und daheim die Untersuchung durchgeführt.

Es ist aber schon ein sehr besonderes Ereignis, zu dieser Zeit eine derart groß angelegte Studie durchzuführen. Sie schöpft alle unsere Kapazitäten mehr als aus und unser Feldinstitut Kantar GmbH reißt sich förmlich Arme und Beine aus, damit wir das alle gemeinsam schaffen.

Können Sie uns den Ablauf der Untersuchung schildern?

Die Untersuchung besteht aus einem sozialwissenschaftlichen Befragungsteil und einem kieferorthopädischen Untersuchungsteil. Im Vorfeld wurde den Familien zusammen mit dem Einladungsschreiben ein Fragebogen zugesandt, den sie zu Hause ausfüllen und zur Untersuchung mitbringen sollen. Hier wird nach Angaben gefragt, die man nicht spontan beantworten kann, zum Beispiel, wie hoch der Fluorid-Anteil in der verwendeten Zahnpasta ist. Im Untersuchungszentrum wird dann mit den Eltern und Kindern noch ein persönliches Interview durchgeführt.

Für den Untersuchungsteil putzen sich die Kinder an einer von uns aufgebauten Mund-Hygiene-Station ihre Zähne. Danach fängt die dreiteilige zahnärztliche Untersuchung an: Zuerst machen wir einen intraoralen Scan von den Zähnen. Eine intraorale Kamera macht etwa 1.500 Fotos pro Kiefer. Anschließend setzt ein Algorithmus die Aufnahmen dreidimensional zu einem virtuellen Modell zusammen. Diesen Vorgang können die Teilnehmer live auf dem Monitor mitverfolgen. Das Modell lässt sich drehen und von allen Seiten aus betrachten. Mithilfe der Kiefermodelle werden später am Computer die Zahn- und Kieferfehlstellungen ausgemessen. Nach dem Scan findet quasi eine normale zahnärztliche Untersuchung statt. Außerdem messen wir die Zahnbeläge und das Zahnfleischbluten, um zu schauen, wie viel Restzahnbelag nach dem bestmöglichen Zähneputzen übrig ist.

Abschließend erfolgt eine klinische-kieferorthopädische Befundung. Hier gilt es Besonderheiten herauszufinden, die man im Scan nicht sehen kann, zum Beispiel eine Sprachstörung oder das Schluckmuster. Die Untersuchung vor Ort dauert insgesamt 45 bis 60 Minuten.

Wie lange haben Sie und Ihr Team die Studie vorbereitet? Was war an der Umsetzung besonders herausfordernd?

Mit den Vorbereitungen haben wir 2018 begonnen, wobei das letzte halbe Jahr 2020 besonders intensiv war. Während dieses Zeitraums fand die Schulung der Studienzahnärzte statt. Hierbei ging es darum, den teilnehmenden Ärzten, die konkreten Arbeitsanweisungen zu vermitteln. Denn jede Untersuchung muss nach den Vorgaben erfolgen, die wir mit unseren Experten, Prof. Dr. K. Bekes aus Wien und PD Dr. Dr. C. Kirschneck aus Regensburg, entwickelt haben. Bevor die Studienzahnärzte für eine Felduntersuchung eingesetzt werden, muss überprüft werden, ob ihre Untersuchungsqualität ausreichend ist.

Was ist Ihrer Meinung das Besondere an der DMS 6?

Zum ersten Mal beteiligt sich eine wissenschaftliche Fachgesellschaft an der Finanzierung der Deutschen Mundgesundheitsstudie. Das kieferorthopädische Modul wurde von der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) in Auftrag gegeben und maßgeblich finanziert. Wir arbeiten bei dieser Studie zum ersten Mal so eng mit einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft zusammen – und ich bin sehr stolz auf den exzellenten fachlichen Austausch mit den kieferorthopädischen Kollegen.

Drei Fragen an Dr. Detlef J. Weimar, Studienzahnarzt bei der DMS 6

Dr. Detlef Weimar hat bereits die DMS V (2013/2014) als Studienzahnarzt begleitet. Als er von dem Feldinstitut Kantar angesprochen wurde, ob er dieses Mal beim Modul für Kieferorthopädie an der DMS 6 teilnehmen möchte, hat er nicht lange gezögert. Nachdem die Untersuchungen in der letzten Januarwoche in Bremen stattfanden, ging es Anfang Februar weiter in Großhansdorf, nordöstlich von Hamburg. Bevor der 77-Jährige 2006 in den Ruhestand gegangen ist, hatte er in Erbach im Odenwald eine eigene Zahnarztpraxis.

1. Welche Erfahrungen haben Sie bei der Durchführung der Untersuchung gesammelt?

Meine Erfahrungen sind durchweg positiv. Alle acht- und neunjährigen Kinder machen sehr gut mit. Vor allem die Jungs sind sehr technikaffin und interessieren sich für den Scan. Man muss sie zwar daran erinnern, nicht ihren Kopf ständig zum Bild zu drehen, aber wenn man sie darauf hinweist, funktioniert es gut.

Wegen Corona gab es Bedenken, aber viel weniger, als wir vorher dachten. Alle Vorsichtsmaßnahmen wurden in den Anschreiben von Kantar und Infratrend an die Familien detailliert beschrieben. Es gab auch ein paar Absagen wegen Corona, aber der Hauptgrund, nicht an der Studie teilzunehmen, ist eher Desinteresse – wie bei vielen Umfragen.

Dr. Weimer

 

2. Wie viele Studienzahnärzte führen die Untersuchungen durch?

Zwei Studienzahnärzte sind zuständig für die Untersuchungen beim Modul für Kieferorthopädie. Wir haben uns die Standorte und die Anzahl an Probanden aufgeteilt. Jeder untersucht 335 Kinder an acht verschiedenen Standorten. Ich bin im Norden Deutschlands unterwegs.

Dr. Detlef Weimar untersucht einen Neunjährigen auf mögliche Zahn- und Kieferfehlstellungen. | Dr. Weimar

 

3. Im Vergleich zur DMS V, was war Ihrer Meinung nach das Besondere dieses Mal?

Bei diesem Modul haben wir es mit Kindern zu tun. Sie sind zuerst etwas skeptisch. Aber aus der persönlichen Erfahrung mit sechs Enkelkindern und drei eigenen Kindern weiß man, wie man mit Kindern spricht, damit sie kooperativer werden. Vor allem den Scan verfolgen die meisten mit großem Interesse und stellen mir Fragen. Dadurch wird die ganze Untersuchung für sie spannend. Manche lassen auch alles über sich ergehen, ohne nachzufragen.

Das Gespräch führte Anja Kegel am 29. Januar 2021.

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