Interview mit dem Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schlicht

„Zoonosen brechen nicht schicksalhaft über uns herein!“

Sollten wir unsere Lebensgewohnheiten nicht ernsthaft ändern, sind wir von der nächsten Pandemie nicht weit entfernt, mahnt der Stuttgarter Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schlicht. Sein Plädoyer: Die Umkehr unserer Lebensweise hin zu mehr Klima- und Umweltschutz. Die Politik sieht er dabei in der Verantwortung, Ärzte und Zahnärzte als Fürsprecher ihrer Patienten.

Lockdown, Kontaktbeschränkungen und massive Einschränkungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben einerseits, Impfungen, Testungen und partielle Lockerungen andererseits – sind das aus Ihrer Sicht die richtigen Strategien, um die Pandemie wirksam zu bekämpfen? 

Prof. Dr. Wolfgang Schlicht: In der derzeitigen Lage, mit Virusmutanten, die gegenüber dem Wildtyp deutlich ansteckender – einige Studien sagen bis zu 60 Prozent – und auch tödlicher sind, gibt es keinen anderen Weg, um die Pandemie zu beherrschen. Allerdings müssten die politisch Verantwortlichen, statt halbherzige, endlich konsistente und konsequente Maßnahmen verordnen. Noch immer fehlt es beispielsweise an einem regelmäßigen Testen in Schulen und in Betrieben, in denen kein Homeoffice möglich ist, noch immer sind Schulbusse zum Bersten überfüllt und noch immer haben wir keine App, die zur Kontaktnachverfolgung taugt. Impfen sollten auch schnellstens die Hausarztpraxen. 

Welche pandemischen Konzepte sind denn sinnvoll, um Deutschland aus der Corona-Krise zu führen? 

Klassische Konzepte und Maßnahmen wie soziale Distanzierung, Mobilitätseinschränkungen und Testen sind in der aktuellen Krise uneingeschränkt sinnvoll. Dazu kommt die Immunisierung mit den vorhandenen Vakzinen und demnächst hoffentlich weiteren Impfstoffen. Was fehlt, ist eine finanzielle Anstrengung zur Medikamentenentwicklung. Das Virus bleibt, Menschen werden sich anstecken und erkranken, manche davon schwer. Da wäre es hilfreich und beruhigend, die Medizin hätte eine wirkungsvolle medikamentöse, anti-virale Therapie zur Hand. Was mir außerdem Sorgen bereitet, ist das Fehlen von Impfstoffen für Kinder. 

Die Krux ist doch die, dass wir – sollte die Corona-Krise einmal ausgestanden sein – nicht sicher sein können, dass nicht bald wieder neue Pandemien ausbrechen. Wie kann man eine Gesellschaft für solche künftigen Krisen wappnen?

Es stimmt, wir sind von der nächsten Pandemie nicht weit weg. Von den geschätzten 1,7 Millionen Viren, die in Säugetieren und Vögeln auf ihre Entdeckung warten, sind vermutlich 540.000 bis 850.000 in der Lage, Menschen zu infizieren, schreibt etwa die „Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services“. [Anm. d. Red.: Das ist eine in Bonn ansässige UN-Organisation mit 136 Mitgliedstaaten zur wissenschaftlichen Politikberatung. Ziel ist die nachhaltige Erhaltung und Nutzung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme.] In jedem Jahr treten etwa fünf neue Erkrankungen auf, die das Zeug zur Pandemie haben. Man sollte sich vor Augen halten, dass Zoonosen keine reinen, über die Gesellschaft schicksalhaft hereinbrechenden Naturgewalten sind, sondern durch natur-zerstörende Lebensweisen mitbedingt werden. Sie werden sich – gibt es keine Umkehr in den Lebensweisen – zukünftig wahrscheinlich wiederholen. 

Prof. Dr. Wolfgang Schlicht

war langjähriger Lehrstuhlinhaber für Sport- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Stuttgart und ist Experte für Fragen der Prävention und Gesundheitsförderung. Seit seiner Emeritierung leitet er das Beratungsunternehmen „Evident-Research“.

Wir müssen uns also mit einer Umkehr in den Lebensweisen wappnen. Weit vorne stehen der Klimaschutz, der Stopp der Zersiedelung der Landschaft, der Umbau der industriellen Landwirtschaft, vor allem auch der Massentierhaltung, in eine ökologische Bewirtschaftung und eine Wirtschaftsweise, die die Natur erhält, statt sie zu zerstören.

Wie hängt das mit der Allgemeingesundheit der Bevölkerung zusammen? 

Der Klimawandel ist bereits heute ein spürbares Beispiel, was daraus für die Bevölkerungsgesundheit erwächst. In den vergangenen zehn Jahren wurde ein Hitzesommer durch den nächsten abgelöst. Die Hitzewelle 2003 gilt als größte Naturkatastrophe seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie kostete mehr als 50.000 Menschen in Europa das Leben. Seitdem verzeichnen wir von Sommer zu Sommer neue Hitzerekorde und eine deutliche Übersterblichkeit vor allem der älteren Bevölkerung. 

Ein anderes Beispiel sind Feinstäube, die vor allem Menschen in Städten bedrohen. Aktuelle Zahlen in der renommierten Zeitschrift Science Advances belegen, dass etwa in den USA jährlich 140.000 Menschen vorzeitig versterben, weil es nicht gelingt, die Feinstaubwerte auf die Höhe der WHO-Vorgaben zu begrenzen. Und das ist nur die „Spitze des Eisbergs“. Noch ein Beispiel aus Deutschland: Im Deutschen Ärzteblatt fassten 2019 Beate Ritz und Kolleginnen zusammen, dass Feinstaub mit einer Partikelgröße von > 10 μg bereits unterhalb des Grenzwerts von < 2,5 μg/m3 das relative Risiko von Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Demenz und Apoplex statistisch bedeutsam erhöht. 

Welche Möglichkeiten gibt es, die Verbreitung von Viren auszubremsen? 

Die Antwort liegt nahe: Wir brauchen Konzepte, die unsere Lebens- und Wirtschaftsweise zur Nachhaltigkeit transformieren. Zwischen Umwelt und Wirtschaft gibt es keinen unausweichlichen Konflikt. Die derzeitige Art zu wirtschaften, zum Beispiel in der agrar-subventionierten industriellen Landwirtschaft, zerstört unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Sie gefährdet massiv den Wohlstand der kommenden Generationen und wirkt bereits jetzt schädlich auf die Bevölkerungsgesundheit. Wälder werden gerodet, Meere überfischt und mit Unmengen von Plastik verschmutzt, Ackerböden gehen verloren und die Biodiversität geht zurück.

Die Folgekosten für das Jahr 2050 beziffern seriöse Institute auf rund ein Viertel des weltweiten Bruttosozialprodukts. Wir gewinnen alle, wenn uns – jenseits von parteipolitischem Gezänk – die Transformation zu einer „Green Economy“ gelingt, in der ökologisch gedacht und gearbeitet wird, und in der die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten werden.

Welche Rolle spielen dabei die politische Verantwortung und die Verantwortung der Daseinsvorsorge?

Die Daseinsvorsorge ist unter anderem im Artikel 20 Grundgesetz („Sozialstaatspostulat“) als Aufgabe der Kommunen geregelt. Das Bundesverfassungsgericht hat in den 1980er-Jahren dazu ausgeführt, dass Daseinsvorsorge Leistungen bedeutet, „derer der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf“. Das ist das Mindeste.

Durch die Unmittelbarkeit, mit der kommunal-politische und administrative Entscheidungen die Bürgerinnen und Bürger treffen, haben Kommunen eine herausgehobene Verantwortung für die Gesundheitsförderung, nicht nur für die Sicherstellung der Versorgung (im Verbund mit Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen) und der Pflege. Kommunale Gesundheitsförderung vor dem Hintergrund dieser großen gesellschaftlichen Herausforderungen – den Klimawandel habe ich schon genannt – sollte sich an den UN-Nachhaltigkeitszielen, vor allem an den Zielen Nr. 3 „Gesundheit und Wohlbefinden“ und Nr. 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ ausrichten. Da ist in Deutschland deutlich Luft nach oben. 

Was bedeutet das für die gesundheitliche Lebensqualität – auch im Hinblick auf die Pandemie?

Wenn wir nur einmal die OECD-Daten zur „ferneren Lebenserwartung“ und die „Anzahl der in Gesundheit verbrachten Lebensjahre“ in unserem Land betrachten, sehen wir, dass 65-Jährige die Chance auf etwa 19 weitere Lebensjahre haben. Aber, nur knapp die Hälfte davon verbringen die älteren Menschen „in Gesundheit“. Bereits mehr als 40 Prozent der Erwachsenen im mittleren Lebensalter leiden in Deutschland an mehr als einer Erkrankung – allen vorweg Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Adipositas – und auch zunehmend an psychischen Störungen. 

Mehr Umwelt- und Individual-Resilienz macht uns im Übrigen auch weniger anfällig für virale Erkrankungen wie COVID-19. Die Gesundheitswissenschaften verwenden hier den Begriff der Syndemie, wenn Erkrankungen mit sozialen und Umweltvariablen korreliert sind. Resilienz muss man schaffen, die kommt nicht von selbst und ist auch nicht einseitig eine selbstverantwortete Aufgabe von Personen.

Welche Rolle spielen dabei Ärzte und Zahnärzte? 

Ärzte und Zahnärzte sind einflussreiche Vertrauenspersonen, die – so nennt man das in der Politikwissenschaft – als „Advocacy-Agenten“, als Fürsprecher ihrer Patienten und Patientinnen, agieren könnten. In den Kommunen steht die Gesundheitsförderung, wie ich sie eben mit Bezug zu den Nachhaltigkeitszielen angedeutet habe, nicht als Politikfeld ganz oben auf der Agenda, mit der sich die Gremien und die Verwaltung befassen. Ärzte und Zahnärzte könnten mit ihrem Einfluss auf die Bevölkerung und auf die politisch verantwortlichen Akteurinnen und Akteure dafür sorgen, dass die Gesundheitsförderung ein zentraler Baustein der kommunalen Daseinsvorsorge wird. 

Welche Verantwortung hat der Einzelne, was kann er tun?

Man kann es sich leicht machen und vortragen, dass es in der Verantwortung des Einzelnen steht, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern: sich ausgewogen ernähren, den Fleischkonsum reduzieren, nicht rauchen, Alkohol nur in Maßen trinken und sich mehr bewegen. 

Nur, gesundes Verhalten ist nicht allein Sache des Einzelnen. Gesellschaft und Umwelt regulieren das Verhalten in ganz entscheidendem Maß. Das kann man am Beispiel älterer Menschen sehen, für die Alltagsbewegung sehr entscheidend ist, um gesund zu bleiben. Sind Alltagsziele (Geschäfte, Arzt- und Zahnarztpraxen, Apotheken) weit von der eigenen Wohnung entfernt? Sind Straßen, Plätze und Gehsteige schlecht beleuchtet und im Sommer nicht beschattet? Erwecken die Straßen und Plätze den Eindruck, sich dort nicht sicher bewegen zu können? Führen Wege an verwahrlosten, vermüllten Flächen und Gebäuden vorbei und münden in Sackgassen? Dann werden sie von älteren Menschen gemieden. Statt zu Fuß oder mit dem Rad suchen sie Ziele mit dem Auto, mit dem Taxi oder dem Bus auf, oder sie bleiben – vor allem Hochbetagte – in ihren vier Wänden. Sie ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Dann drohen soziale Isolation und Gebrechlichkeit– mit gravierenden Folgen für die Gesundheit. Das ist in vielen Studien untersucht und evident. 

Das Gespräch führte Gabriele Prchala.

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