Kindeswohlgefährdung

Die Fachexpertise liegt bei den Zahnärzten

Künftig dürfen nach dem neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz auch Zahnärzte das Jugendamt einschalten, wenn ihnen Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen vorliegen. In welchen Fällen ist das möglich? Und was müssen Zahnärzte beachten? Wichtig zu wissen: Der gesetzliche Auftrag zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung liegt beim Jugendamt.

Das Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) durchläuft momentan das Gesetzgebungsverfahren und steht kurz vor der Verkündung und dem Inkrafttreten. Es soll das Kindes- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) reformieren. In einigen Punkten stellt es eine Erweiterung des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) dar, das bereits seit Anfang 2012 in Kraft ist. Ein zentraler Teil des BKiSchG ist das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Mit Artikel 2 des neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz sollen künftig im KKG bei der Auflistung der Berufsgeheimnisträger explizit auch Zahnärztinnen und Zahnärzte aufgeführt werden.

Es ist gut, dass Zahnmediziner an dieser Stelle genannt werden, da sie eine wichtige Aufgabe haben, wenn es darum geht, Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdung zu erkennen, insbesondere bei der besonders häufigen Vernachlässigung, aber auch bei körperlicher Misshandlung. Für den oralen und perioralen Bereich liegt die Fachexpertise ohne Zweifel bei unserer Berufsgruppe.

Allerdings stellt die Ergänzung im KKG nicht wirklich eine Neuerung beim empfohlenen Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung dar. Bereits 2019 wurden in der S3+ Kinderschutz-Leitlinie (AWMF Registernummer 027–069) mehrere Handlungsempfehlungen zum Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung formuliert. Schon hier wurden Zahnärztinnen und Zahnärzte bei den Berufsgeheimnisträgern inkludiert.

In diesen Handlungsempfehlungen wurde das mehrstufige Vorgehen nach § 4 KKG zugrunde gelegt: 

  • Stufe 1: Erörterung des Befunds mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten und, soweit erforderlich, Hinwirken auf die Inanspruchnahme von öffentlichen Hilfen

  • Stufe 2: Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Beratung des Berufsgeheimnisträgers durch eine insoweit erfahrene Fachkraft unter Weitergabe von pseudonymisierten Personendaten

  • Stufe 3: Ist ein Vorgehen nach Stufe 1 erfolglos, um die Kindeswohlgefährdung abzuwenden, ist der Berufsgeheimnisträger befugt, das Jugendamt zu informieren.

Doch schon vor dem Inkrafttreten des BKiSchG hatten Zahnärztinnen und Zahnärzte unter Berufung auf das Vorliegen eines rechtfertigen Notstands (§ 34 StGB) die Möglichkeit, sich bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine schwerwiegende Kindeswohlgefährdung an staatliche Stellen zu wenden und dadurch die Schweigepflicht zu brechen.

Neu ist: Das Jugendamt muss rückmelden

Als wichtige Neuerung durch das Kinder- und Jugendschutzgesetz soll in § 4 KKG nun eine Rückmeldung durch das Jugendamt an die Berufsgeheimnisträger eingeführt werden. Dabei soll das Jugendamt mitteilen, ob es die gewichtigen Anhaltspunkte für die Kindeswohlgefährdung bestätigt sieht und ob es zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen tätig geworden ist und noch tätig ist. Dieses Wissen um den weiteren Fortgang des Verfahrens, das bislang nicht gesetzlich geregelt war, ist für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Berufsgeheimnisträgern sicherlich wichtig und sehr zu begrüßen.

Bedauerlich ist: die KZVen sind nicht mit im Boot

Durch Artikel 3 des Kinder- und Jugendschutzgesetz  sollen auch Änderungen im SGB V erfolgen. Demnach sollen KVen mit den kommunalen Spitzenverbänden auf Landesebene eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit von Vertragsärzten mit Jugendämtern schließen, um die Versorgung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern, bei denen im Rahmen von Früherkennungsuntersuchungen oder von Behandlungen Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdung festgestellt wurden (§ 73c SGB V). 

Ich hätte mir gewünscht, dass diese Regelung auch Vertragszahnärzte und KZVen eingeschlossen hätte. Leider wurden diese beiden Parteien im Gesetzesentwurf explizit ausgeschlossen.

Ein Indikator: kariöse unversorgte Läsionen 

Seit dem 1. Juli 1999 sind zahnärztliche Kinder-Früherkennungsuntersuchungen ab dem 30. Lebensmonat bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres eingeführt. 20 Jahre später wurden diese auf gesetzlich versicherte Kleinkinder vom 6. bis zum vollendeten 33. Lebensmonat ausgedehnt. Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass Kinder im Vorschulalter besonders vulnerabel gegenüber Vernachlässigung und Misshandlung sind. Ebenfalls gilt als belegt, dass unversorgte kariöse Läsionen ein Indikator für Vernachlässigung sein können. Dementsprechend wurde dieses Kennzeichen für Vernachlässigung in der Kinderschutz-Leitlinie besonders berücksichtigt. 

Es wäre begrüßenswert gewesen, wenn im Kinderschutz engagierten Vertragszahnärztinnen und Vertragszahnärzte die gleiche Zusammenarbeit mit Jugendämtern wie Vertragsärzten ermöglicht worden wäre.

Mögliches Bindeglied: die Gruppenprophylaxe

Im Gesetzentwurf des neuen Kinder- und Jugendschutzgesetzes  heißt es: „Ein wirksamer Kinderschutz erfordert auch eine starke Verantwortungsgemeinschaft der hierfür relevanten Akteure. Dazu bedarf es eines engeren Zusammenwirkens dieser Akteure, insbesondere zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und Ärztinnen bzw. Ärzten sowie Angehörigen anderer Heilberufe.“ Vielleicht könnten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der zahnmedizinischen Gruppenprophylaxe diese wichtige Aufgabe in der Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Angehörigen der Heilberufe wahrnehmen?

Durch ihre Tätigkeit sehen sie einen Großteil der Kinder, häufig bereits ab dem Kindergartenalter. Sie sind vertraut mit den behördlichen Strukturen. Auf diesem Weg könnte das Ziel einer Gesamtrehabilitation von Kindern mit gesicherter Kindeswohlgefährdung oder bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung von zahnärztlicher Seite kompetent verfolgt werden. Der Mundgesundheitszustand könnte ermittelt und bei Bedarf eine Behandlung eingeleitet werden.

Was das zahnärztliche Team beachten muss

Zahnärztinnen und Zahnärzte sollten bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung nach den Vorgaben von § 4 KKG vorgehen. Sie sollten die medizinische, familiäre und soziale Anamnese sorgfältig erheben. Bei Verdacht auf Vernachlässigung können folgende Fragen hilfreich sein: 

  • Wann haben die Eltern erste Veränderungen an den Zähnen bemerkt?

  • Was wurde in der Folge unternommen? 

Bei Verdacht auf Misshandlung sollte darauf geachtet werden, ob es eine plausible Erklärung für die Verletzungen gibt: 

  • Gibt es unterschiedliche Erklärungen durch verschiedene Personen?

  • Besteht eine Diskrepanz der geschilderten Verletzungen zum Entwicklungsstand des Kindes? 

Andere Ursachen (Unfälle oder Erkrankungen), die eine Misshandlung imitieren könnten, sollten differenzialdiagnostisch abgeklärt werden. 

Sinnvoll: interdisziplinär Vorgehen

Unter Umständen ist ein interdisziplinäres, multiprofessionelles Vorgehen sinnvoll, indem ein Kinder- und Jugendarzt oder eine pädiatrische oder unfallchirurgische Fachabteilung in einem Krankenhaus mit Einverständnis des Patienten und der Erziehungsberechtigten einbezogen werden. 

Die Befunde, Sorgen und die Situation sollten mit dem Kind oder Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten erörtert werden. Vorwürfe oder Schuldzuweisungen sollten im Gespräch unbedingt vermieden werden. Ressourcen und Belastungen der Familie sollten eruiert und eine Gefährdungseinschätzung vorgenommen werden. Weiterhin sollten angemessene Therapien angeboten und Zielvorgaben mitgeteilt werden. Soweit erforderlich sollte auf die Inanspruchnahme von Hilfen hingewirkt werden.

Wichtig ist eine sorgfältige Dokumentation der Befunde, des Gesprächs (gegebenenfalls mit wörtlichen Aussagen des Kindes, Jugendlichen oder Erziehungsberechtigten) und – falls möglich – mit Fotos. Werden Termine nicht wahrgenommen, sollte man die Gründe für das Versäumen oder die Absage erfragen, diese dokumentieren und weitere Termine anbieten.

Bei Bedarf kann eine Beratung der Zahnärztin oder des Zahnarztes durch eine insoweit erfahrene Fachkraft bei der regionalen Jugendhilfe oder der Medizinischen Kinderschutzhotline (Tel.: 0800 19 210 00) in Anspruch genommen werden. Hierfür sind die Daten des Patienten zu pseudonymisieren. Kann die Situation für das Kind oder den Jugendlichen nicht verbessert werden, können dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitgeteilt werden. Die Erziehungsberechtigten sind vorab darauf hinzuweisen.

Hilfreich: Kontakt zu Kinderschutz-Netzwerken

Es ist sinnvoll, dass am Kinderschutz interessierte Zahnärztinnen und Zahnärzte Kontakt zu regionalen Kinderschutz-Netzwerken aufnehmen, um Strukturen abzusprechen (§ 3 KKG). Dieses erleichtert eine erfolgreiche Kommunikation und Kooperation bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. 

Abschließend muss unterstrichen werden, dass das zahnärztliche Behandlungsteam nicht dafür verantwortlich ist, eine Diagnose „Kindesmisshandlung” oder „Kindesvernachlässigung” zu stellen. Der gesetzliche Auftrag zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung liegt beim Jugendamt. Das zahnärztliche Behandlungsteam sollte jedoch die Bedenken in angemessener Weise mit den entsprechenden Stellen teilen, damit gemeinsam Wege gefunden werden, um die Situation für das Kind oder den Jugendlichen zu verbessern. 

Dr. Reinhard Schilke

Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde, Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

Dr. Reinhard Schilke war maßgeblich an der Erstellung des zahnmedizinischen Teils der AWMF-Kinderschutzleitlinie beteiligt, die 2019 veröffentlicht wurde. Alle Dokumente zur Leitlinie:https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027–069.html. Einen Bericht zur Leitlinie finden Sie in den zm 8/2019.

Dr. Reinhard Schilke

Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde, 
Medizinische Hochschule Hannover (MHH)

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