60 Jahre Kinderzahnheilkunde in Greifswald

Von der Kegelbahn ins internationale Rampenlicht

Julian Schmoeckel
Die Anfänge waren äußerst bescheiden. Nachkriegszeit und SED-Mangelwirtschaft boten wenig Ressourcen, so dass es vornehmlich dem Engagement der Mitarbeiter zuzuschreiben war, dass sich am Beginn der 1960er-Jahre die Kinderzahnheilkunde in Greifswald entwickeln konnte. Am 26. Februar feiert die heute eigene Abteilung das 60-jährige Jubiläum mit einem wissenschaftlichen Symposium.

Während man in der DDR die zu gesellschaftlichen Kostenfaktoren gewordenen Senioren mit kleinen Renten abspeiste und gern gen Westen ausreisen ließ, kümmerte man sich um die junge Generation. Von dieser politischen Prioritätensetzung profitierten die staatlich organisierte Kinderbetreuung, die Schulen und auch die Kinderzahnheilkunde, die 1958 in dem staatlichen „Programm für die weitere Entwicklung der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde“ ausdrücklich Berücksichtigung erfuhr. Ab 1959 fand sie gemeinsam mit der Prophylaxe Eingang ins Curriculum des Zahnmedizinstudiums [Römer, 2004]. Im Jahr 1960 war Greifswald einer der ersten Standorte in Deutschland, der mit dem Ausbau der Kinderstomatologie in der DDR einen speziellen Bereich für die zahnärztliche Behandlung von Kindern gründete und eine Spezialvorlesung einführte.

Die Zahnklinik Greifswald war bis 2007 im ehemaligen Gebäude des Gasthofs „Zur Linde“ untergebracht. In der Enge mit ehemaliger Kegelbahn (Vorkliniklabore), Tanzsaal (Zahnerhaltung) und Biergarten (Hof) waren die Grundlagen für eine sehr interaktive, integrative und durchaus auch feierfreudige Zahnmedizin gelegt, letzteres ist zumindest den zahlreichen Überlieferungen der Altvorderen zu entnehmen. Um die Klinik herum mussten zahlreiche alte Privathäuser weichen (Abbildung 1). Die Greifswalder Zahnklinik lag inmitten des damals neu entstehenden Wohnviertels „Hanse-Platte“. Die Lage garantierte fußläufige Patientennähe.

Die erste Professur für Kinderzahnheilkunde

Aus den materiell schwierigen Anfängen entwickelte sich die Kinderzahnheilkunde dank des ungeheuren Engagements der Beschäftigten in den Abteilungen zu einer starken und eigenständigen Disziplin mit eigener Fachzahnarztausbildung. Mit dem Untergang der DDR fiel zwar auch der Titel „Kinderstomatologe“ weg, aber die vorhandenen Strukturen und das Know-how konnten in Greifswald verstetigt und ausgebaut werden. Im Jahr 2004 entstand die Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde – und insbesondere durch das Engagement von Prof. Georg Meyer als Direktor der Zahnerhaltung wurde erstmals eine Professur für diese Disziplin eingerichtet. Im Dezember 2004 wurde Prof. Christian Splieth auf diesen Lehrstuhl berufen. 2007 folgte der Umzug in einen Neubau, der seither optimale Arbeitsbedingungen bietet.

Kinderzahnheilkunde: Quo vadis?

Zum 60. Jubiläum veranstaltet die Greifswalder Kinderzahnheilkunde am Samstag, dem 26. Februar 2022, ein wissenschaftliches Symposium mit in- und ausländischen Referenten, Absolventen und der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGKiZ).

Referenten sind unter anderem:

  • Prof. K. Bekes, Wien (Wohin geht die Reise mit MIH/Lebensqualität?) 

  • Dr. H. van Waes, Zürich (Wie sieht der besondere Kinderpatient der Zukunft aus? Frontzahntrauma/Oralchirurgie/ Autotransplantation)

  • OÄ Dr. R. Santamaría und Prof. Ch. Splieth, Greifswald (Wohin geht der Bedarf in der Kinderzahnheilkunde?)

  • Prof. K.-F. Krey, ZÄ A Al Masri und MS Mourad, Greifswald (Eine Zukunft ohne 6er? Pro & Contra aus Sicht der KFO; 6er-Ex: klinische Situation und Zufriedenheit der Patienten; Einsatz von Lachgas: Chirurgie et al. beim Kind und Angstpatienten leicht gemacht).

Die Veranstaltung findet hybrid in Präsenz und online statt (Onlinezugang: 70 Euro, 7 Fortbildungspunkte). Mehr unter: kinderzahnheilkunde@uni-greifswald.de

Parallel zum Greifswalder Großforschungsprojekt SHIP (Study of Health in Pomerania) bei Erwachsenen wurde bereits vor 20 Jahren durch die Inkorporation des Öffentlichen Gesundheitsdienstes Greifswald in die Abteilungsstruktur die Möglichkeit geschaffen, Community Medicine und Public Health für mehr als 10.000 Kinder praktisch umzusetzen. Im Auftrag der DAJ führte die Greifswalder Kinderzahnheilkunde von 2015 bis 2017 die deutschlandweiten epidemiologischen Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe durch. Zuvor konnte schon die erste deutschlandweite Studie zur Prävalenz und Schwere von MIH publiziert werden.

Das Greifswalder Team konnte die KZBV und die Bundeszahnärztekammer mit wissenschaftlicher Expertise unterstützen, einen Ratgeber zur Prävention von frühkindlicher Karies zu entwickeln, und den Prozess begleiten, der im G-BA zur Einführung der neuen FU1-Leistugen zur Prophylaxe vom ersten Zahn an als kassenzahnärztliche Leistung führte.

Der Masterkurs schafft Internationalität

Als erste deutsche Arbeitsgruppe in einem Netzwerk mit Partnern in Großbritannien und Litauen konnte sie eine klinische Studie zur Hall-Technik im Journal of Dental Research publizieren, die eindeutig ergab, dass Stahlkronen ohne Präparation und Kariesentfernung der klassischen Füllung im Milchgebiss deutlich überlegen sind. Auch das alleinige Putzen und Fluoridierungen der Milchzahnläsionen brachten in dieser Studie, die im Jahr 2021 den Publikationspreis der Deutschen Zahnärztlichen Zeitschrift gewann, die gleiche Erfolgsrate wie die üblichen Milchzahnfüllungen.

Aufgrund der vielen klinischen Behandlungen konnten und mussten in der COVID-19-Pandemie sehr zügig alternative, Aerosol-reduzierte Behandlungsformen breitenwirksam implementiert werden. Die Greifswalder Arbeitsgruppe hat hier dank der Vorerfahrungen mit der Hall-Technik und dem sehr wirksamen Silber(diamin)fluorid eins der ersten national und international erfolgreichen Konzepte zur Zahnmedizin unter Coronabedingungen publiziert.

Im Jahr 2012 wurde ein dreijähriger Masterstudiengang Kinderzahnheilkunde an der Universität Greifswald eingerichtet. Der Studiengang wird durch die Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde kooperativ unterstützt. Hier bilden sich auch viele junge ausländische Zahnärzte fort. Und auch die Lehrerschaft ist international: Neben deutschen Referenten von Kiel bis Tübingen unterrichten hier internationale Spezialisten aus Schweden, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden und Qatar.

Kolleginnen und Kollegen aus der Niederlassung oder der Universität können den Masterstudiengang berufsbegleitend an Wochenenden belegen, wobei inzwischen fast ganz Europa vertreten ist. Auf die 14 Plätze pro Durchgang bewerben sich auch etwa 60 Kandidaten aus Indien, Taiwan, China, Mexiko, dem Iran, dem Sudan und vielen arabischen Ländern. Für sie werden Praktikumsplätze für zwei bis drei Jahre an vielen Universitäten – unter anderem in Hamburg, Berlin, Köln, Tübingen, Kiel und Leipzig – oder bundesweit in Kinderzahnarztpraxen angeboten.

Die Patienten werden jünger

Seit dem Start der Kinderzahnheilkunde in Greifswald hat sich das Behandlungsspektrum stark verlagert. Zunächst sind die Patienten insgesamt jünger geworden. Während in der DDR aufgrund der hohen Karieslast auch viele Jugendliche behandelt wurden, sind die Patienten heute eher im Kindergartenalter. Der in den vergangenen Jahrzehnten beobachtete Kariesrückgang zeigte sich vor allem in der bleibenden Dentition der Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Im Milchgebiss ist die Kinderzahnheilkunde nach wie vor stark herausgefordert durch schwere Formen der frühkindlichen Karies (Nuckelflaschenkaries). Dies führt wegen der multiplen Defekte und der eingeschränkten Kooperation der kleinen Patienten vermehrt zu oralen Rehabilitationen unter Vollnarkose, was die Behandlung intensiver und für alle Beteiligten anstrengender macht.

In der bleibenden Dentition spielt heute MIH eine wichtige Rolle. Ob das Phänomen tatsächlich vermehrt auftritt oder heute in Abgrenzung zur Karies nur präziser diagnostiziert wird – darüber herrscht in der Wissenschaft bislang noch keine Klarheit. Weder in der kinderzahnärztlichen klinischen Versorgung noch in der Forschung wird es somit langweilig! Wohin die Entwicklungen des Fachgebiets in der Zukunft gehen könnten, dazu soll das Symposium anlässlich des 60-jährigen Jubiläums (Online-Zugang möglich) einen Ausblick geben. 

Dr. med. dent. Julian Schmoeckel

Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde
ZZMK Universitätsmedizin Greifswald
Walther-Rathenau-Str. 42,
17475 Greifswald

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