Interview mit dem scheidenden DGZMK-Präsidenten Roland Frankenberger

Die Metaperspektive im Blick und die Zahnmedizin im Herzen

In seiner Antrittsrede vor drei Jahren versprach Prof. Dr. Roland Frankenberger, sich vor allem für die Einheit der Zahnmedizin stark zu machen und wollte „jetzt richtig Gas geben“. Keine zwei Monate später begann die Pandemie, die plötzlich ganz andere Herausforderungen aufwarf und alle Energie absorbierte. Erst gut zwei Jahre später kehrte schrittweise Normalität zurück. Blieb dadurch zu wenig Zeit, etwas zu bewegen? Wir haben den „Corona-Präsidenten“ der DGZMK zur Bilanz seiner Amtszeit befragt.

Herr Prof. Frankenberger, Wissenschaft und Wissenschaftspolitik leben von der Kommunikation und vom Austausch. Wie stark sind Sie durch Pandemie und Lockdowns ausgebremst worden?Prof. Dr. Roland Frankenberger:

Zunächst einmal stand natürlich alles im Zeichen der Improvisation, da persönliche Treffen über lange Strecken unmöglich waren. Da aber die komplette Kommunikation binnen weniger Tage auf Online-Formate umgestellt wurde, litt der Austausch per se gar nicht, er war sogar intensiver als davor. Das Problem war, dass Corona alle anderen Themen absorbierte.

Für uns war das gar nicht schlecht, denn als „im Auge des Orkans“ arbeitende Berufsgruppe stand die Zahnmedizin ja sehr schnell im Fokus. Ich erinnere mich noch gut an die von uns beim MFT gegründete nationale Taskforce Corona, die sich zu Beginn wöchentlich online zur Lehre in Medizin und Zahnmedizin ausgetauscht hat. So etwas gab es vorher nie und es war wunderbar fruchtbar, da wir ja gerade am Anfang alle im starken Nebel auf Sicht fuhren. Wie heißt es so schön – Charakter ist das, was sich zeigt, wenn es ungemütlich wird. Die deutsche Zahnmedizin hat in der Krise Charakter gezeigt.

Die digitalen Formate haben Chancen generiert?

Wo sich die digitalen Formate extrem bewährt haben und auch nicht mehr verschwinden werden, sind große Sitzungen. Was das alleine an Reisekosten, Zeit und CO2 gespart hat und in Zukunft sparen wird, ist großartig. Ein Sitzungstag beginnt heute so: Computer einschalten, einwählen, fertig. Präsenzsitzungen sind nur noch wichtig, wenn absehbar so richtig gestritten wird – das geht nämlich online sehr schlecht.

Auch Tagungen und Kongresse wie der Deutsche Zahnärztetag migrierten in die Onlinewelt – und das durchaus erfolgreich …

Gerade der „Deutsche Zahnärztetag online kompakt“ war ein typisches Beispiel dafür, wie man innerhalb kürzester Zeit ein interessantes Format aus dem Boden stampfen kann, das bei den Kolleginnen und Kollegen auch großen Anklang fand. Für mich war der entscheidende Aspekt, dass wir seit langer Zeit wieder ein trilaterales Podium auf die Beine stellten und sogar der damalige Gesundheitsminister Spahn ein Grußwort beisteuerte. Das hätte alles ohne den pandemischen Hintergrund niemals geklappt.

„Es gibt nur eine Zahnmedizin.“ – Dieser Satz ist wohl eine ihrer bekanntesten Aussagen, der weit über Ihre Amtszeit hinaus in Erinnerung und vielleicht auch als Mahnung bleiben wird. Weshalb ist Ihnen der Satz so wichtig?

Ich bin jetzt seit 56 Semestern an der Uni und seit 44 Semestern Hochschullehrer. Was ich in dieser Zeit an Zwistigkeiten zwischen den Fächern erleben musste, war und ist manchmal haarsträubend. Es ist daher absolut kein Zufall, dass die Novelle der zahnärztlichen Approbationsordnung so lange gedauert hat.

Mir geht es bei diesem Satz nicht um standespolitische Kuschelrhetorik: Wenn gestritten werden muss, muss gestritten werden. Denn natürlich gibt es vielerlei zentrifugale Kräfte in einer großen Berufsgruppe wie dem zahnärztlichen Berufsstand und diese haben auch ihre Berechtigung. Sie müssen nur in den einzelnen berufspolitischen Institutionen ausbalanciert werden. Unser Berufsstand als Ganzes ist aber eingebettet in den größeren Kontext der Gesundheitspolitik. Trotz berufsständischer Selbstverwaltung sind wir bei der Gestaltung zentraler inhaltlicher Aspekte immer auf den Gesetzgeber angewiesen.

Ob es um die Finanzierung der Ausbildung, die Verabschiedung einer neuen GOZ, Reglementierungen für die Berufsausübung, Dokumentationen und so weiter geht – nie zuvor waren wir so tief eingebunden in gesetzgeberische oder auf der Ebene der Länder und Kommunen auch in exekutive Kontexte. Da ist es wichtig, als Berufsstand mit einer Stimme zu sprechen, um etwas zu erreichen.

Und heruntergebrochen auf die Universitätszahnkliniken ist es genauso: Wenn alle Zahnis zusammenhalten, besteht eine Chance, im medizinischen Leistungskannibalismus zu bestehen – wenn nicht, werden wir kleingekürzt.

Unter Ihrer Führung ist die Zusammenarbeit der DGZMK mit der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) enger geworden. Was kann die Wissenschaft berufspolitisch beitragen?

Die DGZMK ist die Stimme der wissenschaftlichen Zahnmedizin in Deutschland. Und in dieser Eigenschaft ist sie fundamental wichtiger Partner und Bindeglied der Standesorganisationen. Ich bin sofort nach meiner Amtseinführung auf BZÄK und KZBV zugegangen und habe mich mit Dr. Eßer und Dr. Engel, und später dann mit Prof. Benz, abgestimmt. Ich bin dort in der ganzen Zeit auf offene Ohren, erreichbare Handynummern und blitzschnelle SMS-Kontakte gestoßen. Das ist nicht selbstverständlich.

Und so sind wir in den wichtigen Dingen wie Pandemie, Paro-Strecke, GKV-Stabilisierungsgesetz, Amalgam-Phase-out und vielen anderen Themen permanent im direkten Kontakt gewesen. Bei allen Anhörungen im BMG oder beim G-BA wurde ich als Vertreter der Deutschen Wissenschaft in der Zahnmedizin mitgenommen und objektiv angehört. Das war wunderbar. Nicht vergessen darf man in diesem Kontext auch die Leitlinienarbeit, die die DGZMK federführend koordiniert und mitfinanziert. Dieses Backbone müssen wir in Zukunft weiter ausbauen, einfach weil es noch Lücken aufweist.

Viele fürchten, mit zu vielen Leitlinien landen wir eines Tages bei einer Checklisten-Medizin, in der die Freiheit des Arztes individuell zu heilen, untergeht. Sehen Sie diese Gefahr?

Das wird ja oft ins Feld geführt, ich sehe die Gefahr nicht. Aber: Die Politik hätte das schon gerne so, noch lieber gleich auch justiziabel ausgestaltet. Aber das ist nicht die ärztliche und zahnärztliche Realität. Jede kieferorthopädische Behandlung, jeder Wurzelkanal, jedes orale Mikrobiom ist individuell verschieden. Jeder Patient ist eine eigene biologische Variation und letztlich einzigartig und so individuell müssen wir natürlich auch behandeln. Diese Freiheitsgrade des individuellen Therapierens müssen sich in den Leitlinien wiederfinden. Und zum Glück sind es ja Mediziner, die die Leitlinien schreiben und – Gott bewahre – keine Juristen. Solange das so bleibt, mache ich mir keine Sorgen.

Sie haben viele Impulse zu Trends in der Zahnmedizin gegeben – zuletzt mit einer Pressekonferenz zur Ernährungszahnmedizin. Welche Bedeutung hat die Ernährung in der Zahnmedizin?

Diese Pressekonferenz war seit 2019 geplant, 2022 haben wir es dann endlich geschafft. Das Thema Ernährung ist ein Steckenpferd von mir, ich gebe mittlerweile regelmäßig Seminare, die sich mit Ernährung und Karies oder Parodontitis beschäftigen, vor allem aber im Hinblick auf die Gesunderhaltung der Zahnärztin und des Zahnarztes selber. Gerade da grassieren ja so viele Mythen, dass diese Vorträge immer auf große Resonanz stoßen.

In Bezug auf unsere Patienten sehe ich immer mehr, dass wir die klassischen Erst-Detektoren von Fehlernährung sind, da die Effekte der Fehlernährung beim Arzt viel später erkannt werden als bei uns. Daher spreche ich meine Patienten seit Jahren aktiv an und gerade die aufgeklärten finden das super, denn Mikronährstoff- und Vitamin-D-Mangel sind extrem häufig anzutreffen.

Ein Metatrend unserer Zeit ist die Digitalisierung. Im Gegensatz zu den politischen Digitalprojekten können sich die digitalen Innovationen in der Zahnmedizin durchaus sehen lassen …

... ganz klar, hier sind wir ja seit jeher Innovationstreiber. Digitale Workflows machen unsere Prozesse effizienter und nachhaltiger, digitales Röntgen hat die Strahlenbelastung gesenkt und auch die Archivierung wurde erleichtert. Nicht unerwähnt bleiben darf auch, dass die Digitale Zahnmedizin in der Pandemie sehr resistent war. Was ich im wissenschaftlichen Beirat der Arbeitsgemeinschaft „Dynamisches Digitales Modell“ an aufregenden Ideen miterleben darf, ist außerordentlich. Die Idee, die individuelle Gebissbiografie longitudinal mit Intraoralscannern zu monitoren, ist wahrlich ein Thriller. Auch in meiner Abteilung sind heute selbst im Studentenkurs 90 Prozent der Arbeiten digital hergestellt. Das hätte ich mir vor zehn Jahren nicht träumen lassen.

Kommt bei Ihnen nicht manchmal Wehmut auf, wenn über die neuen Workflows handwerkliches „analoges“ und materialkundliches Wissen verlorengeht?

Ich sage meinen Studenten immer – mit einem Augenzwinkern –, dass sie 50 Prozent der von mir gelehrten Inhalte später nicht brauchen werden, ich ihnen aber nicht sagen kann, was unter diese 50 Prozent fällt und sie daher leider alles lernen müssen. Aber mal im Ernst: Was gemacht wird, wird auch gelehrt, aber was nicht mehr gemacht wird, darf auch nicht gelehrt werden – über Bord mit dem alten Zeug, dafür ist das Leben zu kurz und gerade in Zeiten starker Innovationskraft müssen obsolete Altlasten nicht zuletzt deswegen eliminiert werden, um neue Themen wie zum Beispiel zahnärztliche Schlafmedizin, Ernährung, Kommunikation aufnehmen zu können – das Zahnmedizinstudium muss studierbar bleiben.

„Was gemacht wird, wird auch gelehrt, aber was nicht mehr gemacht wird, darf auch nicht gelehrt werden – über Bord mit dem alten Zeug, dafür ist das Leben zu kurz.“

Besonders erfolgreich ist die Zahnmedizin beim Thema Prävention. Nie zuvor haben Menschen so lange ihre natürlichen Zähne erhalten können. Wie viel Potenzial steckt noch in der Prävention?

Die Individualprophylaxe und die kompromisslose Anwendung von Fluorid haben uns in den letzten 30 Jahren 48 Prozent weniger Füllungen beschert. Das wurde von den Universitäten angestoßen und wissenschaftlich begleitet, aber die erfolgreiche Arbeit haben die Zahnärztinnen und Zahnärzte bewerkstelligt – das ist fantastisch und diese Zahlen müssten eigentlich in jedem Wartezimmer hängen. Denn die präventive Kariologie ist das beste Präventionsfach in der gesamten Medizin. Fragen Sie mal die Onkologen oder noch mehr die Psychiater nach der Prävalenz der von Ihnen betreuten Krankheiten.

Trotz der Erfolge bleibt noch genug zu tun. Die Prävalenz der Parodontitis ist noch immer viel zu hoch, ebenso wie die der Karies in sozial schwachen Bevölkerungsgruppen. Die Reduktion bei Primärkaries wird durch die Demografie über kurz oder lang von der Wurzelkaries konterkariert werden.

Nicht zuletzt deswegen habe ich in meiner Abteilung zum 1. Oktober die deutschlandweit erste Professur für „Kariologie des Alterns“ besetzt – Prof. Carolina Ganß wird mein Team ab sofort auf dem Sektor der Wurzelkariesforschung substanziell verstärken.

Sie haben während der Pandemie den Begriff der „Oralen Medizin“ popularisiert. Sehen Sie hier einen Paradigmenwechsel im Verständnis des Faches?

Uns in der DGZMK war es gerade in der Pandemie wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Mundhöhle die erste Verteidigungslinie des Immunsystems ist, und genau da liegt ein großes, historisch gewachsenes Problem. Dadurch, dass für eine viel zu lange Zeit alle zahnmedizinischen Inhalte rigoros aus der Medizinerausbildung getilgt wurden, haben viele Ärzte null Ahnung von der Mundhöhle – das führt zu einer chronischen Unterschätzung der Zahnmedizin. Daher ist die Neudefinition der Zahnmedizin als „orale Medizin“ so wichtig.

Hinzu kommt: Die Zahnmedizin wird sich in der kommenden Dekade mehr verändern als in den 40 Jahren davor. Wir befinden uns in einer historischen Phase des Wandels der Zahnmedizin, von einem mechanistisch-funktionalen und kurativen Weltbild hin zu einer Oralen Medizin, die die biologischen Zusammenhänge zwischen lokaler und systemischer Gesundheit mit ihren Wechselbeziehungen zur Medizin in den Fokus stellt. Genau diese Betrachtungsweise des oralen Systems als erste Verteidigungslinie unseres Immunsystems bezieht die zahnmedizinische Prävention, Diagnostik und Therapie von Erkrankungen orofazialer Strukturen und oraler Manifestationen von lokalen und systemischen Erkrankungen mit ein.

Das Programm des kommenden Deutschen Zahnärztetages ist mit „Kritisch hinterfragt: Ethik – Biologie – Sport“ überschrieben. Was dürfen die Teilnehmer vom diesjährigen Leitkongress des zahnärztlichen Berufsstands erwarten?

Wir haben uns in diesem Jahr für eine etwas andere Choreografie entschieden als sonst üblich. Das Einstiegsthema Berufsethik ist jetzt nicht automatisch etwas, was die Kollegin und der Kollege am Montag danach gleich kochrezeptesk umsetzen können, aber wenn die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Buyx, zusagt, muss man die Gelegenheit beim Schopf packen. Des Weiteren beleuchten wir den Dauerbrenner Nachhaltigkeit in der Medizin, bevor wir uns biologischen Aspekten nähern, da streifen wir neben der Homöopathie auch die Themen Root Cause (also Exodontie unter „biologischem“ Vorwand), Sportzahnmedizin und Speicheldiagnostik.

Zum Thema Speichel konnten wir einen der weltweit führenden Forscher gewinnen, Prof. Ruhl von der University of Buffalo – für mich das Highlight der kompletten Veranstaltung. Am Samstag fahren wir mit dem zweiten biologischen Teil mit Paro-Schwerpunkt fort, bevor uns das Genfer Team Sailer/Fehmer zum Schluss ein praxisnahes Feuerwerk der festsitzenden Prothetik bieten wird. Sie sehen, das wird ein sehr facettenreicher Deutscher Zahnärztetag 2022.

Zum Schluss frage ich natürlich nach der Bilanz Ihrer Amtszeit. Wie zufrieden sind Sie?

Ich bin nicht unzufrieden. Wir haben in der Zeit viele Dinge angepackt und ich glaube, es war auch ein roter Faden erkennbar, den wir durch unser Positionspapier „Perspektive Zahnmedizin 2030“ definiert haben. Da sind sozusagen Leitplanken für die künftige Arbeit definiert worden. Ich glaube, es ist auch ganz gut gelungen, der trilateralen Idee wieder mehr Leben einzuhauchen, das lag mir von Beginn an immer am Herzen. Auch die durch die Umsetzung der neuen Approbationsordnung vielerorts spürbare Aufbruchstimmung an den zahnmedizinischen Standorten sehe ich positiv.

Eine wichtige Perspektive für mich war, seit über zehn Jahren – nach 2005 – wieder eine echte DGZMK-Gemeinschaftstagung aller Fachgesellschaften als Deutschen Generalistenkongress auf die Beine zu stellen, wofür ich lange belächelt wurde. Heute haben wir die Zusage aller Gruppierungen und ich bin freudig gespannt auf 2025, wenn dieser Kongress dann über die Bühne geht. Betrachtet man die über 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer von 2005 bei 12.000 DGZMK-Mitgliedern, dann dürfen wir bei heute über 25.000 Mitgliedern von einem großen, wegweisenden Kongress ausgehen, bei dem vielleicht auch einmal ein/e Gesundheitsminister/in persönlich erscheint.

Werden Sie die Zeit im DGZMK-Vorstand vermissen?

Natürlich. Vermissen werde ich die zahllosen Videokonferenzen, aber vor allem die persönlichen Treffen, wir waren in den sechs Jahren wirklich ein eingeschworener Haufen. Ansonsten lebe ich nach dem Motto „Alles hat seine Zeit“ – ich kann super loslassen und es kommen ja neue Aufgaben, alleine schon die Tätigkeit beim MFT ist so abwechslungsreich, dass mir sicher nicht langweilig wird.

Das Gespräch führte Benn Roolf.

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