Zahnärzte zur Identifizierung rundherum im Einsatz

Der 11. September und die Zahnmedizin

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Es war der Tag des blassen Erschreckens. Was am frühen Büromorgen des 11. Septembers in Amerikas Wirtschaftsmetropole New York geschah wurde sehr bald zur grauenvollen Wirklichkeit der gesamten Welt. Viele Monate danach, sind noch immer Helfer über Helfer dabei, Überreste von Verschütteten zu identifizieren. Durch einen Kontakt der Firma Heraeus Kulzer erhielten wir einen Zeitzeugenbericht. Der New Yorker Zahnarzt Dr. Howard Glazer schildert seine Arbeit in den Trümmern des Word Trade Centers, die Karl-Wilhelm Theis aufschrieb.

Was als normaler Tag in der Praxis begann, entwickelte sich schnell zum Beginn einer sehr langen und anstrengenden Aufgabe. Ich beziehe mich natürlich auf den Morgen des 11. September 2001 – wahrlich ein Tag des Schreckens in der Geschichte von New York in den Vereinigten Staaten und der gesamten Welt.

Forensische Aufgaben des New Yorker Zahnarztes

Anders als die meisten anderen Zahnärzte praktiziere ich nicht nur im Bereich der allgemeinen Zahnheilkunde – ich bin auch stellvertretender forensischer Zahnarzt für das Amt des Chief Medical Examiner (Leiter für gerichtsmedizinische Untersuchungen, Anmerkung des Übersetzers) der Stadt New York.

Wie die meisten anderen Zahnärzte war ich an diesem Morgen damit beschäftigt, eine Patientin zu behandeln, als ich die schreckliche Nachricht hörte. All meine Telefone und mein Piepser klingelten scheinbar zur gleichen Zeit. Meine Patientin, die ich gerade im Stuhl behandelte, erschreckten die ablaufenden Ereignisse und ich versicherte ihr, dass ich den Überkronungsvorgang durch das Anlegen einer provisorischen Krone beenden würde (ich hatte den Zahn bereits vorbereitet und einen Abdruck genommen).

An diesem Dienstagmorgen war ich in meinem Büro in Fort Lee, New Jersey, das sich auf der anderen Seite des Hudson River und New Yorks befindet.

Meine Mitarbeiter riefen sofort die örtliche Polizeistation an, erklärten wer ich sei und dass ich eine Eskorte zum Büro des Leiters der Gerichtsmedizin benötigte. Innerhalb weniger Minuten erhielt ich einen Rückruf mit dem Auftrag, meine Praxis sofort zu schließen. Ich musste nun meine Arbeit als forensischer Zahnarzt aufnehmen – ohne zu wissen, was mich wirklich erwartete.

Forensisch tätige Zahnärzte in den USA

Dies ist nicht nur eine Geschichte über mich, sondern vielmehr die Beschreibung der Reaktion vieler meiner Kollegen, die täglich 24 Stunden, sieben Tage in der Woche und 365 Tage im Jahr auf Abruf stehen. Die Stadt New York ist in der glücklichen Lage, über eine Kerngruppe von 21 Zahnärzten zu verfügen, die das „New York Society of Forensic Dentistry (NYSFD)“ (in etwa „Gesellschaft der Forensischen Zahnmedizin von New York“, Anm. d. Übs.) bilden und als zahnärztliches Identifizierungsteam vom OCME (Oral Chief Medical Examiner) Dienst leisten. Um das Studium der forensischen Zahnme dizin zu fördern, befinden sich unter den Mitgliedern Zahnärzte, Hygieniker, Assistenten, Ärzte, Anthropologen und Polizeikräfte. Der zahnärztliche Bereich von OCME ist allgemein anerkannt als perfekt ausgebildete und erfahrene Gruppe von professionellen Kräften. Die meisten Mitglieder des Teams haben an umfangreichen forensischen Ausbildungsübungen teilgenommen, unterrichten in Fachgebietskursen und haben in vielen vorangegangenen Vorfällen mit Todesfällen zusammengearbeitet. Viele sind auf Routinebasis beteiligt an Zivilrechts- und Kriminalfällen, einschließlich der Identifizierung von menschlichen Überresten, des Nachweises von Kindesmissbrauch bei Geschworenen- Gerichtsverhandlungen, Gebissabdruck- Analysen oder als Sachverständige vor Gericht. Die Mitglieder von NYSFD besuchen Konferenzen und Ausbildungsveranstaltungen das ganze Jahr hindurch, um zu gewährleisten, dass sie entsprechend vorbereitet sind, wenn sich eine Situation, wie etwa der Anschlag auf das World Trade Center, ergibt.

Seit dem terroristischen Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 hat es einen Aufruf nach Hilfsmaßnahmen gegeben, der die bei vorherigen Katastrophen ergangenen bei weitem übertrifft. Mitglieder des Teams haben ihre Praxen vorübergehend geschlossen und ihr privates Leben weitestgehend eingestellt, um allein der schwierigen Aufgabe nachzugehen, die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center zu identifizieren. Sie taten dieses ebenso und – dies sollte nicht vergessen werden – um diejenigen Menschen zu identifizieren, die beim Absturz des Fluges 587 der American Airlines am 12. November 2001 ums Leben kamen.

Das Chaos im Chaos

Es ist nur natürlich, dass der Schrecken über die Angriffe ein beträchtliches Chaos in der Stadt New York ausgelöst hat. Die Stadt befand sich in einem Zustand der „Abriegelung“. So wurden Geschäfte einfach geschlossen und der Verkehr von privaten Fahrzeugen in der Stadt fand so gut wie nicht mehr statt.

Obwohl die Zahl der getöteten und verletzten Personen nicht unmittelbar bekannt war, gab es Spekulationen, dass es mehrere Zehntausend sein könnten. Die sofortige Reaktion der Polizei- und Feuerwehrstationen sowie der Krankenhäuser und deren Notfallpersonal war einfach überwältigend. Tragischerweise gab es nur wenige Verletzte und zu wenige Überlebende des Zusammensturzes der Zwillingsgebäude des World Trade Center. Viel zu schnell wurde offenkundig, dass dies nicht ein Rettungs-, sondern vielmehr ein Bergungsunternehmen war.

Bergungszentrale vom Schiff aus

Freiwillige und Militärpersonal wurden von überall aus den Vereinigten Staaten entsandt. Das „Schwimmende Krankenhaus“, die USN Comfort (Schiff, Anm. d. Übs.) wurde unter der Mission „Noble Eagle“ nach New York verlegt. Das Schiff, das über nahezu 1000 Betten verfügt, legte an einem Pier an der Westseite Manhattans an.

Nachdem die ersten Stunden und schließlich Tage vergangen waren, wurde allen Beteiligten deutlich, dass es nicht viele Überlebende oder gar noch lebende verletzte Personen geben würde. Daraufhin wurde das Schiff zu einer Unterkunft für die vielen Freiwilligen, die sich an den Rettungsund Bergungsmaßnahmen beteiligten. Eine Kommandozentrale wurde eingerichtet mit Mitgliedern jeder Stadt, jedes Bundesstaats und jeder Bundesbehörde. Die Zentrale unterstand dem Befehl des damaligen Bürgermeisters von New York, Rudolf Guilliani. Sie erlaubte und ermöglichte die Koordinierung aller Behörden in deren Anstrengungen, die in den vielen Monaten nach dem 11. September weiter andauerten.

Sammeln der Überreste

Auf dem Gelände selbst wurden vorübergehende Leichenhallen eingerichtet, die als Lagerstätten für die „Überreste“ dienten, bis diese in unser Hauptgebäude im oberen Stadtbereich gebracht wurden. Die Aufgabe der Analyse und Identifizierung der Überreste wurde innerhalb weniger Stunden nach dem ersten Anruf beim OCME um genau 8:30 Uhr in Angriff genommen.

Angesichts der gigantischen Aufgabe, die vor uns lag, wurden auch Mitglieder des „Disaster Mortuary Operation Response Team (DMORT)“ hinzugezogen. Das Personal von DMORT umfasst Mitglieder des Department of Health and Human Services (Gesundheitsbehörde, Anm. d. Übs.), die nach New York gebracht wurden, um das zahnärztliche Team des OCME zu unterstützen. Ein Computerprogramm mit der Bezeichnung WIN-ID wurde benutzt, um prä- und postmortale Unterlagen zu katalogisieren. Alle Röntgenbilder wurden zu Archivierungszwecken in die Datenbank eingescannt, um so eine erfolgreiche Identifikation zu ermöglichen

Erschütternde Anblicke

Trotz all der Ausbildung war niemand auf die Verwüstung vorbereitet, die sich uns allen bot.

Die Überreste der Opfer wurden in die Leichenhalle gebracht, und der Identifizierungsprozess begann. Gerichtsmedizinische Pathologen, Anthropologen und Polizeipersonal waren anwesend, um die Überreste zu untersuchen und persönliche Gegenstände und Kleidungsstücke zu katalogisieren.

In einem nächsten Arbeitsschritt wurden Röntgenbilder der gesamten Überreste erstellt, Fingerabdrücke (falls überhaupt noch möglich) genommen und dann in den zahnärztlichen Identifizierungsbereich weitergeleitet, um vom dortigen Team weiter untersucht und geröntgt zu werden. Überreste, die gefunden wurden, reichten von Körperteilen über bezahnte Kieferfragmente bis hin zu einigen Fällen von Einzelzähnen.

Unser Team beschäftigte sich mit Überresten, die verkohlt und/oder zertrümmert und zerfallen waren. Nichts kann einen Menschen vorbereiten auf das, was wir tun mussten; dennoch verrichteten wir unsere Arbeit nimmermüde und ehrenvoll und mit der Genauigkeit einer ausgebildeten Fachkraft.

Ein Drittel ist identifiziert

Bis zum heutigen Tage wurden nahezu 1000 der etwa 2900 als getötet gemeldeten Opfer identifiziert. Etwa 55 bis 60 Prozent dieser Opfer wurden mit Hilfe zahnmedizinischer Ausrüstung/Technologie identifiziert. In vielen anderen Fällen war es eine Kombination von zahnmedizinischer und/oder DNA-Analyse sowie Fingerabdrücken, die eine Identifizierung ermöglichten. Obwohl sehr hilfreich, ist die DNA-Analyse ein langwieriges und zeitaufwändiges Verfahren, um Ergebnisse zu gewinnen. Die Identifizierung mit Hilfe von zahnmedizinischen Mitteln ist nicht nur sehr schnell, sondern auch äußerst genau und erlaubt, überzeugende Resultate zu erzielen. Wenn die zahnmedizinischen Identifizierungsteams ihre Arbeit präzise und schnell verrichten, werden die Überreste identifiziert und die überlebenden Familienmitglieder können letztlich versuchen, sich mit ihrem tragischen Verlust auseinander zu setzen und ihn zu akzeptieren.

Zahnärztliche Beweisfunde sind die in der Regel am längsten zu benutzenden Nachweise bei Unglücksfällen, die durch Feuer oder massive Traumata entstanden sind. Zähne und Kiefer sind die kompaktesten Knochenstrukturen im menschlichen Körper, die auch zusätzlich durch verschiedene Weichgewebsschichten geschützt sind. Daraus folgt, dass Fragmente von Zähnen oder Kieferknochen eine wesentlich längere Überlebensdauer haben als Fingerabdrücke oder andere Identifizierungsarten. Obwohl Fingerabdrücke üblicherweise sehr gute Identifizierungskriterien sind, überlebt Weichgewebe gewöhnlich keinen schwerwiegenden Unfall.

Im Bereich der möglichen zahnärztlichen Beweisführung schließen wir die gesamte Zahnmorphologie ein wie auch vorhandene Restaurationen und/oder die Pulpa „Chamber“. Das Okklusionsmodell der Trabekel, der Mandibula und Maxilla sind oft hilfreiche Anhaltspunkte.

In einigen Fällen geben Funde von kieferorthopädischen Drähten oder Apparaturen beziehungsweise Reste von Prothesen wertvolle Ansatzpunkte für eine Identifikation. Tätowierungen, Schmuckstücke, Brieftaschen mit Ausweisen oder Führerscheinen, Kreditkarten oder spezifische Kleidungsstücke können zu einer möglichen Identifizierung führen. Jedoch keines der angeführten Kennzeichen ist so speziell und einzigartig wie das menschliche Gebiss. In den Bemühungen, die Opfer des World-Trade- Center-Anschlags zu identifizieren, war jede Art von Hinweisen sehr willkommen, um eine vollkommen sichere Identifikation zu gewährleisten.

Die Suche geht weiter

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Manuskriptes dauern die Bergungs- und Identifizierungsarbeiten noch an. Wir werden immer noch in der Nacht angerufen sobald ein Opfer aufgefunden wird, und wir reagieren entsprechend. Dadurch, dass wir hier vor Ort im Zuge dieses tragischen Ereignisses Identifizierungen durchführen und Fälle abschließen können, haben wir die kleine Befriedigung, mit unserer Arbeit den Verwandten zumindest ein bisschen über den Verlust ihrer Angehörigen hinweg helfen zu können.

Dr. Howard Glazer810 Abbott Blvd.Fort Lee NJ 07024USAE-Mail:Hglazer264@aol.com

Karl-Wilhelm TheisHeraeus Kulzer GmbH & Co. KGGrüner Weg 1163450 HanauE-Mail:karl-wilhelm.theis@heraeus.com

Anfang Juli wurden die Identifizierungsarbeiten eingestellt. Etwa 1500 der 2900 Vermissten konnten trotz aller Anstrengungen nicht identifiziert werden.Anm. d. Red.

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