Botulinum: Modedroge und wirksames Medikament

Nie wieder Falten und mehr!

Heftarchiv Medizin
Kaum ein neues Medikament hat auch in der Publikumspresse so starke Aufmerksamkeit gefunden wie Botulinum – die echte oder vermeintliche Wunderwaffe gegen Falten. In den zm 12/2003 haben wir bereits die Indikation gegen das Frey-Syndrom vorgestellt. Lesen Sie auf den folgenden Seiten, wie dieses Gift seinen Weg als viel versprechendes Medikament in die Medizin gefunden hat und bei welchen Erkrankungen es ein sinnvolles Therapiekonzept sein könnte.

Vom giftigsten aller Gifte zum segensreichen Medikament! So könnte man den Weg des Nervengiftes Botulinumtoxin beschreiben, das sich zurzeit als Mittel gegen Falten auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit erfreut.

Mehr als ein Hautästhetikum

Bestimmte Anwendungsgebiete, insbesondere die Korrektur von mimikbedingten Gesichtsfalten, haben großes Interesse in den Medien gefunden. Die Bewertung ist sehr unterschiedlich. Einerseits wird Botulinum als Wunderwaffe gegen Falten gepriesen, andererseits spricht man vom gefährlichsten Biokampfstoff als Partyknüller. „In der Hand des erfahrenen Anwenders ist Botulinum eine sichere und zufrieden stellende Therapieoption im Bereich der ästhetischen Medizin. Vor dem Missbrauch als Modedroge, die im Rahmen von so genannten Botox-Partys vertrieben wird, muss jedoch dringend gewarnt werden“, betonte Prof. Dr. Dr. Marc Heckmann, Ärztlicher Leiter der Praxisklinik Starnberg.

Im Übrigen handele es sich bei den dermatologischen Indikationen nicht nur um ästhetisch motivierte Eingriffe. Besonders wertvoll sei Botulinum bei der Behandlung der fokalen Hyperhidrose, die über lange Zeit gar nicht als therapierbar galt. Ausgangspunkt für diesen Therapieansatz waren Beobachtungen bei Patienten mit Botulinumintoxikation im Rahmen einer Wurstvergiftung, die eine auffallend trockene Haut zeigten.

Gesteigerte Aktivität der sudomotorischen Fasern

Bei der fokalen Hyperhidrose handelt es sich um ein sehr quälendes Krankheitsbild. Typische Lokalisationen für die anfallsweise auftretende starke Schweißproduktion sind Axilla, Handflächen und Fußsohlen. Aber auch Stirn, Nacken und Oberkörper können betroffen sein (siehe auch zm 11/03, S.30). Die Patienten klagen über anfallsartige Schweißausbrüche, die schon bei minimalen psychischen Belastungssituationen oder gar aus heiterem Himmel auftreten. Paradoxerweise frieren diese Patienten, obwohl sie schwitzen, da durch die Abdunstung des Schweißes ein erheblicher Wärmeverlust für den Körper entsteht. Die vermehrte Schweißbildung prädisponiert zu Pilz-, Bakterien- und Virusinfektionen. Die Auswirkungen auf das persönliche und berufliche Umfeld sind, so Heckmann, erheblich. Oft werden manuelle Tätigkeiten durch die tropfnassen Hände behindert, jeder Händedruck wird zum Spießrutenlauf und Streicheleinheiten werden schamhaft vermieden.

Pathophysiologisch findet sich bei diesem Krankheitsbild, an dem zirka zwei Prozent der Bevölkerung leiden, eine hundertfach gesteigerte Aktivität der sudomotorischen Fasern. Sie leiten die durch minimale thermische oder emotionale Reize hervorgerufene Sympathikusaktivierung verstärkt an die ekkrinen Schweißdrüsen weiter.

Mit Botulinumtoxin ist es heute möglich, die cholinergen Synapsen an den ekkrinen Schweißdrüsen selektiv zu blockieren. Dabei wird die Substanz intradermal injiziert. Auf diese Weise kann bei über 90 Prozent der Behandelten eine zufrieden stellende Schweißreduktion erreicht werden. Während die Botulinuminjektion in der Axilla meist unproblematisch ist, ist die Injektion an Händen, Füßen oder an der Stirn sehr viel schmerzhafter. Deshalb ist hier eine analgetische Vorbehandlung erforderlich.

Sinnvoll ist die Gabe von Botulinum jedoch nur bei einer primären Hyperhidrose. Deshalb sollte vor Einleitung der Therapie eine hormonelle, infektiöse oder tumoröse Grunderkrankung ausgeschlossen sein. Auch ist die Botulinumtherapie für Heckmann keinesfalls die Therapie der ersten Wahl. Zunächst sollten andere Verfahren, wie beispielsweise das Auftragen von Aluminiumchlorid oder die Leitungswasser-Iontophorese bei palmoplantarer Hyperhidrose, versucht werden. Erst wenn dies keine ausreichende Wirkung zeige, sei Botulinumtoxin gerechtfertigt. Eine andere Indikation ist das Gustatorische Schwitzen, das Frey-Syndrom (siehe zm 12/2003, Seiten 30ff).

Ein neues Schmerzmittel?

Aktuelle Forschungsanstrengungen konzentrieren sich auf die Anwendung von Botulinumtoxin in der Schmerztherapie. Vor allem Patienten mit bisher therapierefraktären chronischen Schmerzerkrankungen erhoffen sich damit Hilfe. Ausgeprägte analgetische Effekte zeigt die Substanz dann, wenn die Schmerzen durch eine Dauerkontraktion der Muskulatur verursacht werden, zum Beispiel bei Dystonien oder einer Spastik. Gerade hier hat, so Prof. Dr. Hartmut Göbel von der neurologisch-verhaltensmedizinischen Schmerzklinik in Kiel, die lokale Injektion von Botulinumtoxin die systemische Schmerztherapie teilweise verdrängt. Die Schmerzlinderung setzt aber häufig schon wesentlich früher ein als die muskuläre Relaxation. Auch ist die Schmerzreduktion meist stärker ausgeprägt als die muskuläre Verbesserung. Eine Schmerzlinderung wird außerdem auch in solchen Muskelarealen erreicht, in denen der Muskeltonus nicht beeinflusst werden kann, und die Schmerzlinderung hält auch länger an als die Muskelentspannung. Dies spricht dafür, dass der analgetische Wirkmechanismus von Botulinum komplexer ist. Neben der direkten Beeinflussung der Muskelspindelaktivität wird das Botulinumtoxin nämlich auch in das periphere und zentrale Nervensystem aufgenommen, so dass direkt die Schmerzwahrnehmung und das Schmerzgedächtnis beeinflusst werden. Darüber hinaus werden auch antiinflammatorische Effekte diskutiert, die für Patienten mit Migräne oder Clusterkopfschmerzen relevant sein könnten.

Gute Wirksamkeit bei Kopfschmerzpatienten

In ersten klinischen Studien zeigte Botulinum sowohl bei der Migräne als auch beim Spannungskopfschmerz eine gute Wirksamkeit, sowohl die Intensität der Migräneattacken als auch die Attackenhäufigkeit nahmen ab. Gleiches gilt auch für den Spannungskopfschmerz, bei dem Botulinumtoxin auch in der Langzeitanwendung einen anhaltenden Effekt zeigt.

Da die Hälfte aller Patienten mit häufigen Migräneattacken auch an Spannungskopfschmerzen leidet, erfordert die prophylaktische Behandlung der Migräneattacken, so Göbel, zunächst eine Besserung beziehungsweise Beseitigung des Spannungskopfschmerzes. Dadurch wird ein wichtiger Stressfaktor als Trigger für die Migräneattacken reduziert oder sogar beseitigt. Außerdem werden weniger Analgetika als Akutmedikation zur Behandlung des Kopfschmerzes eingenommen, sodass auch die Entstehung eines medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes vermieden wird. Darüber hinaus werden aber auch mit dem Botulinumtoxin die muskulären Trigger für die Migräneattacken direkt beseitigt.

Im Unterschied zur Migräne konnte bisher bei der Fibromyalgie keine Wirkung dokumentiert werden, weshalb die Botulinumtherapie bei diesem Krankheitsbild nicht empfohlen werden kann.

Quälende Dystonie

Unter einer Dystonie versteht man ein Syndrom anhaltender Muskelkontraktion, das zu verzerrenden, repetitiven Bewegungen und abnormalen Haltungen führt. Solche Bewegungsstörungen sind Folge einer zentral-nervösen Fehlfunktion bei der Bewegungs- und Haltungskontrolle, für die sich meist keine Ursache findet. Am häufigsten sind der spastische Schiefhals (Torticollis spasmodicus), der Lidkrampf (Blepharospasmus), der Schreibkrampf und die spastische Heiserkeit (laryngeale Dystonie).

Die fokalen Dystonien beginnen meist im mittleren Erwachsenenalter. Die Frage, ob es sich um ein organisches, eventuell genetisch determiniertes oder um ein psychopathologisches Phänomen handelt, wird kontrovers diskutiert. Patienten mit einer solchen fokalen Dystonie leiden unter einer erheblichen Stigmatisierung. Folgen sind deshalb Selbstwertkrisen und ein entsprechendes Vermeidungsverhalten, was zu einer sozialen Isolation, ja sogar zu einer sozialen Phobie führen kann.

Revolutionärer Therapiefortschritt

Bei dystonen Bewegungsstörungen hat Botulinumtoxin die Therapie zweifelsohne revolutioniert, sagte Priv.-Doz. Dr. Andreas O. Ceballos-Baumann von der Neurologischen Klinik der Technischen Universität München. Vor der Botulinumtoxin-Ära wurden unterschiedlichste, meist wirkungslose Therapien durchgeführt, wie Psychoanalyse, stereotaktische Operationen und Parkinsonmedikamente. Auch wurden Neuroleptika großzügig eingesetzt, obwohl diese selbst Bewegungsstörungen auslösen können.

Für all diese Krankheiten ist, so Ceballos-Baumann, Botulinumtoxin heute das Medikament der ersten Wahl. Bei einem Blepharospasmus und der laryngealen Dystonie kann bei vielen Patienten eine über Monate anhaltende komplette Beschwerdefreiheit erreicht werden. Bei Patienten mit einem spastischen Schiefhals seien die Behandlungserfolge bezüglich der Kopfhaltung häufig nicht so dramatisch wie beispielsweise beim Blepharospasmus, aber bei der Mehrzahl der Betroffenen entfalte Botulinumtoxin eine starke Schmerz lindernde Wirkung. Auch beim Faust- und Schreibkrampf und bei schmerzhaften Dystonien im Rahmen eines Morbus Parkinson beziehungsweise bei fazialen Muskelspasmen sei eine günstige Wirkung belegt. Gleiches gilt für die Spastik nach einem Schlaganfall. Auch die Analfissur und die Achalasie stellen nach Meinung von Ceballos-Baumann heute gut begründete Indikationen für eine Anwendung mit Botulinumtoxin dar.

Antikörper können Wirkung abschwächen

Die Wirkung des Botulinumtoxins beruht darauf, dass die Freisetzung von Acetylcholin aus den Nervenendigungen verhindert wird. Folge ist eine Schwäche der Muskulatur, die je nach Applikationsweise und Dosierung der Substanz erst nach wenigen Tagen eintritt. In der Folge kommt es aber allmählich wieder zu einer Restitution der neuromuskulären Synapse, was das allmähliche Nachlassen des Therapieeffekts erklärt. Die durchschnittliche Wirkdauer beträgt zirka drei Monate.

Grundsätzlich sollte die Therapie in niedriger Dosierung begonnen werden, zur individuellen Dosisfindung empfiehlt sich ein „Titrieren“. Bei Gabe höherer Dosen muss mit einer Antikörperbildung gegen das Toxin gerechnet werden. Ein solches Antikörpersyndrom kann sich vor allem bei wiederholten Behandlungen oder zu hohen Gesamtdosen entwickeln und sollte nicht als Therapieversagen fehlgedeutet werden. Zur Vermeidung sollte zwischen den Injektionen ein Abstand von mindestens zwei Monaten eingehalten werden.

Hilfe für spastische Kinder

Auch für Kinder mit spastischen Bewegungsstörungen ist Botulinumtoxin eine Bereicherung der therapeutischen Möglichkeiten. Dadurch kann eine Verbesserung motorischer Funktionen ebenso erreicht werden, wie eine Reduktion von Schmerzen. Besonders lohnenswerte Indikationen bei diesen Kindern sind der dynamische Spitzfuß und der Adduktorenspasmus. „Sicherlich ist das Botulinumtoxin bei spastisch gelähmten Kindern keine Wunderwaffe, aber ein wichtiges Instrument im Konzert der interdisziplinären Therapieoptimierung“, so Priv.-Doz. Dr. Florian Heinen von der Klinik für Kinderheilkunde in Duisburg.

Dr. med. Peter StiefelhagenChefarzt der Abt. KardiologieKreiskrankenhaus HachenburgAlte Frankfurter Str. 1257627 Hachenburg

Quelle: 27. Interdisziplinäres Forum der Bundesärztekammer, Köln, 9. – 11. 1. 2003.

Der Beitrag erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags als Nachdruck aus der MMW-Fortschr. Med. 5 Nr. 14 / 2003 (145. Jg.) 

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