Leistungsausgrenzungen bei Zahnersatz

Viel Spielraum für den Gesetzgeber

Die aktuellen sozialpolitischen Diskussionen um ein „Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz“ (GMG) drehen sich unter anderem um mögliche Leistungsausgrenzungen, insbesondere auch hinsichtlich der Versorgung mit Zahnersatz. Hiergegen sind zwischenzeitlich vereinzelt verfassungsrechtliche Bedenken geäußert worden. Diese sind jedoch, jedenfalls auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes und des Bundesverfassungsgerichtes, nicht begründet.

Das zurzeit andauernde Gesetzgebungsverfahren auf der Grundlage eines Gesetzentwurfes für ein „Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz“ [BTDrucks. 15/1170 vom 16.06.03] wird von der Zahnärzteschaft unter anderem deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, weil sich hierin wiederum Bestimmungen zur Einführung eines Festzuschusssystems für Zahnersatzversorgungen finden. Ergänzend sind zwischenzeitlich politische Überlegungen laut geworden, die zahnärztliche Behandlung insgesamt beziehungsweise zumindest die Zahnersatzversorgung gänzlich aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auszugliedern und stattdessen eventuell eine Pflicht zur privaten Absicherung dieser Lebensrisiken einzuführen.

Vor diesem Hintergrund haben Äußerungen von Dr. Ulrich Wenner, Mitglied des Kassenarztsenats des Bundessozialgerichtes, auf einer Klausurtagung des Vorstandes der Bundeszahnärztekammer zu Verunsicherungen geführt, wonach der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers insofern verfassungsrechtlich stark eingeschränkt wäre und insbesondere die Ausgrenzung einer medizinisch notwendigen Leistung, die therapeutisch ohne Alternativen ist, auf frühzeitige verfassungsrechtliche Grenzen stoßen würde [zm 12/2003, S. 20]. Diese Auffassung ist von Dr. Wenner auch bereits an anderer Stelle vertreten und näher dargelegt worden [GesR 03, 129]. Danach rechtfertige sich die solidarisch finanzierte Pflichtversicherung aus der Erwägung, dass der Einzelne vor Risiken geschützt werden müsse, die ihn wirtschaftlich überfordern und denen er nicht durch eigenes Verhalten entgehen könne. Diese Rechtfertigung fehle, wenn die GKV eine wirksame Absicherung gegen die Kosten behandlungsbedürftiger Erkrankungen nicht mehr gewährleiste. Die Fähigkeit, feste Nahrung aufnehmen und zerkleinern zu können, sei jedenfalls in unserem Kulturkreis eine elementare Kompetenz. Diese einem Menschen vorzuenthalten, obwohl mit Hilfe eines erprobten Verfahrens Abhilfe geschaffen werden könne, dürfte danach kaum begründet werden können. Dr. Wenner kommt auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis, dass unter anderem die Einschränkung des Leistungsanspruches für zahnprothetische Versorgungen auf Versicherte, die vor dem 01.01.1979 geboren wurden, durch § 30 SGB V idF des Beitragssatzentlastungsgesetzes vom 01.11.1996 und der Leistungsausschluss von Implantatversorgungen, jedenfalls in Fällen, in denen wegen Kieferatrophie eine prothetische Versorgung ohne Implantate technisch nicht mehr möglich ist, verfassungswidrig waren beziehungsweise sind.

Dies folgt für ihn hinsichtlich der Ausgliederung von Zahnersatzversorgungen auch aus einem Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot des Artikels 3 Abs. 1 GG, da zum einen die Annahme des Gesetzgebers, Zahnersatz sei für die jüngeren Versicherten vermeidbar, unzutreffend sei und diese zudem dazu gezwungen wären, möglicherweise über ihr gesamtes Berufsleben hinweg auch die Kosten des Zahnersatzes für ältere Versicherte zu tragen, obwohl sie selbst keinen entsprechenden Leistungsanspruch erwerben würden.

Grenzen der Berufsfreiheit

Diese Bewertungen stehen allerdings nicht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Bundesverfassungsgerichts. Nicht ohne Grund werden daher auch verschiedene Entscheidungen dieser Gerichte in dem genannten Artikel als im Ergebnis unzutreffend, zumindest aber als missverständlich bewertet.

Tatsächlich ist verfassungsrechtlich seit langem anerkannt, dass weder eine Garantie eines bestimmten Sozialversicherungssystems noch ein Anspruch auf bestimmte Leistungsrechte besteht, die über die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein hinausgehen [zum Beispiel BVerfGE 70, 278; 82, 60; 82, 364; BSGE 54, 206, BSG, SGb 84, 430; NJW 87, 463]. Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Kassenarztsenat des BSG haben in den vergangenen Jahren in ständiger Rechtsprechung wiederholt hervorgehoben, dass insbesondere der Gesichtspunkt der finanziellen Stabilität der GKV ein so schwerwiegendes Gemeinschaftsgut darstellt, dass mit dessen Schutz auch weitgehende Grundrechtseinschränkungen gerechtfertigt werden können. Dies ist auch und gerade der Vertragszahnärzteschaft in einer ganzen Reihe von Entscheidungen immer wieder deutlich gemacht worden. So zum Beispiel bei den Entscheidungen zur Zulässigkeit von Punktwertabsenkungen gemäß § 85 Abs. 2 b SGB V [BSGE 78, 185], zum degressiven Punktwert [BSGE 80, 223] oder zu Maßnahmen zur Zulassungsbegrenzung [BVerfG, MedR 01, 639]. Insbesondere besteht danach kein Anspruch auf eine angemessene Vergütung der einzelnen vertragszahnärztlichen Leistungen [BSGE 68, 291; 75, 187] und dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität gemäß § 71 Abs. 1 SGB V kommt Vorrang gegenüber allen übrigen Vergütungskriterien zu [BSG, SGb 01, 679].

Ungeachtet der Tatsache, dass zumindest von einer größeren Zahl von Zahnärzten das gegenwärtige System der vertragszahnärztlichen Versorgung eher als eine Belastung erlebt wird, wird insofern weiterhin von dem Axiom ausgegangen, dieses System biete für die Leistungserbringer so wesentliche Vorteile, dass hierdurch auch erhebliche und dauerhafte Absenkungen der Einnahmenüberschüsse jedenfalls so lange zu rechtfertigen seien, als die insgesamt durchschnittlich zu erzielenden Einkünfte aus der Teilnahme an dem sozialen Sicherungssystem noch einen hinreichenden Anlass dazu bieten, dass sich Leistungserbringer in einer Zahl an diesem System beteiligen, die eine Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung der Versichertengemeinschaft ermöglicht [BSGE 68, 291; 75, 187].

Aktuelles zur Pflegeversicherung

Der grundsätzliche Ansatz dieser Rechtsprechung kann dann aber nicht auf die Beurteilung von Belastungen der Leistungserbringer beschränkt, sondern muss ebenso der verfassungsrechtlichen Prüfung eventueller Reduzierungen der Leistungsansprüche der Versicherten zu Grunde gelegt werden. Dies gilt auch und insbesondere bei der Beurteilung der Fragestellung, ob Leistungseinschränkungen, die notwendigerweise einzelne Gruppen der Bevölkerung unterschiedlich betreffen, einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz darstellen. Hierzu haben mehrere jüngere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Bereich der sozialen Pflegeversicherung verdeutlicht, dass nicht jede Ungleichbehandlung zugleich auch einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz darstellt. Danach ist es unter anderem verfassungsrechtlich zulässig, dass eine ungleiche Entlastung der Arbeitgeber und der abgabepflichtigen Unternehmer erfolgt, da es dem wirtschafts- und sozialpolitischen Ermessen des Gesetzgebers obliegt, wenn er im Bereich der freiberuflichen Tätigkeiten Gefahren für die Auftragssituation selbständiger Künstler vergleichbar denjenigen infolge eines Anstiegs der Lohnzusatzkosten nicht annimmt und daher auf eine entsprechende Kompensation verzichtet [Kammerbeschluss vom 12.12.2002, 1 BvR 2700/95]. Zudem ist danach die soziale Pflegeversicherung verfassungsrechtlich zulässig als Teilabsicherung ausgestaltet worden. Dann obliegt es aber dem Gesetzgeber, selbst festzulegen, was zu leisten ist und was nicht. Ihm steht dabei ein besonders großer Gestaltungsspielraum offen. Allein die gesetzgeberische Zielrichtung einer möglichst klaren und schnellen Anwendung des Leistungsrechtes sowie einer dauerhaften Begrenzung der Beitragssätze kann daher eine strenge Verrichtungsbezogenheit des Leistungsrechtes und eine daraus resultierende Ungleichbehandlung geistiger Behinderungen rechtfertigen [Kammerbeschluss vom 22.05.2003, 1 BvR 1077/00].

Bewertungen in der Literatur

Wie weit der Gestaltungsspielraum des Sozialgesetzgebers vom Bundesverfassungsgericht tatsächlich gezogen wird ist auch in verschiedenen Beiträgen von Renate Jaeger, Richterin am Bundesverfassungsgericht, verdeutlicht worden [„Welches System der gesetzlichen Krankenversicherung wird durch das Grundgesetz geschützt?“, in Empter, Sodan (Hrsg.): „Markt und Regulierung“, 2003, 15; NZS 03, 225]. Danach rechtfertigt die legitime gesetzgeberische Zielsetzung einer Gewährleistung der sozialen Sicherheit durch einen Krankenversicherungsschutz zu bezahlbaren Konditionen vielfältige Einschränkungen auch auf Seiten der Versicherten, eine Enttäuschung von Vertrauen, die Reduzierung von Leistungen sowie Einschränkungen der Berufsausübungs- oder Berufswahlfreiheit [im Ergebnis ebenso zum Beispiel Hänlein, SGb 03, 301]. Sie kommt dabei insgesamt zu dem Schluss, dass das Bundesverfassungsgericht eher selten einzelne Maßnahmen der Kostendämpfung im Gesundheitswesen isoliert verfassungsrechtlich bewerten und aufgrund der Maßstäbe des Gleichheitssatzes, der Berufsfreiheit oder der allgemeinen Handlungsfreiheit verfassungsrechtlich verwerfen werde. Im Zweifel seien die Handlungsspielräume des Gesetzgebers – an der Verfassung gemessen – sehr weit, an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gemessen, jedoch sehr eng.

Damit wird erneut hervorgehoben, dass der Gesetzgeber gerade bei der Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme notwendigerweise auf veränderte Rahmenbedingungen, zurzeit beispielsweise auf die nur noch geringfügig steigenden Einnahmen der GKV und die zukünftig voraussichtlich weiter steigenden Ausgaben infolge des medizinischen Fortschrittes und der demographischen Verschiebungen, reagieren muss und darf. Man mag daher durchaus die Auffassung vertreten, in unserem Kulturkreis müsste jegliche Erkrankung und Einschränkung beseitigt werden, sofern hierfür geeignete Mittel zur Verfügung stünden, und dies müsse solidarisch finanziert werden, um eine wirtschaftliche Überforderung des Einzelnen zu verhindern. Eine derartige, sozialpolitisch sicher wünschenswerte Zielvorstellung muss jedoch dann an ihre Grenzen stoßen, wenn infolge veränderter Rahmenbedingungen die vorhandenen finanziellen Ressourcen zur Gewährung eines derartig umfassenden Leistungsrahmens nicht mehr ausreichen.

Bei Leistungserbringern und -empfängern sind gleiche Beurteilungskriterien anzuwenden.

Wenn der Gesetzgeber in einer solchen Situation nach einer langjährigen Kostendämpfungspolitik zu Lasten der Leistungserbringer zu der Bewertung gelangt, dass infolge einer dennoch eintretenden Verschärfung der Finanzprobleme auch Belastungen der Leistungsempfänger unausweichlich sind, steht dem keine verfassungsrechtliche Garantie des einmal entwickelten und in den letzten Jahren ständig ausgeweiteten Leistungskatalogs entgegen. Gerade der Kassenarztsenat des BSG hat in ständiger Rechtsprechung sowohl unter den Gesichtspunkten der Berufsfreiheit als auch des allgemeinen Gleichheitssatzes den weiten Gestaltungsspielraum des Sozialgesetzgebers gegenüber den Leistungserbringern im Bereich der sozialen Sicherungssysteme hervorgehoben. Gerade unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung kann bei eventuellen zukünftigen Regelungen gegenüber den Leistungsempfängern nichts anderes gelten.

Dr. Thomas MuschallikUniversitätsstr. 7350931 Köln

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