Experten diskutieren auf 10. Tübinger Forum

Weiterwursteln auf hohem Niveau

Gesundheitspolitik pur: 22 Referenten aus Deutschland und der Schweiz lieferten auf dem Strategie-Workshop des 10. Tübinger Forums in Ulm (11. bis 12. April) ein Spitzen-Treffen zur aktuellen Lage im deutschen Gesundheitswesen. Bemerkenswert: So unterschiedlich die von den Beteiligten aus Krankenkassen, Zahnärzteschaft, Hochschulen und Politik vorgetragenen Ansätze zur Lösung der nationalen Misere auch waren, fast alle Beteiligten plädierten – mehr oder minder – für den Abbau von Regulierung und Bürokratie, forderten mehr Eigenverantwortung der Bürger und mehr Wettbewerb.

Franz Knieps, bisher politstrategisches Aushängeschild des AOK-Bundesverbandes, vor kurzem von Ulla Schmidt als Leiter der Abteilung 2 ins Bundesgesundheitsministerium geholt, hatte es vor dem Tübinger Forum nicht leicht: Als Antipode wurde er mit seiner Auffassung, es gebe keinen überbordenden bürokratischen Apparat, im Gesundheitswesen Deutschlands werde ein Mercedes bezahlt, aber ein Golf geliefert, und die Präventionserfolge der Zahnärzteschaft seien nur auf Anregung seitens der Kassen zustande gekommen, von fast allen Seiten stark kritisiert. Daran änderte auch die Wiederholung der wesentlichen Reformvorschläge des neuen Gesundheitsmodernisierungsgesetzes wenig.

Auch die Ausführungen des Vorsitzenden im Bundestagsausschuss für Gesundheit, Klaus Kirschner (SPD), zeigten keine Ansätze, dass in der Regierungspartei SPD Lernprozesse in Gang gebracht wurden: „Den großen Wurf wird es nicht geben“, verdeutlichte der seit Jahrzehnten für seine klassisch sozial-ideologisch bestimmte Denkweise bekannte Politiker seine Erwartungen zur gegenwärtig angestrebten Gesundheitsreform. Die Begründung für seine Einschätzung verbreiterte erneut die Gräben zwischen Regierungslager und Reformwilligen: „Die Lobbyisten sind stark genug, um den großen Wurf zu verhindern.“ Und: „Es ist falsch, medizinische Leistungen auszugliedern,“ urteilte der SPD-Abgeordnete in wenig überraschender Manier.

Keine Chance für Lauterbach

Eher vorstellbar war dagegen für die Teilnehmer des von den KZVen Tübingen und Sachsen veranstalteten Workshops das, was CDU-MdB und gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Annette Widmann-Mauz an Einschätzungen zur Lage bot. „Nur mit Kostendämpfungspolitik“, wie die Bundesregierung sie derzeit praktiziere, sei die dramatische Lage im Gesundheitswesen nicht mehr zu bewältigen: „Wir müssen uns darüber unterhalten, was sinnvoll in der GKV an Leistungen ist und was nicht.“

Die Herausnahme von Zahnersatz und Zahnbehandlung könne dann gelingen, wenn mit der Zahnärzteschaft der Kompromiss getroffen werde, dass nach Herausnahme aus der GKV nicht grundsätzlich nach 2,3fachem GOZ-Satz abgerechnet wird. „Daran muss gearbeitet werden,“ so die CDU-Abgeordnete. Für einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition gebe es hingegen keine Chance, „wenn sich die Lauterbachschen Vorstellungen in den Gesetzesentwürfen niederschlagen“.

Mut zu einer echten Reform forderte KZBVVorstandsmitglied und 2. Vorsitzender der KZV-Sachsen, Dr. Holger Weißig. Unter der Voraussetzung, dass die gesamte Bevölkerung am medizinischen Fortschritt teilhaben solle, Über-, Unter- und Fehlversorgung zu verhindern, Arbeitsplätze zu schaffen und Wettbewerbsstrukturen aufzubauen sind, sei das von den Zahnärzten in die Diskussion eingebrachte Modell befundorientierter Festzuschüsse in Kombination mit Kostenerstattung der richtige Weg. Weißig verdeutlichte anhand von durchgerechneten Einzelbeispielen, dass schon heute die Maßgaben des Festzuschussmodells orientiert an den durchschnittlichen GKV-Ausgaben und den anzusetzenden Gesamtkosten durchaus ohne Schwierigkeiten angesetzt werden können. Nach diesem Prinzip lasse sich die gesamte Zahnheilkunde abbilden. Diese Systematik sei in die GKV oder auch die PKV implementierbar. Zudem könne, so Weißig in seinen Ausführungen, die Zuschusshöhe auch als steuerndes Element eingesetzt werden.

Die Mär vom Schweizer Paradies

Dass die von der Rürup-Kommission vorgeschlagene Variante eines Kopfprämienmodells keine gute Lösung zur Beendigung der Finanzprobleme in der GKV ist, stellte Ralf Kocher vom Bundesamt für Sozialversicherung in der Schweiz dar. Auch wenn dem Schweizer System der Bertelsmann Preis des Jahres 2000 zugesprochen wurde und es in Deutschland von vielen noch als ideales Versicherungssystem angesehen wird, ist die Alltagsrealität alles andere als unproblematisch: Gut ein Drittel der Schweizer Versicherten erhalte inzwischen eine Prämienverbilligung durch den Staat oder die zuständigen Kantone. 269 Schweizer Franken erfordere das Modell pro erwachsener Person im Monat durchschnittlich für gesundheitliche Leistungen. Hinzu komme pro Kopf und Jahr eine durchschnittliche Selbstbeteiligung von 330 Franken. Darin sind die Kosten für zahnärztliche Behandlung nicht einmal inbegriffen.

Die Realität des Schweizer Modells deutet an, warum eine Umsetzung der Rürup-Kopfprämie nicht den uneingeschränkten Widerhall in Expertenkreisen findet. Ganz einig sind sich darin die Krankenkassen. Sie wollen allenfalls den Wandel im System. Und dafür gehen ihnen Rürups Vorschläge zu weit. „Wersich von Steuerfinanzierung abhängig macht, sollte sich andere Länder betrachten“, mahnt AOK-Vorstandsvorsitzender Dr. Hans-Jürgen Ahrens. Sicher sei: „Der Bürger wird sich darauf einstellen müssen: Es wird sich Einschneidendes verändern.“ Aber ansonsten sieht Ahrens bei den meisten Vorschlägen aus Ökonomie, Recht, Wissenschaft und Politik weitestgehend nur Probleme. Reden müsse man, so der AOK-Chef, über die Verbreiterung der Finanzierungsbasis auf Einnahmenseite, bei Rentnern wie auch bei Miet- und Zinseinnahmen. Der Erfolg von Hausarztmodellen bedürfte einer Gegenrechnung, mahnt Ahrens auch diesen Vorschlag mit ausdrücklicher Skepsis. Unnötig sei auch – zurzeit – die Abschaffung der KVen und KZVen. Tenor: Keine radikale Umstellung, keine Abschaffung der Kollektivverträge, aber in Teilbereichen mehr Wettbewerb. Diese schleichende Aufweichung der Kollektivverträge durch inselartige Sonder- oder Einzelvertragsformen ohne die Not einer Übernahme des Sicherstellungsauftrages präferieren auch die anderen Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen. Es sei nicht sinnvoll, zuerst die KZVen aufzulösen, meinte Dr. Christopher Hermann, AOK-Vorstandsmitglied in Baden-Württemberg. Er plädierte für Wettbewerb auf Ebene der Krankenkassen, „die frei agieren können“, und forderte eine „neue Justierung des Systems“ statt einer Auslagerung aus dem gegenwärtigen System, das sich immer noch auf dem strategischen Niveau der 50er Jahre bewege.

Wenig Verständnis für die Betrachtung der GKV aus rein ökonomischer Warte zeigte VdAK/AEV-Vorstandsvorsitzender Herbert Rebscher: „Die GKV ist keine Versicherung im herkömmlichen Sinne wie die PKV, sondern eine Sozialversicherung.“ Insofern seien jegliche versicherungsmathematischen Ansätze für die Einordnung der Mitglieder bezüglich Alter oder Geschlecht nicht der richtige Ansatz. Rebscher redete damit eingefahrenen Prinzipien wie dem Risikostrukturausgleich das Wort. Insofern sei das politische Ziel einer Reduzierung des GKV-Beitragssatzes aus gesellschaftlicher Sicht „hoch problematisch“.

Ungeheures Versagen der Politik

Ganz anders die Betrachtung der Problemlage aus Sicht der Ökonomie-Experten: Professor Dr. Klaus-Dirk Henke, ehemals Vorsitzender des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, wehrte sich massiv gegen das „Weiterwursteln auf hohem Niveau“, plädierte eher dafür, das GKV-System zusammen mit dem Sozialgesetzbuch abzuschaffen, endlich die Versicherungsaufgaben und Umverteilungsaufgaben im Sozialbereich voneinander zu trennen und tatsächlich das Kopfprämienmodell umzusetzen. Das „Politikversagen“, so Henke, sei „ungeheuer viel größer als das Marktversagen“. Henke will die Privatisierung der Sozialversicherung und die Schaffung eines reinen Marktmodells.

Weitaus radikaler formulierten die Professores Hankel als Ökonom (Universität Frankfurt/ Main) und Schachtschneider als Jurist (Universität Erlangen-Nürnberg) ihre Thesen. Diese stammten nicht aus den „Reparaturwerkstätten des Krankenkassensozialismus“.

Hankel brandmarkte die seit zwölf Jahren passierenden Gesundheitsreformen als mit Etikettenschwindel betriebene Senkung der Lohnnebenkosten. Die von der Rürup-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen seien, so Hankel, „keine Einsparung, sondern die Verlagerung der Kosten auf den Patienten“. Das Vortrags-Duo Hankel/Schachtschneider plädierte für „direkte Verträge zwischen Ärzten und Patienten für echtes Geld“. Der Patient müsse seinerseits einen Vertrag mit der Krankenkasse seiner Wahl auf Basis von Kostenerstattung schließen. Zum Stichwort soziale Absicherung: Gerade ein marktwirtschaftliches System sei so sozial, wie der Gesetzgeber es machen wolle, heißt es lapidar seitens des Frankfurter Professoren Hankel.

Konkreter und eng an den bereits veröffentlichten Vorschlägen des Sachverständigenrates angelehnt, gestaltete Professor Dr. Eberhard Wille – er moderierte das Tübinger Forum – seinen Vortrag. Der derzeitige Vorsitzende des Sachverständigenrates machte deutlich, dass es hinreichende Gründe für eine umfassende und schnelle Reform gebe: „Der strukturelle Aspekt in der Problematik des Gesundheitswesens ist beängstigend und keine Frage eines konjunkturellenGleichgewichts.“ Grund für die rückgängigen Einnahmen seien die strukturellen Arbeitsmarktänderungen.

Auch Gastgeberin Dr. Ute Maier, KZBV-Vorstandsmitglied und Vorsitzende der KZV-Tübingens, stützte diese Forderung nach strukturellen Änderungen: „Langfristig muss es zur Ausgrenzung kommen, weil sonst das Ganze nicht mehr finanzierbar ist.“ Ihr Plädoyer: Mehr Platz für Eigenverantwortung im System.

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