Die neue EU-Verfassung

Von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft

Heftarchiv Gesellschaft
In Rom haben Ende Oktober die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) eine erste gemeinsame Verfassung für Europa unterzeichnet. Nun müssen die Mitgliedstaaten das Werk noch ratifizieren, damit es wie geplant Ende 2006, spätestens aber 2007 in Kraft treten kann. Sieht man sich den Text einmal genauer an, fällt auf, dass die Verfassung einen deutlichen Akzent auch auf die sozialstaatlichen Perspektive eines gemeinsamen Europas legt, bei dem eine europäische Gesundheitspolitik eine wesentliche Rolle spielen soll.

Beim Paradigmenwechsel von der reinen Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft bildet das Solidarprinzip das Schlüsselelement der europäischen Sozial- und Gesundheitspolitik. Am deutlichsten kommt dieser Anspruch in Artikel II-35 der Verfassung zu Ausdruck, der allen EU-Bürgern das Recht „auf Zugang zu Gesundheitsvorsorge und ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ zusichert. Der Gesundheitsschutz erhält somit Verfassungsrang. Gleichzeitig gewährleistet der Paragraf den Mitgliedstaaten weiterhin den Vorrang bei der Gestaltung der Gesundheitspolitik.

Daraus den Schluss zu ziehen, die EU wolle es allein ihren Mitgliedern überlassen, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, wäre allerdings voreilig. Vielmehr hat sich Brüssel gleich mehrere Hintertürchen für eine Einflussnahme im Sinne einer geteilten Zuständigkeit für „gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich des Gesundheitswesens” (Art. I-13) geöffnet.

So definiert vor allem Artikel III-179 das Gesundheitswesen als einen Bereich, in dem die Union ergänzende, koordinierende oder unterstützende Maßnahmen beschließen kann. Dies gilt zum einen für die Anwendung der offenen Methode der Koordinierung, die mit der Verfassung erstmals legitimiert wurde und die die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihre gesundheitspolitischen Strategien abzustimmen, um allen Unionsbürgern einen gleichwertig hohen Gesundheitsschutz, einen ungehinderten Zugang zur medizinischen Versorgung und die finanzielle Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme zu garantieren. In diesem Zusammenhang erhält die EU-Kommission das Recht, „alle Initiativen (zu) ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind“.

Hinzu kommt eine Ausweitung der Kompetenzen der Union bei der Rahmengesetzgebung, zum Beispiel zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor den Folgen des Tabakkonsums oder Alkoholmissbrauchs (Artikel III-179 Absatz V). „Im Ergebnis schält sich die europäische Gesundheitspolitik als verbindliche Rahmenorientierung der nationalen Gesundheitspolitiken in der Gemeinschaft heraus“, folgert Professor Rainer Pitschas von der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer.

Zugleich erhöht sich nach Ansicht des Diplom-Verwaltungswirts durch die Verfassung für die Gesundheitssysteme der von der Gemeinschaft ausgehende Zwang zur Marktöffnung: „Die Akzentverschiebung des Verfassungsentwurfs zu Gunsten persönlicher Freiheit stärkt auch die Eigenverantwortung der Unionsbürger für den gesundheitlichen Bereich, so dass hieraus wesentliche Marktchancen für den Wettbewerb im Gesundheitswesen entstehen können“, so Pitschas. Der EU-Experte geht davon aus, dass dies über kurz oder lang unter anderem zu einer Verschmelzung der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung zu einheitlichen Versicherungskonzernen führen wird, die sowohl eine obligatorische sozialstaatliche Mindestsicherung für alle Unionsbürger als auch eine darauf aufbauende wettbewerbliche Individualabsicherung von Zusatzleistungen anböten.

Petra SpielbergRue Colonel Van Gele 98B-1040 Brüssel

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