Leitartikel

Europa braucht Zeit

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

Europa steckt in einer seiner tiefsten Sinnkrisen – nach dem Nein der Franzosen und der Niederländer zur EU-Verfassung und nach dem Debakel des letzten Gipfeltreffens über die Finanzpolitik ist dies ganz offensichtlich. Die Ablehnung scheint mir symptomatisch für eine Grundhaltung der 15 alten EU-Staaten zu sein: Wären Volksentscheide überall vorgeschrieben, würde der weitaus überwiegende Teil der Bevölkerung mit Nein entscheiden. Zu tief sitzt das Misstrauen gegenüber Brüssel und vor allem viel zu schnell ist das Procedere des Beitritts der zehn neuen Länder erfolgt. Gerade wir Deutschen haben Erfahrung, wie lange ein Einigungsprozess dauert, und wieviel Geldtransfer notwendig ist, um einen Gleichstand herzustellen – das sind ein bis zwei Generationen.

Die Menschen in Europa können den rasanten Tempovorgaben aus Brüssel nicht mehr folgen. Hinzu kommt, dass die nationalen Regierungen es versäumt haben, ihre Bürger auf die Bedeutung und die Konsequenzen des Einigungsprozesses vorzubereiten und sie mit ins Boot zu nehmen. Was jetzt bleibt, ist ein großes Unbehagen, ein Nicht-Wissen und ein dumpfes Missgefühl. Doch vielleicht steckt in dem jetzigen Debakel auch eine Chance. Der Berliner Verfassungsrechtler Prof. Dr. Ingolf Pernice brachte dies auf dem Europatag der Bundeszahnärztekammer in Berlin (siehe Bericht Seite 72 ff) auf den Punkt. Seine These: Die Krise ist für den weiteren Einigungsprozess nützlich, ja schiebt diesen erst voran, denn nun wird endlich nachgeholt, was schon längst fällig war – es wird breit und öffentlich diskutiert.

In diese Diskussion haben wir Zahnärzte uns aktiv eingeklinkt und mit unserer Veranstaltung einen Baustein zum weiteren Meinungsprozess hinzugefügt. Was uns im Verbund mit den Freien Berufen und Heiberuflern europaweit unter den Nägeln brennt, ist der Entwurf der Diensleistungsrichtlinie. Auch hier hat die Kommission Rahmenspiele durchgeführt, die nicht vom Nominativ bis zum Ablativ durchdekliniert worden sind und deren Auswirkungen nicht durchdacht sind. Ich nenne hier vor allem die besonderen Belange der Heilberufler und ihrer Patienten. Wir haben in Deutschland genügend handwerklich schlecht gemachte Gesetze im Gesundheitswesen erlebt, die vom Bundesverfassungsgericht als Ersatzgesetzgeber interpretiert werden mussten. Deshalb brauchen wir nicht noch unklare Direktiven aus Brüssel. Unsere Hoffnung ist, dass auch in den europäischen Entscheidergremien fachliche und fundierte Argumente auf fruchtbaren Boden fallen. So haben wir zum Beispiel die vom Rat verabschiedete neue Richtlinie zur Anerkennung von Berufsqualifikationen begrüßt. Es wäre wünschenswert, wenn dieses Gesetzeswerk auch Vorbild für die neue Dienstleistungsrichtlinie sein könnte. Das betrifft Aspekte wie die Anwendung des Bestimmungslandprinzips oder die Rolle der freiberuflichen Selbstverwaltung. Es handelt sich um ganz sensible Bereiche, bei denen es ganz entscheidend um die Sicherheit der medizinischen Versorgung der Bevölkerung geht. Dabei ist die freiberufliche Selbstverwaltung als Garant professioneller Fachkompetenz unerlässlich.

In Brüssel sind im Dental Liaison Committee (DLC) als Dachverband 28 zahnärztliche Verbände aus 25 europäischen Ländern bereit, ihr Fachwissen zur Verfügung zu stellen und im Verbund mit den europäischen Heilberuflern und Freien Berufen ihren Sachverstand beratend einzubringen. Wir werden dies auch in Zukunft bei weiteren Gesetzgebungsverfahren tun.

Nichtsdestotrotz gilt mein Appell an die Entscheider in Brüssel: Geben Sie sich die Zeit, nehmen Sie sich die Zeit und geben Sie den Bürgern in Europa die Zeit, damit in Ruhe und mit Vernunft neue Gesetze entstehen. Wir dürfen nicht in Technokratien denken, sondern im Sinne unserer Bürger.

Wir Zahnärzte werden zu diesem Prozess unseren Beitrag leisten, nicht zuletzt mit Veranstaltungen wie dem Europatag.

Mit freundlichen kollegialen Grüßen

Prof. Dr. Wolfgang SprekelsVizepräsident der Bundeszahnärztekammer

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