Oral-B Symposium

Alterszahnmedizin ist mehr als Zahnmedizin für alte Menschen

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Im Alter ist der Mund trocken, die Zähne werden unansehnlich und spröde. Der Zahnhalteapparat bildet sich zurück und Wurzelkaries zerfrisst, was von der Zahnkrone noch übrig ist. Das kann es aber nicht sein. In einem großen Symposium, das von Oral-B ausgerichtet wurde, nahmen Zahnmediziner Stellung dazu, dass Alterszahnheilkunde noch mehr ist, als nur die Sanierung von Zähnen alter Menschen.

Mit dem Hintergrund dieser oben beschriebenen Situation und ohne Interesse an der Prävention und ohne die Möglichkeit, eine Zahnbürste manuell noch sinnvoll führen zu können, ist der alte Mensch dankbar, wenn seine letzten Wurzelreste endlich durch eine pflegeleichte Prothese ersetzt werden. Diese Beschreibung erscheint lächerlich und dennoch handelt es sich nur um eine Zusammenstellung von Meinungen, die auch die Zahnmedizin bis vor nicht allzu langer Zeit vertreten hat.

Je mehr Studien sich mit den tatsächlichen Veränderungen im Mund beschäftigen, desto deutlicher wird, dass viele unserer liebgewordenen Vorurteile über das Altern eigentlich nur die Auswirkungen nicht substanzschonender, nicht zahnerhaltender und nicht prophylaxeorientierter Behandlungskonzepte der Vergangenheit beschreiben. Wenn die moderne Zahnmedizin glaubwürdig bleiben will, muss sie ihre Prinzipien und Konzepte der demografischen Entwicklung anpassen. Wie dies geschehen kann, war Inhalt eines Vortrags auf dem 3. Oral-B Symposium „Mundgesundheit im Alter – Herausforderungen und Chancen“ im Mai 2006 in Frankfurt am Main. Die Kernaussagen des Beitrags werden im Folgenden noch einmal zusammengefasst.

Unsere Gesellschaft altert

Seit Anfang der 90er-Jahre leben in Deutschland mehr Menschen, die 60 Jahre und älter sind, als solche, die jünger als 20 sind. Diese Entwicklung hat bereits um 1970 begonnen – seit dieser Zeit wird die Reproduktionsrate unterschritten – und ist auch nicht bald vorbei – allein bis 2030 fehlen schon die Mütter für die benötigten Kinder. Mit diesem dauerhaften Wandel wächst für alle Disziplinen der Medizin die Notwendigkeit, sich auf die Bedürfnisse des alten Patienten einzustellen. Man kann es deutlicher sagen: Es wird immer weniger Ausdruck einer besonderen Arzt- oder Praxis-Ethik sein, sich intensiver mit älteren und pflegebedürftigen Menschen auseinanderzusetzen, sondern schlicht eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

Zahnverlust ist keine Alterserscheinung

Je mehr man über die physiologischen Altersveränderungen weiß, umso deutlicher wird, dass sich im Mund ähnlich wenig verändert wie in der übrigen Magen-Darm-Passage. Parodontaler Attachementverlust ist keine Folge des Alterns. Veränderungen der proliferativen Aktivität der Gingiva-Epithelzellen sind nicht sicher belegt. In der Pulpa verringert sich die Odontoblastendichte und dies könnte das reparative Potenzial der Pulpa reduzieren. Ein besserer Schutz wäre jedoch andererseits durch die Apposition von Dentin in den Dentintubuli und an der Pulpa-Dentingrenze denkbar, die ihrerseits natürlich auch Vitalität aus- drückt. Diese Dentinapposition verringert die Transparenz und lässt Zähne mit zunehmendem Alter gelber und dunkler erscheinen. Der Effekt ist soweit gesichert, dass er zur Altersbestimmung diskutiert wird. Die altersbedingte Dentinversteifung verändert die Elastizität eines Zahnes und könnte die Ursache für häufigere Schmelzrisse im Alter sein. Eine Versprödung durch Austrocknung ist für endodontisch behandelte Zähne klar widerlegt und dürfte auch im Alter keine Rolle spielen. Attrition und Abrasion sind Ausdruck intensiven Gebrauchs und nicht Folge des Alterns.

Im Alter bleibt die stimulierte Speichelsekretionsrate weitgehend unverändert. Eine verringerte Ruhesekretion der submandibulären und weiterer kleinerer Speicheldrüsen kann jedoch den Eindruck von Mundtrockenheit entstehen lassen. Hier kann Kauen (Karotte bis Kaugummi) und Lutschen von zuckerfreien Drops helfen. Zu geringe Flüssigkeitsaufnahme, wie sie im Alter nicht selten ist, reduziert natürlich auch die Speichelsekretion. Eine pharmakologische Wirkung auf die Speichelproduktion liegt oft an einer unbedachten und wenig koordinierten Verschreibungspraxis der allgemeinmedizinischen Disziplinen. Die Geriatrie muss hier zunehmend als übergeordnete Koordinierungskompetenz akzeptiert werden.

Eine von der EU geförderte wissenschaftliche Erhebung zur Nahrungsmittel-Auswahl (HealthSense-Projekt) konnte keine signifikante Veränderung der Geschmackswahrnehmung im Alter feststellen. Die Wahrnehmung 70-Jähriger verringert sich im Vergleich mit 30-Jährigen im Durchschnitt für „süß“ um 8,8 Prozent, für „salzig“ um 5,2 Prozent, für „bitter“ um 10,2 Prozent und für „sauer“ um 8,8 Prozent und liegt damit in der Variationsbreite innerhalb der Altersgruppen. Für das Schmecken ist auch die Geruchswahrnehmung wichtig, die jedoch lebenslang trainierbar bleibt.

Das fitte Alter

Das Modell einer „komprimierten Morbidität“ – gesunde Lebensführung und moderne Medizin verlängern die Spanne bis zur Pflegebedürftigkeit bei gleichzeitig verkürzter Spanne bis zum Tod – beginnt sich zu verändern. Zwar sind Menschen heute noch in höherem Alter „fit“, doch steigt die Lebenserwartung, wobei dann demenzielle Erkrankungen eine immer größere Rolle spielen. Der Anteil demenzieller Erkrankungen steigt von weniger als 2 Prozent mit 65 Jahren auf mehr als 35 Prozent, bei Einbeziehung auch leichter Demenzen auf bis zu 60 Prozent der über 90-Jährigen. Aber auch das fitte Alter ist durch einen weiten Bogen verschiedener Einschränkungen charakterisiert. Sehr häufig sind verminderte Sinnesfunktionen (Sehen, Hören) und Bewegungseinschränkungen. Hier wird es für die Zahnarztpraxis zunehmend wichtig, sich baulich aber auch konzeptionell anzupassen. Barrierefreiheit, ausreichender Platz, Sitzgelegenheiten und gute Beleuchtung sollten die Planung bei Renovierung und Neueinrichtung bestimmen.

In der Prävention müssen ältere Menschen aktiver und direkter angesprochen werden. Allein auf einen „Spin-Off“ aus der Jugend-Prävention zu vertrauen, ist nicht der richtige Weg. Handeln muss auch die Industrie. Prophylaxe trägt in der Werbung junge Gesichter, Haftcreme und Prothesenreiniger alte, Zahnpastatuben haben Frische-Siegel, die alte Hände nicht öffnen, und Aufdrucke, die alte Augen nicht lesen können. Die Prävention wird immer wichtiger, denn IP in der Jugend und danach „drill and fill“ kann nicht die Lebensspanne abdecken, die wir heute brauchen. Die Zahnmedizin und die Industrie müssen der Generation 60+ viel klarer sagen, dass strukturerhaltende Prävention weder „primär“ noch „tertiär“ noch jung oder alt, sondern immer sinnvoll und wirksam ist.

Präventionskonzepte

Die verbreitete Assoziation von Jugend mit Aufbau und Alter mit Abbau hindert uns oft daran, den Sinn „vor“beugender Konzepte für das Alter zu akzeptieren. Schon nach der DMS III-Studie hatten 75 Prozent der 65-Jährigen durchschnittlich noch die Hälfte ihrer natürlichen Zähne. Setzt man dies in Relation zur Lebenserwartung (Männer 79,9 Jahre, Frauen 84,7 Jahre), steht außer Frage, dass sich ein besonderes Engagement der Zahnmedizin lohnt.

Die Umsetzung von Präventionskonzepten scheitert in der Praxis nicht an inhaltlichen Aspekten, auch altersgerechte Hilfsmittel für die häusliche Reinigung gibt es genug, was jedoch vielen nicht gelingt, ist, sich in die Situation des älteren Menschen hineinzuversetzen. Die Jugend hat den Vorteil, dass wir sie erlebt haben und uns zumindest teilweise daran erinnern können. Die Sichtweisen und Einschränkungen des Alters dagegen kennen nur die genau, die sie nicht mehr in das aktive Berufsleben einbringen können. Hier muss die Aus- und Weiterbildung Defizite viel intensiver als bisher ausgleichen. Möglicherweise ist es auch sinnvoll, in der Altenprophylaxe ältere Mitarbeiter einzusetzen. Erste Ergebnisse einer Münchner Studie zeigen, dass eine Präventionsberatung auf „Alters-Augenhöhe“ glaubwürdiger erscheinen und nachhaltiger wirken kann.

Prüfstein Pflege

Oft bestehen in der Bevölkerung, unter den Pflegenden und sogar bei Zahnärzten noch falsche Vorstellungen über die Bedeutung der Mundgesundheit in der Pflege. Munderkrankungen laufen im Alter nicht anders und schon gar nicht langsamer ab. In der Demenz ändert sich nicht die Schmerzwahrnehmung, sondern die Möglichkeiten darauf hinzuweisen. Demenzielle Erkrankungen sind heute häufige Ursache für eine Pflegebedürftigkeit, ohne jedoch die Lebenserwartung deutlich zu verkürzen. Damit bleibt nicht einmal der Trost, dass die letzte Lebensphase besonders kurz wäre.

In theoretischen Überlegungen wird gerne die Umstellung auf „pflegeleichten“ Zahnersatz in Vorbereitung auf eine Pflegebedürftigkeit gefordert. Das Bild hat zwei entscheidende Risse. Kann Zahnersatz wirklich pflegeleicht sein, und wann ist der Zeitpunkt für die Umstellung? Die bakterielle Besiedlung unzureichend gepflegter Prothesen hat gleichermaßen Einfluss auf das Risiko von zum Beispiel Lungenerkrankungen, und ohne zahnmedizinische Betreuung treten Verletzungen der Mundschleimhaut wesentlich häufiger auf. Wird die Umstellung im fitten Alter geplant, trifft der Zahnarzt auf einen anspruchsvollen Patienten, der gar nicht selten auch über das notwendige Geld verfügt. Darf man diesem Patienten eine in Funktion und Ästhetik hochwertige Versorgung verweigern? Wird der Ersatz dagegen geplant, wenn sich eine Pflegebedürftigkeit abzeichnet, ist die Adaptationsfähigkeit meist schon zu gering, und die Folgen der besonderen psychischen Belastung durch eine Umstellung unkalkulierbar. Wenn man also feststellen muss, dass es den richtigen Zeitpunkt nicht gibt, dann bleibt „nur“, die Patienten in jedem Alter orientiert an ihren Wünschen zu versorgen. Dazu gehört dann aber auch die optimale zahnmedizinische Betreuung in der Pflege.

Zahnmedizin in der Pflege

Die Zahnmedizin hat in der Pflege keine anderen Aufgaben als bei selbstbestimmt lebenden Menschen – Prävention und Restauration –, sie wird nur lernen müssen, diese Leistungen anders zu erbringen. Es gibt heute schon einige Kollegen in Deutschland, die mobil arbeiten und dabei weder wesentliche konzeptionelle noch wirtschaftliche Einschränkungen im Vergleich zur ortsfesten Praxis beklagen. Natürlich ist es dennoch besonders wichtig, dass der deutlich höhere Aufwand auch eine entsprechende Entlohnung findet. Die KZV in Bayern hat hier zum Beispiel schon einen ersten Schritt zu einer Erhöhung des Punktwertes für Menschen mit Pflegestufe durchsetzen können. Gerne trifft mobil arbeitende Kollegen das Vorurteil, in die Vergangenheit „fahrender Zahnbrecher“ abzutauchen. Diese Vorstellung geht natürlich an der Wirklichkeit völlig vorbei. Spezialisiertes, nicht zuletzt auch allgemeinmedizinisches Wissen und eine optimale technische Ausstattung bieten erst die Voraussetzungen für „special care dentistry“. Nicht alle Kollegen werden gebraucht, aber schon heute kommen rechnerisch auf jeden Zahnarzt in Deutschland 32 ältere Patienten mit Pflegestufe.

Wie die möglichst nahe Zukunft aussehen sollte, zeigt das in Zusammenarbeit zwischen der Bayerischen Landeszahnärztekammer, der AOK-Bayern und der Gruppe „Teamwerk – Zahnmedizin für Menschen mit Behinderungen“ umgesetzte „Duale Konzept“:

1.Das Modul „Prävention“ organisiert und standardisiert die Schulung der Pflegekräfte zur besseren Durchführung der täglichen Mundhygiene. Im Rahmen eines AOK-Modellprojekts wird darüber hinaus AOK-Versicherten in Münchner Pflegeeinrichtungen kostenlos eine regelmäßige Prophylaxebetreuung am Wohnort geboten.

2.Das Modul „Therapie“ baut auf dezentral tätige „Patenzahnärzte“ und für komplexere Aufgaben auf Kompetenzzentren mit besonderer zahnmedizinischer und allgemeinmedizinischer Spezialisierung.

Teamwerk und die AOK-Bayern wurden für diese Arbeit 2005 unter anderem mit dem Deutschen Präventionspreis ausgezeichnet.

Je mehr deutlich wird, dass der alte Mensch in keine einfache Schublade passt, umso wichtiger wird eine Kompetenz, die den Kenntnisstand der zahnmedizinischen und allgemeinmedizinischen Fachdisziplinen koordiniert, wissenschaftlich begleitet und für die Ausund Fortbildung aufbereitet. Den Universitäten kommt neben der Forschung die Aufgabe zu, ihre Lehrangebote zu erweitern. Ein frisch approbierter Kollege darf heute nicht mehr hilflos neben einem Demenzkranken stehen und nicht einmal wissen, wie er ihn dazu bringen kann, den Mund zu öffnen.

Fortbildungsveranstaltungen und Curricula, wie sie schon von den Landeszahnärztekammern in Bayern, Westfalen-Lippe und Baden-Württemberg sowie von der APW angeboten werden, bringen die Alterszahnmedizin in die Praxis. Und das Interesse der Kolleginnen und Kollegen wächst, wie auch die gut gefüllten Sitzreihen in der Frankfurter Alten Oper anlässlich dieses Symposiums bewiesen. Denn eines steht fest: Eine moderne Zahnmedizin braucht die Alterszahnmedizin ebenso dringend, wie die Allgemeinmedizin die Geriatrie.

Professor Dr. Christoph BenzKlinik für Zahn, Mund- und KieferkrankheitenKlinik und Poliklinik für Zahnerhaltung undParodontologieGoethestraße 7080336 München

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