Fortbildungsteil 2/2006

Balintgruppenarbeit

Jahrgang 1966. Medizinstudium 1987 bis 1993 in Göttingen, Berlin und Jerusalem, Promotion 1994, AiP in Münster, 1995 bis 2004 Tätigkeit an der Univ.-Klinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie in Innsbruck. 2002 Habilitation in den Fächern Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie. Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Seit 2004 Professur für Psychosomatik in der Zahnheilkunde am Universitätsklinikum Münster

Täglich tauchen in der zahnärztlichen Praxis Probleme auf, die allein mit zahnmedizinischen Mitteln nicht zu lösen sind: eine Patientin schildert Beschwerden, die organisch nicht zu erklären und daher zahnmedizinisch nicht zu behandeln sind, mit einem anderen Patienten kommt es zu unangenehmen Auseinandersetzungen über den Preis des neuen Zahnersatzes und ein dritter erscheint wiederholt nicht zum vereinbarten Termin in der Praxis. Alle diese Probleme betreffen die Beziehungsebene zwischen Zahnarzt und Patient und können die Behandlung erheblich stören: der Patient fühlt sich unverstanden, übervorteilt oder ist verängstigt, der Zahnarzt wird ungeduldig, hilflos oder ärgerlich. Im Umgang mit derartigen Schwierigkeiten ist der Zahnarzt meist unvorbereitet und auf sich allein gestellt, weil er in seinem Zahnmedizinstudium nichts Entsprechendes gelernt hat, da weder zahnärztliche Gesprächsführung noch Psychosomatik in der Approbationsordnung für Zahnärzte enthalten sind. In dieser Situation ist die Balintgruppe ein geeignetes Mittel, die Probleme auf der Beziehungsebene zwischen Zahnarzt und Patient zu reflektieren, zu verstehen und zu lösen.

Problemlösung im Gruppengespräch

Der ungarische Arzt Michael Balint (1896 - 1970) war ein Schüler Freuds und hat sich als erster intensiv damit beschäftigt, wie psychotherapeutisches Denken und Handeln sinnvoll in die tägliche ärztliche Praxis integriert werden können. Er entwickelte Mitte des letzten Jahrhunderts die heute sogenannten Balintgruppen, die er erstmals in seinem Buch „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“ beschrieb, das 1957 in englischer und 1962 in deutscher Sprache erschien. Eine Balintgruppe besteht aus acht bis zwölf (Zahn-)Ärzten und einem Balintgruppenleiter, der Psychotherapeut ist und über entsprechende Erfahrung in der Balintgruppen- Arbeit verfügt. Üblicherweise werden Balintgruppen fortlaufend mit ein oder zwei Doppelstunden à 90 Minuten in 14-tägigem oder monatlichem Rhythmus angeboten, es gibt aber auch einmalige oder in größeren Abständen wiederholte Blockveranstaltungen. Die Balintgruppenarbeit läuft nach einem Grundschema ab, wobei zunächst einer der Gruppenteilnehmer von einem Patienten berichtet, den er als „schwierig“ erlebt und mit dem sich auf der Beziehungsebene Probleme abzeichnen oder bereits bestehen. Dieser Schilderung hören die anderen Gruppenmitglieder erst einmal nur zu, bevor sie Sachfragen nach fehlenden Informationen stellen. In dieser

Fragerunde wird noch nicht die Beziehungsebene analysiert, dies geschieht erst im nächsten Abschnitt: Nach Klärung der Sachfragen wird der vorstellende Arzt „aus der Runde entlassen“, er darf sich auf seinem Stuhl zurücklehnen und dem Gespräch der anderen Gruppenmitglieder zuhören, ohne dass er direkt angesprochen wird oder sich in das Gespräch einschalten soll. Die anderen Teilnehmer berichten nun frei ihre Einfälle, Assoziationen, Empfindungen und Überlegungen zum gehörten Bericht. Dabei geht es noch nicht um Lösungsvorschläge, sondern um das vertiefte Verstehen des Beziehungsgeschehens. In dieser Phase der Balintgruppenarbeit geschieht regelmäßig etwas Faszinierendes: Während der vorstellende Arzt dazu neigt, sich wie sein Patient zu verhalten und zu fühlen, erleben sich die anderen Gruppenmitglieder in einer Art Identifikation mit dem Arzt. Balint nannte dies den „parallelen Prozess“: Die Arzt-Patient-Beziehung bildet sich in der Balintgruppe mit „vertauschten Rollen“ ab. Die Kunst des Balintgruppenleiters, in der er von den erfahreneren Teilnehmern unterstützt wird, liegt nun darin, aus den eingebrachten Gedanken und Gefühlen aller Gruppenteilnehmer die Beziehung des vorstellenden Arztes zu seinem Patienten zu rekonstruieren und einem vertieften Verständnis zuzuführen. Gelingt dieser Prozess, so kann sich der vorstellende Arzt in den Reaktionen der anderen Gruppenteilnehmer wiederfinden und hilfreiche Anregungen zu alternativen Perspektiven und Verhaltensweisen gewinnen. Im abschließenden Abschnitt der Balintarbeit wird der betreffende Arzt wieder „in die Runde genommen“ und darf seine Reaktion auf die Äußerungen der anderen einbringen. In einer gemeinsamen Diskussion werden dann Möglichkeiten der Umsetzung des Verstandenen im Sinne einer verbesserten Beziehungsgestaltung erschlossen. Erstaunlicherweise wirkt das Verstehen oft auch ohne Direktiven und gute Ratschläge von selbst, so dass nicht selten in der folgenden Sitzung von einer „wundersamen Wandlung“ des Patienten berichtet wird, zu der der Arzt nichts Konkretes beigetragen habe. Balintarbeit berührt immer auch die Persönlichkeit des Arztes, der von seiner Beziehung zum Patienten – und damit auch von sich selbst – berichtet. Ein gewisses Maß des Sich-öffnens in der Gruppe ist eine Voraussetzung für die gelingende Arbeit, allerdings besteht eine klar gezogene Grenze zur Selbsterfahrung beziehungsweise Psychotherapie: die Persönlichkeit des vorstellenden Arztes ist nur im unmittelbaren Hinblick auf die geschilderte Arzt-Patient-Beziehung von Interesse, darüber hinausgehende Probleme oder Konflikte sind nicht das Thema in der Balintgruppe. Für diesen Schutz der Teilnehmer sorgt – wenn nötig – der Balintgruppenleiter.

Ausbildung ist Voraussetzung

Die Balintgruppenarbeit stellt gut 50 Jahre nach ihrer Einführung ein „weltweites Erfolgsmodell“ dar. In vielen Ländern gibt es Balint-Gesellschaften, die in einer Internationalen Balint-Gesellschaft (IBF) zusammengefasst sind. Weitere Informationen finden sich auf der Website der Deutschen Balint-Gesellschaft e.V. (DBG): www.balintgesellschaft. de. In Deutschland ist die Teilnahme an einer Balintgruppe Voraussetzung für die Aufnahme in die psychosomatische Grundversorgung und zur Erlangung der Zusatzbezeichnung „Psychotherapie – fachgebunden“. Flächendeckend werden Balintgruppen angeboten und von Ärzten – mehr und mehr aber auch von Angehörigen anderer Berufsgruppen – genutzt. Auch das Curriculum „Psychosomatische Grundkompetenz“ der Akademie Praxis und Wissenschaft (APW) der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) enthält eine Balintgruppenarbeit. Leider ist es Zahnärzten in Deutschland bislang nicht gestattet, Leistungen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung oder psychotherapeutische Leistungen zu erbringen und mit der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZV) abzurechnen. Dies wird sich in Zukunft hoffentlich ändern – bis dahin bleibt die Teilnahme an entsprechenden Fortbildungsveranstaltungen und Balintgruppen für den Zahnarzt eine Investition, die sich „nur“ in einer wachsenden psychosozialen Kompetenz, einer verbesserten Zahnarzt-Patient-Beziehung, einer erfolgreicheren zahnmedizinischen Tätigkeit und letztlich einer größeren Zufriedenheit am Arbeitsplatz bezahlt macht. Viele Ärzte und Zahnärzte schätzen darüber hinaus das regelmäßige Zusammentreffen und intensive Arbeiten mit ebenfalls offenen und interessierten Kollegen der eigenen aber auch anderer Fachrichtungen.

Wer sich für die Teilnahme an einer Balintgruppe interessiert, wird auf ein breites Angebot treffen. Bei der Auswahl der „richtigen Gruppe“ wird es natürlich zu Recht erst einmal um Sympathie sowie um zeitliche und örtliche Parameter gehen; es sei aber darauf hingewiesen, dass die Ärztekammern Weiterbildungsbefugnisse an erfahrene Balintgruppenleiter erteilen. Die Wahl eines Weiterbildungsbefugten Balintgruppenleiters garantiert zum einen dessen fachliche Qualifikation, zum anderen stellt sie sicher, dass die Gruppe in dem Fall, dass die psychosomatische Grundversorgung einmal auch für Zahnärzte geöffnet werden sollte, als Weiterbildungsbestandteil anerkannt wird.

Univ.-Prof. Dr. med. Stephan DoeringBereich Psychosomatik in der ZahnheilkundePoliklinik für Zahnärztliche ProthetikUniversitätsklinikum MünsterWaldeyerstraße 3048149 Münsterstephan.doering@ukmuenster.de

Literatur:Balint, M.: Der Arzt, sein Patient und dieKrankheit. Stuttgart: Klett-Cotta, 1962.

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