MUT-Zahnarztpraxis für Obdachlose

Treffpunkt Ostbahnhof – hier werden „alle“ Zähne saniert

Heftarchiv Gesellschaft
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Wer am Ostbahnhof in Berlin Zahnschmerzen bekommt und keine Versicherung oder kein Zuhause hat, der braucht nicht weit zu gehen. Direkt gegenüber des Portals, wo sich die Heimat- und Wohnungslosen treffen und bei eisigem Wetter in der geheizten Halle ihre steifen Glieder wärmen, liegt eine Zahnarztpraxis, in der nicht nur die Zähne behandelt sondern auch Lebenshilfe geboten wird, selbst ohne Versicherungskarte. Die zm waren dort zu Besuch.

Die MUT-Praxis – die zm berichteten schon mehrfach über die Berliner Initiative – wurde 2001 in neuen Räumen eröffnet. Hier ist nun mehr Platz und alles liegt ebenerdig, denn mancher Besucher im Rollstuhl bevorzugt diese Anlaufstelle am Stralauer Platz 32. „Wir sind genau auf die Bedürfnisse unserer Besucher eingerichtet“, erklärt Zahnärztin Kirsten Falk, Mit-Initiatorin des zahnärztlichen Projekts, für das sie 2006 den Appolloniapreis erhielt. „Wer zu uns kommt hat zuerst Hunger!“, berichtet sie weiter. Deshalb betritt jeder, der in die Räumlichkeiten am Ostbahnhof kommt, erst einmal die Kantine und kann sich hier seinen leeren Magen füllen. Danach kommt die „Hygieneschleuse“. Damit sind Nassräume gemeint, in denen geduscht und gebadet werden kann. Handtücher gibt’s zwei Türen weiter in der „Kleiderkammer“, die auch frische Wäsche zum Wechseln bereit hält. Wer ein neues Hemd braucht, warme Pullover, Winterstiefel oder einen warmen Mantel ... alles ist da, rekrutiert aus Spenden, die täglich abgegeben werden und nach dem Sortieren nach Größen gestapelt und sauber den Menschen zur Verfügung stehen, die sich nicht im Kaufhaus einkleiden können. Direkt nebenan dann die Allgemeinpraxis, die Ansprechpartner für eigenlich alles ist, was Körper und Seele bedrückt. Von kleinen Wunden, Infektionen, vornehmlich der Haut und Konjunktividen, wie sie bei Alkoholikern an der Tagesordnung sind, bis hin zu Magen-Darm- Beschwerden und Sodbrennen wird hier alles behandelt. Patienten, die an chronischen Erkrankungen leiden, etwa Diabetes mellitus oder Herz-Kreislauf-Problemen (KHK), sowie HIV-Infizierte, die auf eine Dauermedikation angewiesen sind, haben hier ebenso ihre Anlaufstelle wie Patienten mit plötzlichen Zahnschmerzen. Nach einer kurzen allgemeinmedizinischen Kontrolle werden diese in die Zahnarztpraxis geführt, in der seit einem Jahr Dr. André Hutsky die Zähne seiner Patienten, die ohne Wohnsitz leben, behandelt. Sein 30-Stundenjob hier, den der Senat nach langen Kämpfen genehmigt hat, kann ihn nicht alleine ernähren. Daher arbeitet er in anderen Berliner Zahnarztpraxen als Vertreter – auch in Stadtteilen, die man eher als „nobel“ bezeichnen könnte. „Dadurch wird mir immer wieder bewusst“, so der junge Mediziner, „wie wohltuend diese Arbeit hier ist!“ Zwei Helferinnen – beide Teilzeitkräfte – stehen ihm zur Seite. An anderen Tagen behandeln Kirsten Falk sowie Dr. Christian Bolstorff, dem der Freitag reserviert ist.

Während meines Besuchs in der Praxis wird es plötzlich unruhig. „Ein Notfall!“. Ich verlasse das Sprechzimmer, in dem gerade unser Interview stattfindet, herein kommt ein junger Mann mit verbundener Wange in Begleitung einer jungen Frau. Sie übersetzt. Nach einigen Minuten verlassen beide die Praxis, erhalten eine Wegbeschreibung in die nahegelegene Klinik Friedrichshain, die mit Bus oder S-Bahn von hier aus gut zu erreichen ist, und die Hand in Hand mit Dr. Hutsky und seinen Kollegen arbeitet.

Näheres zum Fall darf der Zahnarzt nicht erzählen. Aber nicht nur mir wird klar, dass der junge Mann mehr als eine Zahnverletzung hatte, die aus einer kriminellen Aktion stammen musste und nur noch chirurgisch behandelt werden konnte. „Dass sich die Menschen in solchen Situationen dann an uns wenden“, so Hutsky, „zeugt von größtem Vertrauen.“ Übrigens: Lebenshilfen, etwa zu Einbürgerungsfragen, Beihilfen, Arbeitsvermittlung und mehr werden ebenso in dieser Einrichtung angeboten wie Suchtberatung und psychotherapeutische Begleitung und Beratung im persönlichen und familiären Umfeld.

Ohne Spenden läuft nichts

„Alles, was Sie in unseren Räumen sehen, ist aus Spenden entstanden“, erklärt Kirsten Falk. So auch eine neue Einheit, die von der Firma Henry Scheinen gestiftet wurde. Röntgengerät, Amalgammischer, Zahnersatzmaterialien und ab und an eine 28er, die ein Berliner Dentallabor auf eigene Kosten anfertigt sowie alle Verbrauchsmaterialen wie Watterollen und mehr werden kostenfrei angeliefert und leisten hier bei der täglichen zahnärztlichen Tätigkeit ihre Dienste. Allein nach der großen Titelstory in den zm 21/2001, Seite 36ff (siehe auch Leserservice) gab es eine Paketaktion, die den Zahnärzten der MUT-Praxis sehr hilfreich war. „Wir freuen uns über alle Spenden“, so die Zahnärzte der außergewöhnlichen und bundesweit einzigartigen Praxis, „müssen aber immer berücksichtigen, dass wir hier nur die Grundversorgung leisten.“ „Als uns neulich eine digitale Intraoralkamera angeboten wurde, haben wir uns zwar sehr über die Geste gefreut, mussten aber ablehnen, weil wir sie nicht in unsere Tätigkeit integrieren können“, erklärt Kirsten Falk im Gespräch mit den zm. Wer spenden will, kann dies gleich mehrfach tun. Sowohl mit Sachspenden für den zahnärztlichen Bereich, als auch mit Kleiderspenden. Vorwiegend Unterwäsche für Männer ist nötig, aber auch Geld ist immer willkommen. Die erforderlichen Kontaktadressen und Spendenkonto stehen im Kasten.

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