Wenn Senioren eine Reise machen
Bereits jetzt stellen die über 60-Jährigen 29 Prozent aller deutschen Reisenden [1], Tendenz steigend. Gleichzeitig finden sich in dieser Altersgruppe neben physiologischen Altersveränderungen auch gehäuft chronische Erkrankungen, zum Beispiel Diabetes mellitus (10 bis 25 Prozent), KHK (koronare Herzkrankheiten) (0,7 bis 5,1 Prozent Männer, 0,2 bis 4,4 Prozent Frauen), chronische Rückenschmerzen (20 bis 22 Prozent), Arthrosebeschwerden (52 bis 60 Prozent) sowie psychische beziehungsweise psychiatrische Diagnosen (etwa 30 Prozent).
Physiologische Veränderungen im Alter
Erfahrungen zeigen, dass nur schwerwiegende Erkrankungen Senioren vom Reisen abhalten. Die altersphysiologischen Veränderungen und Krankheiten müssen somit Teil der reisemedizinischen Beratung sein.
Nachfolgend sind die wichtigsten reisemedizinisch relevanten Veränderungen mit entsprechenden Empfehlungen aufgeführt:
•Verringerte kognitive Adaptationsbreite mit Folgen wie Gangunsicherheit, Angst, Desorientierung
Empfehlung: Kulturell adaptierte Reiseziele, bekannte Begleitpersonen
•Verringerte Melatoninproduktion
Empfehlung: Reisen in nord-südlicher Richtung sind günstiger als in Ost-West-Richtung; gegebenenfalls Zeitzonenadaptation vorwegnehmen (zum Beispiel vorschlafen)
•Presbyopie, Linsentrübung, Gesichtsfeldeinschränkung
Empfehlung: Sonnenbrille gegen Lichtempfindlichkeit, äquatorferne Ziele, Abend-/Nachtausflüge meiden
•Reduziertes Durstgefühl
Empfehlung: Trinkmenge überwachen, Harnfarbe als Orientierung, gegebenenfalls RR-Medikation reduzieren, um Blutdruckabfall mit Sturzgefahr zu vermeiden
•Muskelfaserreduktion
Empfehlung: Pre-Travel-Training („Fit to Travel“)
•Dünnere Haut, geringere Schweißproduktion/Thermoadaptation
Empfehlung: Hautpflege Pre-/In-Travel, um Infektanfälligkeit zu vermindern; Fußpflege, eingetragene Schuhe, Desinfektion von Bagatellwunden, physikalischer Sonnenschutz
•O2-Verbrauch bei Belastung erhöht, kompensatorischer Frequenzanstieg der Atmung vermindert
Empfehlung: Frühzeitig einchecken, Trinkmenge monitoren, adäquate körperliche Belastung, gegebenenfalls RR-Medikation anpassen
•Lungenvitalkapazität und maximale O2-Aufnahme bis zu 40 Prozent reduziert, Zilienfunktion vermindert
Empfehlung: Wegen erhöhter Infektanfälligkeit Pneumokokken- und Influenzaimpfung, Atemtraining
•Nephronanzahl, glomeruläre Filtration, tubuläre Exkretion vermindert
Empfehlung: Trinkmenge monitoren (Harnfarbe!), gegebenenfalls Medikation korrigieren
•Prostatahypertrophie/Descensus uteri
Empfehlung: Medikation optimieren, Beckenbodentraining, Toilettenintervalle erfragen
•Gastritisneigung, verringerte Magenmotilität, reduzierte Säurebarriere, verminderte Darmmotilität
Empfehlung: Mehrere kleine, leichte Mahlzeiten, lokales Obst und Gemüse als Ballaststoffe
•Verminderte T-Zell-Aktivität
Empfehlung: Impfungen, Antibiose bei akuter Leistungsminderung
Reise-, Flugreise- und Tropentauglichkeit
Bei einem Flugkabinendruck entsprechend einer Höhe von 1 600 bis 2 300 m dehnen sich Gase um etwa 40 Prozent aus, die O2-Sättigung sinkt auf 93 Prozent (-5 Prozent). Daraus resultiert eine Begrenzung für Reisende mit nicht luftkommunikablen Körperhöhlen (zum Beispiel chronische NNH-Affektion, Otitis media, Roemheld-Syndrom, kurz zurückliegender abdomineller/laparoskopischer Eingriff) sowie mit Erkrankungen mit grenzwertiger O2-Versorgung (zum Beispiel Herzinsuffizienz NYHA III bis IV, schwere COPD/intrinsic Asthma bronchiale). Bei O2-Bedarf kann nach Anmeldung auf einem MEDA-Formular im Reisebüro und Beurteilung durch einen Arzt der Fluglinie kostenpflichtig ein Sauerstoffoxygenator zur Verfügung gestellt werden.
Gehbehinderte können auf gleiche Weise ein „Handicapped Ticket“ beantragen, das ihnen einen Transport vom Counter zum und im Flugzeug (spezieller Rollstuhl) ermöglicht. Diabetiker, Lebensmittelallergiker und religiös orientierte Gäste können bei Buchung spezielle Speisen für den Flug bestellen. Psychisch Kranke dürfen nur unter strengen Kautelen mit Arztbegleitung fliegen. Nach IATA-Richtlinien sind Reisende mit für Mitreisende infektiösen Erkrankungen vom Flug auszuschließen (in der Praxis schwer umzusetzen). Die Tropentauglichkeit ist abhängig von der Zielregion. Feucht-heiße Regionen aggravieren pulmonale Vorerkrankungen, führen eher zu einer arteriellen RR-Senkung und über den Steal-Effekt zu einer akuten Koronarinsuffizienz. Bei Indikation zur Malariaprophylaxe sind Kontraindikationen und Wechselwirkungen zu beachten. Borderliner werden in den Tropen häufig auffällig.
Reisen mit Vorerkrankungen
Vorerkrankungen müssen aktiv, gegebenenfalls mit einem Anamnesebogen erfragt werden, da ihre Relevanz von Reisenden oft unterschätzt wird.
Alle chronisch Kranken und Personen über 60 Jahre sollten nach Empfehlung der Ständigen Impfkommission in Deutschland influenza- und pneumokokkenimmunisiert sein. Der Influenzaimpfstoff für die Südhalbkugel kann sich von dem hiesigen unterscheiden. Ein Formular zum Mitführen von Betäubungsmitteln im Zollbereich des Schengener Abkommens ist unter www.bfarm > Betäubungsmittel > Formulare abrufbar (behördliche Bestätigung erforderlich).
Kontraindikationen einiger Malariamedikamente sind zu beachten, zum Beispiel psychische Anamnese, Herzrhythmusstörungen bei Mefloquin, Doxycyclin-/MCP-Medikation bei Malarone®und mehr (siehe unter www.dtg.org).
Reisende mit oder kurz nach immunsuppressiver Erkrankung oder Therapie bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Hierzu zählen unter anderem aktive Leukosen, Lymphome, metastasierende Malignome, aplastische Anämien, Organ-/Knochenmarkstransplantationen, Personen während und drei Monate nach Radiatio/Zytostase sowie vier Wochen nach größeren Operationen, symptomatische HIV-Erkrankung, CD4-Zellzahl < 500, azathioprin-/methotrexatbehandelte Rheumatiker/Colitisulcerosa-Patienten. Primär müssen hier die Reisedestination, das zu erwartende Risiko einer Verschlechterung der Grunderkrankung und das Infektionsrisiko diskutiert werden. Nur selten gelingt es, Reisenden ein risikoärmeres Ziel (zum Beispiel Europa, Nordamerika, Australien, Südafrika) nahezubringen. Malariaregionen und Regionen mit erhöhter Enteritisinzidenz (zum Beispiel Indien) sollten gemieden werden.
Totimpfungen sind grundsätzlich auch bei Immunsuppression möglich. Der Impferfolg ist abhängig von der alters- und erkrankungsbedingten Immunresponse; serologische Kontrollen erscheinen in Einzelfällen sinnvoll.
Absolute Kontraindikationenfür Lebendimpfungen sind:
• metastasierendes Malignom,• < vier Wochen nach OP (Höhleneingriff),• < 3 Monate nach Zytostase/Radiatio,• < 2 Jahre nach Knochenmarkstransplantation,• symptomatische HIV-Erkrankung (CD4 < 200),• aktive Leukose,• aplastische Anämie,• akute Encephalomyelitis disseminata,• < 6 Wochen nach MS-Schub.
Als relative Kontraindikationen gelten die Einnahme von Low-Dose-Methotrexat oder TNF-Blocker sowie eine asymptomatische HIV-Erkrankung mit CD4-Zellzahlen zwischen 200 und 500.
Dr. med. Albrecht von Schrader-Beielstein Hauptstr. 8,D-82237 WörthseeE-Mail:Dr_von_Schrader@t-online.de
Literatur beim Verfasser
Mit freundlicher Genehmigung aus MMWFortschr.Med. Nr. 20 / 2007 (149. Jg.) 28