Zweiter Gesundheitsmarkt

Und es hat Boom gemacht

Das Gesundheitsbewusstsein hat sich verändert. Immer mehr Menschen wollen lange fit bleiben und sind bereit, dafür Geld zu investieren. Neben den klassischen medizinischen Kernbereichen Diagnostik und Therapie hat sich so in den vergangenen Jahren ein Markt etabliert, der Zusatzangebote von der freiwilligen Vorsorgeuntersuchung bis zum Wellnessurlaub umfasst. Ein Boom mit bisher unabsehbaren Folgen – bis auf die eine: Das Gesundheitswesen wird sich grundlegend verändern.

Die Gesundheitswirtschaft gilt als größte Wirtschaftsbranche in Deutschland. Insgesamt arbeiten hier laut Angabe des Statistischen Bundesamts 4,3 Millionen Menschen, die Umsätze von mehr als 250 Milliarden Euro jährlich erzielen. Schätzungen gehen davon aus, dass aufgrund des demografischen Wandels, des medizinischtechnischen Fortschritts und des zunehmenden Gesundheitsbewusstseins der Bevölkerung der Bedarf an Konsumgütern aus diesem Bereich weiter steigen wird. Bis 2020 könnte das die Umsätze in der Branche auf 450 Milliarden Euro hochschnellen lassen.

Ein beachtlicher Teil der Gewinne entfällt dabei auf einen Bereich, der sich in den vergangenen Jahren an der Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin entwickelt hat und oft als Gesundheitsmarkt bezeichnet wird. Auf der Suche nach einer allgemeingültigen Definition des Bereichs stößt man jedoch schnell auf Schwierigkeiten. Nicht etwa, weil es keinen Versuch einer Definition gibt, sondern – im Gegenteil – zu viele.

Schwer zu fassen

Die Gesamtheit aller gesundheitsbezogenen Produkte und Dienstleistungen, die nicht von den gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungen bezahlt, sondern aus eigener Tasche finanziert werden müssen – so wird der zweite Gesundheitsmarkt häufig eingegrenzt. Im Umkehrschluss umfasst der erste Gesundheitsmarkt die klassische Versorgung, die von den Kassen getragen wird. Diese Definition legen zum Beispiel die Unternehmensberater der Firma Roland Berger in ihrer Studie „Der Zweite Gesundheitsmarkt“ aus dem Jahr 2007 zugrunde. „Das Angebotsspektrum reicht von probiotischem Joghurt bis zu selbstfinanzierten Vorsorgeuntersuchungen, von freiverkäuflichen Arzneimitteln über die Mitgliedschaft im Fitness-Studio bis zu gesundheitsorientierten Urlaubsreisen“, heißt es in dem Papier. Dabei kommt eine stolze Summe zusammen: „Jeder erwachsene Deutsche gibt pro Jahr durchschnittlich 900 Euro aus eigener Tasche für Gesundheit aus.“ Insgesamt belaufen sich die Umsätze im zweiten Gesundheitsmarkt laut Berechnungen der Roland Berger-Experten auf geschätzte 60 Milliarden Euro pro Jahr, 20 Milliarden entfallen auf die Bereiche Fitness, Wellness, Gesundheitstourismus, Biolebensmittel und Functional Food.

Im Gegensatz zur Wirtschaft ist die Wissenschaft vorsichtiger mit einer Definition. Ein Fragezeichen an die oben beschriebene Herangehensweise macht Anja Sophia Middendorf, Projektmanagerin bei der Med- Econ Ruhr, einem Zusammenschluss von Unternehmen und Einrichtungen, die in der Gesundheitswirtschaft der Ruhrregion tätig sind. Für sie gehören alle Maßnahmen, die der Gesunderhaltung dienen, zum zweiten Gesundheitsmarkt – also auch Wellness, Fitness, Massagen und Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL), den Foodbereich würde sie jedoch ganz klar ausklammern. „Wenn das als gesunderhaltende Maßnahme gilt, muss man eigentlich auch den Spaziergang mit dem Hund miteinberechnen, der ja auch Futter braucht“, scherzt die Expertin.

Die Gewinnmarge schraubt der Verzicht auf die Umsätze bei Speziallebensmitteln natürlich erheblich herunter. Middendorf geht in ihrer Kritik an den bestehenden Zahlen noch weiter: „Wirklich seriöse Zahlen können nicht existieren, bevor es keine offizielle Definition des zweiten Gesundheitsmarkts gibt.“ Das ist ihrer Meinung nach eine Sache für die Wissenschaft – in Zusammenarbeit mit dem Bundesgesundheitsministerium. Bisher zeigen die politischen Entscheidungsträger jedoch wenig Interesse an dieser Aufgabe.

Politisches Stiefkind

Egal, ob man ihn enger oder weiter fasst: Der zweite Gesundheitsmarkt ist Ausdruck dafür, dass sich die Branche ändert. Das muss auch die Politik endlich zur Kenntnis nehmen, findet PD Dr. Josef Hilbert, Forschungsdirektor des Schwerpunkts Gesundheitswirtschaft und Lebensqualität am Institut Arbeit und Technik des Wissenschaftszentrums NRW in Gelsenkirchen. „Bislang wurde Gesundheit als eine Solidaritätsverpflichtung der Gesellschaft begriffen, die zwar notwendig ist, die die Wirtschaft aber stark belastet“, schreibt er in einem Aufsatz zum Thema. Dabei müsse vielmehr anerkannt werden, „dass Ausgaben für Gesundheit gute Potenziale haben, Innovationsmotor und Jobmaschine Nr. 1 zu werden“, fügt er hinzu. Aber: Der Wandel des Gesundheitswesens zur Zukunftsbranche sei kein Selbstläufer. Ein Paradigmenwechsel könne nur eintreten, wenn Wirtschafts- und insbesondere Gesundheitspolitik die institutionellen Rahmenbedingungen für ein Branchenwachstum schaffen.

Diese These vertritt auch das Institut für Volkswirtschaftslehre der Technischen Universität Darmstadt unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. Bert Rürup. In einer Analyse stellen die Institutsmitarbeiter Dennis Alexander Ostwald und Anja Ranscht fest, dass der Gesundheitswirtschaft zwar große Bedeutung als Wachstums- und Beschäftigungsmotor zukommt, ihr Potenzial aber unausgeschöpft bleibt, wenn die dafür notwendigen strukturellen Voraussetzungen auf politischer Ebene nicht geschaffen werden. Bleiben die Weichenstellungen aus, wird es laut der Analyse in der Gesundheitswirtschaft, vor allem aufgrund der zunehmenden Nachfrage nach Pflegedienstleistungen, Zuwächse geben. In allen anderen Bereichen werde hingegen bis 2020 Beschäftigung abgebaut, schreiben Ostwald und Ranscht.

„Ja“ zu politischem Engagement sagt auch Anja Sophia Middendorf – aber nur bis zu einer gewissen Grenze: „Die Politik kann Anstöße geben, indem sie die Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft an einen Tisch bringt oder indem sie Förderprogramme auflegt, mit denen innovative Projekte finanziert werden.“ Danach solle sie sich jedoch wieder zurückziehen und „das Kind alleine laufen lernen lassen“. Dem stimmt Hilbert zu: „Nachhaltig können regionale Entwicklungskonzepte zur Gesundheitswirtschaft nur dann werden, wenn eine stabile Steuerungs- und Vernetzungsinstanz existiert, die auch für eine kontinuierliche Projektentwicklung Sorge trägt. Am besten ist es, wenn sie nicht unmittelbar von der Politik abhängig ist und einen soliden wissenschaftlichen Unterbau hat.“

Um die zuständigen Stellen von ihrem Bild des Gesundheitswesens als Kostenfaktor, den es zum Wohle der Arbeitskosten zu senken gilt, zu lösen, setzt Josef Hilbert auf regionale Erfolge.

Revolution von unten

Immer mehr Regionen in Deutschland versuchen, aus dem Boom des Gesundheitsmarkts Kapital zu schlagen. Ihr Ziel ist es, sich mit Projekten im Gesundheitssektor zu profilieren, Investoren anzuziehen und sich so von anderen abzusetzen. In ihrer Bemühung, wissenschaftliche und wirtschaftliche Schwerpunkte zu setzen und Innovationsprozesse anzukurbeln, werden die sogenannten Gesundheitsregionen selbst zum wichtigsten Motor der Entwicklung. „Aktives Engagement aus den Regionen lohnt sich. Es hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, auch dann die Initiative zu ergreifen, wenn die „große Politik“ noch indifferent ist. In einigen Regionen gingen die ersten Impulse von kommunalen Akteuren sowie von Anbietern der Branche selbst aus. Dieses Engagement wurde anschließend von der Politik aufgegriffen und mitgetragen“, beschreibt Hilbert seine Erfahrungen. So geschehen in Nordrhein-Westfalen, wo sich besonders im Ruhrgebiet und in Ostwestfalen- Lippe viele Akteure auf dem Gesundheitsmarkt tummeln. Neben der Med- Econ Ruhr ist hier auch das Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft (ZIG) ein wichtiger Initiator für regionale Projektentwicklung und Marketing. Beide Institutionen haben ihre Konzepte so überzeugend umgesetzt, dass das Gesundheitsministerium in Düsseldorf aufmerksam wurde und im Frühjahr 2005 einen „Masterplan Gesundheit“ auflegte. Zudem rief die Landesregierung für 2008 einen „Med in NRW“-Wettbewerb für die innovativsten Projekte aus. Umfang: 70 Millionen Euro. Die Bewerberzahlen sind enorm. Im Vergleich zu so viel Engagement hinkt die Bundesregierung deutlich hinterher: Für ihren Wettbewerb um die besten fünf Gesundheitsregionen in Deutschland machte sie schlappe zehn Millionen Euro locker – verteilt über mehrere Jahre.

Um der Politik einen weiteren Schubs zu versetzen, hat Hilbert, der auch stellvertretender Vorstandsvorsitzender der MedEcon Ruhr ist, maßgeblich an der Gründung des Netzwerks deutscher Gesundheitsregionen im Februar 2008 mitgewirkt und den Vorsitz übernommen. Das Netzwerk will die Akteure im Gesundheitsmarkt näher zusammenbringen. Und zwar überregional, damit die Spezialgebiete der einzelnen Mitglieder in einen Kontext gebracht und Entwicklungen in der medizinischen Versorgung, in Forschung und Wissenschaft sowie bei Produkten und Dienstleistungen optimiert und forciert werden können. Bundesländer, die explizit auf Gesundheitswirtschaft setzen, sind neben NRW auch Bayern, Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg- Vorpommern, das im März 2006 seinen eigenen „Masterplan Gesundheit“ auflegte.

Nicht alle Schwerpunkte in den Regionen sind relevant für den zweiten Gesundheitsmarkt, wie ihn die Roland Berger-Studie definiert. In vielen Gegenden stehen nicht Tourismus oder Fitness, sondern die Entwicklung von Gesundheitstechnologien, Internationalisierung der Hochschulen, Rehamaßnahmen oder die Erprobung der Tele- Medizin im Mittelpunkt.

Neu aufgestellt

Auch die Krankenkassen haben die Veränderung in der Gesundheitsbranche wahrgenommen – und wollen von dem Wachstum profitieren. Einen wegweisenden Schritt hat im Mai 2007 die Deutsche BKK unternommen. Um auf dem zweiten Gesundheitsmarkt Fuß zu fassen, beteiligte sie sich maßgeblich an der Entwicklung des Unternehmens „GesundheitsWelt direkt“ und ging eine Exklusivpartnerschaft mit ihm ein. Im Interview mit der Publikation „Forum für Gesundheitswirtschaft“ im Frühjahr 2007 definierte Geschäftsführer Thomas Schlichter sein Geschäftsfeld mit – von anderen Akteuren aus dem wirtschaftlichen Bereich bekannten – Worten: „Zweiter Gesundheitsmarkt ist alles, was nicht von der GKV oder der PKV finanziert wird. Das geht von Wellness über Reisen bis zu plastischen Operationen, sportiven Maßnahmen und Geräten für sportliche Alternativen. Also die gesamte Palette.“ Diese Produkte und Dienstleistungen vermittelt das Unternehmen an die Versicherten – kostenfrei. Ihr Geld verdient die GesundheitsWelt direkt mit Provisionen, die sie von den Anbietern einstreicht.

Die Deutsche BKK will ihren Kunden auf diese Weise direkten Zugriff auf Dienstleistungen bieten, die außerhalb ihrer Befugnis als Körperschaft des öffentlichen Rechts liegen. Finanziell stehe sie in keiner Verbindung mit der GesundheitsWelt direkt. Ziel der Partnerschaft sei es vielmehr, den Versicherten einen Service zu bieten, den sie sich schon lange gewünscht hatten, erklärte Ralf Sjuts, Vorstandsvorsitzender der Krankenkasse, ebenfalls im Gespräch mit „Forum für Gesundheitspolitik“: „Wir haben unsere Versicherten nach ihren Bedürfnissen befragt und festgestellt, dass vieles davon außerhalb des gesetzlichen Versicherungsmarkts liegt. Dann war die Überlegung für uns ganz einfach: Wie können wir unserem Kunden die Leistungen, die er nachfragt, qualitätsgesichert und zu einem gesicherten Preis anbieten?“ Den Markt für Gesundheitsleistungen könnten Laien nur schwer durchschauen, so Sjuts. Dieses Problem löse die Kooperation: „Früher mussten unsere Kunden die Qualität der Leistungen selbst beurteilen und auch selbst über den Preis verhandeln. Das wird ihnen jetzt von GesundheitsWelt direkt abgenommen.“

Die Krankenkassen haben sich auf den neuen Markt eingelassen. Auch für Ärzte stellt sich die Frage, wie sie die Veränderungen in ihren Arbeitsalltag integrieren. Ein Blick auf den Bereich der Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL), die bekanntlich von den Patienten selbst gezahlt und somit dem zweiten Gesundheitsmarkt zugerechnet werden können, veranschaulicht die Herausforderung.

Dringender Klärungsbedarf

Eine Liste, die das gesamte Spektrum der IGeL-Leistungen umfasst, existiert nicht. Seit ihrer Einführung im Jahr 1998 hat die Masse der Selbstzahlerangebote kontinuierlich zugenommen, unter anderem, weil es immer mehr Unternehmen gibt, die sich auf die Konzeption neuer Angebote spezialisieren. „Der Markt der IGeL-Angebote ist vielfältig und befindet sich eher noch am Beginn einer dynamischen Entwicklung. Die Anzahl der schriftlichen oder elektronischen Informationsquellen über weitere Möglichkeiten von Angeboten nimmt explosionsartig zu“, stellte die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2006 in einer gemeinsamen Untersuchung mit der Universität Bremen fest. Das Problem: Die qualitative Prüfung der IGeL-Angebote hinkt dem Boom hinterher. Oft ist der tatsächliche medizinische Nutzen der Selbstzahlerangebote wissenschaftlich kaum erforscht, manche IGeL werden sogar von unabhängigen Instituten als nicht sinnvoll beurteilt. Durch die Werbung darauf aufmerksam gemacht, fragen Patienten sie aber trotzdem nach. Für Ärzte eine schwierige Situation.

Die Bertelsmann Stiftung appelliert deswegen an die GKV, die Einrichtungen der Gemeinsamen Selbstverwaltung und der Ärzteschaft, mehr Qualitätssicherung zu betreiben. „Zu den notwendigen Aktivitäten gehört eine wesentlich größere öffentliche Transparenz über den Umfang, die Art und vor allem die nachgewiesene Qualität der IGeL-Angebote. Dazu sollten die Qualitätsmaßstäbe, die im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) mittlerweile im Konsens mit den Ärztevertretern als neue und alte GKV-Leistungen angelegt werden, angewandt werden“, lautet ihre konkrete Forderung.

Dass im Umgang mit IGeL Klärungsbedarf besteht, hat die Bundesärztekammer (BÄK) mittlerweile erkannt. Die BÄK hat eine Broschüre veröffentlicht, die Patienten und Ärzteschaft über den korrekten Umgang mit Selbstzahlerleistungen informieren und vor allem Missbrauch vermeiden soll. BÄKPräsident Prof. Dr. Jörg Dietrich Hoppe: „Die individuellen Gesundheitsleistungen sind noch eine diffuse Angelegenheit. Es gibt Ärzte, die solche Leistungen nicht erbringen, die das abstoßend finden und deshalb erst gar nicht damit anfangen. Und es gibt solche, die davon heftig Gebrauch machen“, sagte er kürzlich im Deutschen Ärzteblatt. Entscheidend beim „Verkauf“ von IGeL sei es, den Patienten eine Bedenkzeit einzuräumen. „Es darf nicht den Hauch einer Drucksituation für den Patienten geben“, betonte der BÄK-Präsident.

Transparente Verhältnisse

In der zahnärztlichen Praxis kommen klassische IGeL-Leistungen wesentlich seltener zum Einsatz als bei Ärzten. Regelversorgung, Mehrkostenbeteiligung sowie Heilund Kosten-Pläne sorgen dafür, dass Leistungen in ein für den Patienten transparentes Gefüge eingebettet sind. „Eine Missbrauchsdebatte bei Selbstbeteiligungen stellt sich deshalb erst gar nicht“, sagt Dr. Reiner Kern, Pressesprecher der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. „Für eine zahnmedizinische Behandlung, zum Beispiel beim Zahnersatz, gibt es verschiedene, klar festgelegte Therapiemöglichkeiten. Welche Option der Patient wählt, liegt daran, welchen ästhetischen Anspruch er hat und an seinen finanziellen Möglichkeiten. Einwandfrei sind alle Optionen.“

Trotzdem: Der Wandel der Gesundheitsbranche beeinflusst die zahnärztliche Arbeit. „Durch die Gesundheitsreform und das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz gibt es plötzlich mehr Wettbewerb. Dadurch hat sich ein Markt herausdifferenziert, der von hochpreisigen Segmenten auf der einen Seite bis hin zu Discountangeboten auf der anderen reicht“, beschreibt Kern die Situation. Zahnärzte müssen sich in diesem Wettbewerbsgefüge positionieren. Das erzeugt die Sorge, in einen Konflikt zwischen Marketing und ärztlicher Pflicht zu geraten.

Die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) hat für diesen Zwiespalt Verständnis. „Die Zeiten ändern sich. Dazu gehört, dass Zahnärzte ihre Praxis wirtschaftlich führen dürfen müssen. Aber: Ethik geht immer vor“, sagt Dr. Sebastian Ziller, Leiter der Abteilung Prävention und Gesundheitsförderung der BZÄK. Und weiter: „Leistungen, für die die Patienten aus eigener Tasche aufkommen, müssen einen wissenschaftlich belegten Nutzen und nicht allein Wellnesscharakter haben.“ Laut Ziller gibt es viele Zusatzbehandlungen, die Zahnärzte ihren Patienten guten Gewissens anbieten können. Vor allem im Prophylaxebereich für Erwachsene böten sich viele Möglichkeiten. Zum Beispiel die professionelle Zahnreinigung. Damit das Vetrauensverhältnis zu den Patienten nicht gefährdet wird, erinnert Ziller daran, die entstehenden Kosten vor der Behandlung mit ihnen zu besprechen.

Blick in die Zukunft

Auf eines müssen sich alle Akteure aus Wissenschaft und Medizin einstellen: Das Gesundheitswesen ist im Umbruch. Ob man die Branche strikt in einen ersten und zweiten Markt einteilen sollte, stellt Anja Sophia Middendorf zur Diskussion. Für sie ist ein Blick auf die Prozesse, die den Bereich prägen, aufschlussreicher für das Verständnis: „Die Dynamik, die das Gesundheitswesen verändert, ergibt sich zum einen durch Innovationen, initiiert von Wissenschaft und Wirtschaft. Auf der anderen Seite wird sie ganz entscheidend von den Konsumwünschen der Menschen bestimmt. Beide Strömungen beeinflussen sich natürlich auch gegenseitig.“ Gesundheitsmarkt sieht sie in ständiger Bewegung. Daraus entsteht ein Kreislauf, der die Branche kontinuierlich verändert und Produkte sowie Methoden, die sich im zweiten Gesundheitsmarkt bewähren, in den ersten, „klassischen“ Gesundheitsmarkt überschwappen lassen. Das Ergebnis werde eine Vermischung der beiden Sphären sein, die man jetzt noch gar nicht absehen könne.

Neben dem wirtschaftlichen Wandel der Märkte ist Middendorf fest davon überzeugt, dass sich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung des Gesundheitsbegiffs ändern wird. Die momentan stattfindende Verlagerung von der akuten Versorgung von Krankheiten zur stärker präventiven Gesundheitsförderung hat ihrer Meinung nach nur den Anfang gemacht. Darüber hinaus werde ein weiterer Faktor der Entwicklung einen bedeutenden Schub versetzen: „Das Gesundheitswesen der Zukunft wird sich individualisieren und die Bedürfnisse des Einzelnen besser erkennen und darauf eingehen.“

Schon jetzt gibt es Bemühungen in diese Richtung. Verstärkt werden gesundheitsbezogene Produkte und Serviceangebote entwickelt, die zur Kenntnis nehmen, dass Menschen unterschiedliche Lebenssituationen mitbringen. Dazu gehören unter anderem Dienstleistungen, die die Selbstständigkeit alter Menschen, die noch zuhause leben, stärken. Zum Beispiel die Tele-Medizin oder Hilfsmittel, die ihnen die Einteilung der Medikamente erleichtern. Eine weitere Herausforderung wird sein, Migranten stärker an gesunderhaltende Produkte heranzuführen. Ein gelungenes Beispiel hierfür sind Fitnesscenter für muslimische Frauen. Die Dynamik des Gesundheitsmarkts – des ersten wie des zweiten – ist also noch lange nicht erschöpft, sondern wird vielmehr ständig neu entfacht. Anja Sophia Middendorf: „Die zentrale Frage, die die Branche prägen wird, lautet: Welche Bedürfnisse gibt es und wie bringt man die Lösungsangebote nahe an die Menschen?“

Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net

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