Kunstprojekt im Netz

Geheimnisverrat

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Bloß Stillschweigen bewahren! Nicht einmal den engsten Vertrauten verraten wir alles. Wie es sich wohl anfühlt, die intimsten Gedanken auszusprechen? Sie öffentlich zu machen – und dabei selbst im Verborgenen zu bleiben.

Vor vier Jahren fing es an. Frank Warren, damals hauptberuflich Vertreter für medizinische Produkte und nebenberuflich Künstler, verteilte 3 000 Postkarten. Alle an ihn adressiert und alle mit dem gleichen Aufruf versehen: Die unbedruckte Vorderseite grafisch zu gestalten und darauf, komplett anonym, ein Geheimnis über sich zu lüften.

Es gab zwei Bedingungen: Wahr musste das Geheimnis sein und noch nie zuvor ausgesprochen. Es antworteten 150 Menschen. Warren stellte ihre Karten aus und dachte, das Projekt sei damit abgeschlossen. Doch immer mehr Karten landeten in seinem Briefkasten – zeitweise bis zu tausend pro Woche. Schließlich richtete er eine Webseite für die Geheimnisträger ein: PostSecret.com – verschicke ein Geheimnis.

Niedlich bis bitter

Mittlerweile gibt es auch eine deutschsprachige Seite, die Warrens Kunstprojekt umsetzt und sich an die ursprünglichen Instruktionen hält. „Jedes Geheimnis kann etwas sein, worauf Du hoffst, das Du bedauerst, ein lustiges Erlebnis, eine unbemerkte Liebenswürdigkeit, eine Fantasievorstellung. Es kann eine Angst, ein Verrat, ein erotisches Verlangen, ein Geständnis, oder eine Kindheitserinnerung sein.“

Ein breites Spektrum – die Ausbeute ist dementsprechend bunt. Preisgegeben werden kleine, niedliche Geheimnisse wie: „Als Kind glaubte ich, dass in Digitaluhren kleine Männer wohnen, die jede Minute die Zeitanzeige wechseln.” Oder bittere Geständnisse: „Mein Mann ist Alkoholiker. Jede Nacht, wenn er eingeschlafen ist, stehle ich ihm 20 oder 30 Dollar aus seiner Tasche. Das mache ich jetzt seit 35 Jahren und werde es weiter tun. Jetzt, wo ich es gestanden habe, fühle ich mich besser. Danke.”

Mit seinem Kunstprojekt wollte Warren einen Platz schaffen, an dem Menschen alles loswerden können. Ohne Angst vor Vorurteilen und Verurteilung. In einem Interview mit blog.guykawasaki.com sagte er, dass ihm erst rückblickend klar wurde, worum es ihm außerdem ging: „Ich glaube, ich fing mit PostSecret an, weil ich ein Geheimnis aus meiner Kindheit mit mir herumtrug, das ich loswerden wollte. Ich wollte mich damit versöhnen. Durch die Geständnisse lernte ich, mich selbst besser zu verstehen und zu akzeptieren.“ Vor zwei Jahren bekam Warren dafür eine Auszeichnung von der US-amerikanischen National Mental Health Association wegen seines Verdiensts um die psychische Gesundheit.

Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net

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