Fortbildungsteil 2/2008

Neue Konzepte in der Totalprothetik

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Heftarchiv Zahnmedizin

Die Totalprothetik ist in den letzten Jahren zunehmend zum Stiefkind der Prothetik geworden. Die Herstellung guter Totalprothesen ist mitunter schwierig und zeitaufwendig, sowie im Allgemeinen aus ökonomischer Sicht weit weniger attraktiv als beispielsweise ein implantatgestützter Zahnersatz. Wenn man die Totalprothetik aber nicht mit Freude macht, schafft man bestenfalls die Anfertigung eines unterdurchschnittlichen Zahnersatzes, der nur mithilfe von Prothesenhaftmitteln halbwegs funktionstüchtig dem Patienten dienen kann.

Die Totalprothetik ist zudem in den letzten Jahren zunehmend schwieriger und anspruchsvoller geworden. Einerseits, weil die Erstversorgung mit Totalprothesen häufig in ein Alter der Patienten mit bereits reduzierter Adaptationskapazität fällt und zusätzlich meist starke Resorptionen der Alveolarfortsätze vorliegen, dies insbesondere im Unterkiefer. Andererseits wird die Erfahrung vieler jüngerer Zahnärzte bei der Herstellung von herausnehmbarem Zahnersatz geringer. Die immer häufiger auftretenden Misserfolge machen ratlos und führen zur Frustration, sowohl auf Seiten des Patienten, als auch des Zahnarztes und Zahntechnikers. Viele glauben, dass diese Probleme nur mit einem implantatgestützten Zahnersatz vermieden werden können.

Wenn man die neuesten Zahlen zur Zahnlosigkeit in Deutschland betrachtet, dann sieht man, dass die Zahl der Totalprothesenträger insgesamt leicht rückläufig, die Zahl jüngerer Totalprothesenträger jedoch stark rückläufig ist. Zahnlosigkeit ist heute bei den unter 40-Jährigen eine Seltenheit. In der Altersgruppe von 65 bis 74 Jahren haben aber mehr als 20 Prozent keine eigenen Zähne. Und je älter die Menschen werden, desto mehr Zahnlose gibt es (DMS IV). Die Zahl implantatgestützter Prothesen ist in der älteren Population zwar zunehmend, aber mit unter drei Prozent erstaunlich niedrig.

Durch die demografische Entwicklung wird in den nächsten Jahren wieder ein Zuwachs an zahnlosen Patienten erwartet. Man wird sich also auch weiterhin mit der Totalprothetik beschäftigen müssen und sollte dem Patienten ein zeitgemäßes, einfaches, reproduzierbares und in der täglichen Praxis bewährtes Konzept anbieten [Grunert, 2008].

Eigentlich gibt es das „neue Konzept“ in der Totalprothetik mit der Herstellung eckzahngeführter Totalprothesen schon einige Jahrzehnte [Swab, 1973; Gausch, 1986; Grunert, 1995 und 1999; Grunert und Crepaz, 2003]. Den Eingang in die Lehrpläne vieler deutscher Universitäten sowie auch in prothetische Lehrbücher hat es immer noch nicht gefunden, was erstaunlich ist. Es wird vielerorts immer noch traditionell vorgegangen und bei mittelwertig aufgestellten Zähnen eine vollbalancierte Okklusion der Prothesen angestrebt, was eigentlich gar nicht funktionieren kann. Neben einer sinnlos aufwendigen Vorgehensweise kommt es durch unkontrollierbare okklusale Interferenzen zu einer Traumatisierung des Prothesenlagers mit vermehrtem Knochenabbau, was aber unbedingt vermieden werden sollte, da die Menschen immer älter werden.

Front-eckzahngeführte Totalprothesen

Die meisten totalprothetischen Okklusionskonzepte gehen von der Voraussetzung aus, dass die Okklusion und Artikulation künstlicher Zahnreihen ein Maximum an Stabilität, optimale Kaueffizienz und Komfort für den Patienten zu gewährleisten haben, ohne dass dabei schädigende Auswirkungen auf das Prothesenlager einwirken oder Einbußen bezüglich Ästhetik oder Phonation in Kauf genommen werden müssen [Kundert, 1978]. In der Umsetzung dieser Zielvorgabe bestehen bei den unterschiedlichen Konzepten nach wie vor große Divergenzen, denn nirgendwo in der Prothetik scheinen sich dogmatische Überlieferungen so hartnäckig zu halten wie in der Totalprothetik. An der Universitätsklinik in Innsbruck hat Gausch bereits 1976 begonnen, Totalprothesen mit Disklusion im Seitenzahnbereich aufzustellen, wobei er mit sehr flach gehaltenen Führungselementen in der Front-Eckzahnregion die Disklusion erreichte [Gausch 1986]. Seitdem sind mehrere Tausend Patienten an der Innsbrucker Klinik, auch in der studentischen Ausbildung, mit solchen Prothesen erfolgreich rehabilitiert worden. Eine Weiterentwicklung erfuhr das Konzept durch die Berücksichtigung individueller Gegebenheiten mithilfe der Axiographie [Grunert 1995]. Durch die Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten kommt es nicht zu einem Abkippen der oberen Prothese bei den Seitbewegungen des Unterkiefers. Eine zu steil eingestellte Eckzahnführung kann zu einer Destabilisierung der oberen Prothese führen und sollte daher vermieden werden.

Vorteile eckzahngeführter Prothesen gegenüber Totalprothesen mit balancierter Okklusion [Grunert und Crepaz, 2003; Grunert, 2008]:

• Sie sind einfacher aufzustellen und einzuschleifen, was eine große Zeitersparnis bei der Aufstellung und Remontage der Prothesen mit sich bringt.

• Eine bessere und natürlichere Ästhetik ist erreichbar.

• Bei exkursiven Bewegungen (Protrusion und Laterotrusion) besteht erstmals eine Übereinstimmung der Artikulatormit der Mundsituation (Voraussetzung: die Einstellung des Artikulators erfolgte nach einer Axiographie), was unkontrollierte und traumatisierende Schubkräfte auf das Prothesenlager, die zu einem vermehrten Knochenabbau führen, minimiert.

• Es kommt zu einer Reduktion der Aktivität der Kaumuskeln, analog zur Neuromotorik der Bezahnten [Grunert et al., 1994].

• Die Umstellung auf ein eher vertikales Kaumuster ist die Folge.

• Eckzahngeführte Prothesen können durch die geringere Belastung des Prothesenlagers auch nachts getragen werden.

Eine der wenigen randomisierten Studien in der Totalprothetik [Peroz et al., 2003] zeigt, dass eckzahngeführte Prothesen erfolgreich angewendet werden können und den Patienten eine bessere Ästhetik, besseren Prothesenhalt der unteren Prothese und auch ein besseres Kauvermögen bieten.

Je nach den Wünschen und finanziellen Möglichkeiten kann man dem Patienten heute unterschiedlich aufwendig hergestellte Totalprothesen mit einer Eckzahnführung anbieten.

Versorgung nach Mittelwerten

Wesentliche Schritte bei der Anfertigung von Totalprothesen sind korrekte Abformungen (Anatomischer Abdruck mit einem konfektionierten Löffel und Alginat, Funktionsabdruck mit einem saugenden individuellen Löffel und zum Beispiel Permlastik der Fa. Kerr), die Anpassung der Registrierschablonen im Muskelgleichgewicht, sowie nach ästhetischen und phonetischen Gesichtspunkten in einer korrekten vertikalen und sagittalen Kieferrelation, die Verwendung von Kunststoffzähnen, Zahnaufstellung in der Front mit Overbite und Overjet von zwei bis drei Millimetern und funktioneller Freiheit, mittelwertige Eckzahnführung (rund 40 bis 45 Grad zur Achse – Orbitalebene) sowie lingualisierte Aufstellung der Seitenzähne, Kontrolle der Zahnaufstellung bei der Wachsprobe, technische Fertigstellung der Prothesen inklusive Reokkludieren, Eingliederung und Nachsorge sowie Remontage der Prothesen.

Die korrekte Okklusion ist für den Prothesenhalt, für die Schonung des Prothesenlagers und für die Adaptation der Prothesen entscheidend. Neben der Registrierung der korrekten zentrischen Position bei der Herstellung der Prothesen, welche nicht immer ganz leicht ist, ist vor allem die Remontage der Prothesen eine unbedingte Notwendigkeit, um die bei der Prothesenherstellung entstandenen Fehler auszugleichen, was mit schleimhautgetragenen Prothesen niemals im Mund des Patienten korrekt durchgeführt werden kann.

Individueller Zahnersatz

Wünscht sich der Patient einen individuellen Zahnersatz, dann werden zusätzlich zu den bei der Mittelwertversorgung notwendigen Schritten auch noch eine Axiographie zur Bestimmung der Kondylenbahnneigung und individueller Einstellung der Neigung der Front-Eckzahnführung durchgeführt. Die Eckzahnführung wird dann entsprechend der initialen Kondylenbahn und die Frontzahnführung um etwa fünf Grad steiler als die Eckzahnführung eingestellt. Weiter kann auch der Artikulator entsprechend der Patientensituation individuell programmiert werden.

Neben der Berücksichtigung funktioneller Gegebenheiten können auch besondere ästhetische Wünsche des Patienten durch individualisierte Prothesenzähne oder sogar eine individuell hergestellte Zahngarnitur realisiert werden, um einen typgerechten sowie möglichst natürlich wirkenden Zahnersatz herstellen zu können. Nur eine enge Zusammenarbeit mit einem in der Totalprothetik versierten Techniker ermöglicht optimale Ergebnisse. Solche zeitaufwendig hergestellten Prothesen können natürlich nicht zum Kassentarif abgerechnet werden.

Die individuelle Totalprothetik wird in Zukunft sicher noch an Bedeutung gewinnen. Viele zahnlose Patienten wollen nicht als Totalprothesenträger erkannt werden und haben auch die finanziellen Mittel, sich diese Wünsche zu erfüllen.

Das Konzept der eckzahngeführten Prothesen ist nicht nur auf konventionelle Totalprothesen beschränkt, sondern es kann ebenso in der implantatgestützen Hybridprothetik seine Anwendung finden, wie die Abbildungen 1 bis 6 zeigen. Die 80-jährige Patientin wünschte sich einen individuellen Zahnersatz, mit einer stabilen Verankerung der unteren Prothese. Diese konnte mit zwei interforaminalen Implantaten jeweils in der Eckzahnregion und einer Verankerung der unteren Prothese an den Locatoren erreicht werden (Abbildungen 1 bis 3). Neben einer korrekten zentrischen Okklusion, ist die nicht zu steile Eckzahnführung (Abbildungen 4 und 5) wesentlich für einen funktionstüchtigen Zahnersatz. Das natürliche Erscheinungsbild ist in der Abbildung 6 ersichtlich.

Schlussfolgerung

Das vorgestellte Therapiekonzept zur zeitgemäßen Versorgung des zahnlosen Patienten ist im Vergleich zur konventionellen Vorgehensweise einerseits aufwendig, weil die Individualität des Patienten berücksichtigt werden kann, und andererseits vereinfacht, da die Zahnaufstellung auf das Wesentliche und Reproduzierbare reduziert wird. Außerdem werden sämtliche Komponenten des stomatognathen Systems vom Prothesenlager über die Muskulatur bis zu den Kiefergelenken bestmöglich geschont und damit oftmals weitreichende Nachsorgeprobleme vermieden [Grunert und Crepaz, 2003]. Da die Menschen immer älter werden, muss die Schonung des Prothesenlagers oberste Priorität bei der Versorgung des zahnlosen Patienten haben. Dies kann mit eckzahngeführten Totalprothesen in den meisten Fällen erfolgreich realisiert werden.

Zusammenfassung

Die Totalprothetik ist ein spannender Bereich der Prothetik und wird in Zukunft durch die demografische Entwicklung wohl wieder an Bedeutung gewinnen. Es wird ein Konzept mit eckzahngeführten Prothesen vorgestellt, und die Vorteile gegenüber konventioneller Vorgehensweise werden beschrieben. Die grundsätzlichen Prinzipien der Zahnaufstellung sind im Wesentlichen die selben, ob man nun schleimhautgetragene oder implantatgestützte Prothesen anfertigt. Implantate können einen insuffizient hergestellten Zahnersatz nur kurzfristig kompensieren. Man ist daher gut beraten, sich auch weiterhin mit der Totalprothetik zu beschäftigen. Außerdem gehören erfolgreich rehabilitierte zahnlose Patienten zu den dankbarsten in der zahnärztlichen Praxis.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Ingrid GrunertMedizinische Universität InnsbruckDepartment Zahn-, Mund- und Kieferheilkundeund Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniv.- Klinik für Zahnersatz undZahnerhaltungMedizinzentrumAnichstraße 35, A – 6020 Innsbruckingrid.grunert@i-med.ac.at

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