Auswertung einer Fragebogenaktion

So sieht die postendodontische Versorgung in Deutschland aus

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Mit diesem Beitrag soll die Gelegenheit genutzt werden, die Ergebnisse einer deutschlandweiten Umfrage zum Thema der „postendodontischen Versorgung unter Zahnärzten in Deutschland“ darzustellen und zu diskutieren.

Jeder zahnärztliche Kollege wird durch seine universitäre Ausbildung – Stichwort Lehrmeinung – und seine guten und weniger guten Erfahrungen im Laufe der Berufsausübung geprägt und daraus resultierend sein eigenes Behandlungskonzept entwickeln. Aus der wissenschaftlichen Literatur geht sicher hervor, dass mit den heutigen Mitteln endodontisch behandelte Zähne (EBZ) in aller Regel erhalten werden können und nach entsprechender Rekonstruktion funktionell belastbar sind. Allerdings liefert sie dazu meist nur eine Vielzahl von kaum vergleichbaren In-vitro-Untersuchungen, die sich stark auf Materialien fokussieren und deren klinische Übertragbarkeit fraglich ist. Klinische Studien – und somit die aussagekräftigsten Daten – sind rar [1]. 

Es war interessant, zu erfahren, wie die Kollegen – mit dieser Problematik gewissermaßen auf sich allein gestellt – umgehen und welche Behandlungsphilosophien, Konzepte und Strategien zur postendodontischen Restauration in Deutschland existieren. Die im Folgenden dargestellten Umfrageergebnisse sollen ein Abbild davon geben. Insbesondere soll herausgearbeitet werden, wann ein Zahnarzt einen Aufbaustift einsetzt und welche Aufbaustiftmaterialien er hierfür bevorzugt.    

Material und Methode

21 Kassenzahnärztliche Vereinigungen (KZV) der Bundesrepublik Deutschland wurden angeschrieben, um in Verbindung mit einem regulären Rundschreiben Fragebögen an die niedergelassenen Zahnärzte zu versenden. Die Adressaten wurden um Rücksendung per Post oder Fax gebeten. Der Fragebogen wurde nach einer vergleichbaren Umfrage in den USA modifiziert [2]. Es wurden allgemeine personenbezogene Daten, Aspekte zur Behandlungsphilosophie in der postendodontischen Versorgung sowie die in diesem Zusammenhang verwendeten Materialien und Methoden erfragt. Um eine gewisse Behandlungsroutine voraussetzen zu können, wurden nur die Antwortbögen der Zahnärzte in die Analyse eingeschlossen, die angaben, mehr als 30 Zähne im Jahr postendodontisch zu versorgen. Die Erfassung der Daten erfolgte anonym.  

Ergebnisse

Fünf KZV-Bereiche verweigerten die postalische Zustellung der Fragebögen mit einem regulären KZV-Rundschreiben. Somit konnten insgesamt 36 442 Fragebögen versandt werden. Es wurden 6 029 Fragebögen beantwortet. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 16,5 Prozent. Insgesamt gaben 96,7 Prozent (n = 5 832) der Zahnärzte an, mehr als 30 EBZ im Jahr zu versorgen. Ein Prozent (n= 56) machte keine Angaben. Insgesamt standen somit 5832 Datensätze zur weiteren Analyse zur Verfügung.  

Interessanterweise wurden die meisten Fragebögen von Kollegen zurückgesandt, die seit mehr als 30 Jahren in der Praxis tätig sind (35 Prozent, n = 2 039), während auffällig geringes Interesse bei den Zahnärzten mit weniger als fünf Jahren Praxistätigkeit (6,1 Prozent, n = 354) bestand. Dies wäre gut durch die Belastung in der Phase der Praxisgründung erklärbar, während ältere Kollegen stärker die eigene klinische Tätigkeit reflektieren können.  

Fragen zum Behandlungskonzept

Nahezu jeder Vierte (25 Prozent, n = 1 439) ist unabhängig von der Tätigkeitsdauer in fast jedem klinischen Fall (in 91 bis 100 Prozent der Fälle) geneigt, einen Stift bei wurzelkanalbehandelten Zähnen zu inserieren.

Fast jeder Siebente (15 Prozent, n = 851) sieht in mehr als 71 beziehungsweise 80 Prozent der Fälle diese Notwendigkeit. 8 Prozent (n = 220) setzen in nur bis zu 10 Prozent der Fälle einen Stift.

22 Prozent (n = 1 223) erachten eine Stiftinsertion unabhängig von der Berufserfahrung als notwendig, 78 Prozent (n = 4 553) jedoch nicht. 54 Prozent (n = 3 162) halten die Stiftinsertion mit dem Ziel einer Verstärkung des EBZ und verringerter Frakturwahrscheinlichkeit in jedem Fall für angezeigt. 25 Prozent (n = 1 450) schließen sich dieser Auffassung nicht an. Ein stabilisierender Effekt bei adhäsiver Befestigung des Stiftes ist für 13 Prozent (n = 768) wahrscheinlich, für 6 Prozent (n = 373) aber nur beim konventionellen Zementieren. 2 Prozent (n = 141) machten keine Angaben.

Berufsanfänger (bis zu zehn Jahre Berufserfahrung) bezweifeln eher den Verstärkungseffekt eines Stiftes und stehen der adhäsiven Befestigung weniger skeptisch gegenüber. Interessanterweise schreiben nur 5 Prozent davon dem konventionell zementierten Aufbaustift einen verstärkenden Effekt zu, während fast doppelt so viele der über 30 Jahre tätigen Kollegen diese Methode favorisieren.

72 Prozent (n = 4224) sehen einen frakturfestigkeitssteigernden Effekt im Versenken der Präparationsgrenze unterhalb des Aufbauniveaus (ferrule effect/Fassreifeneffekt), jeder Vierte jedoch nicht. 4 Prozent (n = 210) machten keine Angaben. Der Nutzen des „ferrule effect“ wird mit zunehmender Dauer der Praxistätigkeit seltener erkannt.

Aufbaustiftmaterial

Mehr als die Hälfte (55 Prozent, n = 3 182) der Zahnärzte benutzen sowohl konfektionierte als auch gegossene Stiftstumpfaufbauten (SSA) in ihrer Praxis, wobei 34 Prozent (n = 2 002) ausschließlich konfektionierte Aufbaustifte und 19 Prozent (n = 1 082) gegossene SSA verwenden. Interessanterweise setzen 0,4 Prozent (n = 24) keine Aufbaustifte, von denen vier Kollegen explizit angaben, den Stumpf rein adhäsiv aufzubauen.

Eine Aufschlüsselung nach Arbeitsjahren zeigt signifikante Unterschiede. Dabei gilt: Je länger praktiziert wurde, desto häufiger wird entweder ein konfektionierter Stift oder ein gegossener SSA benutzt. Es zeigt sich ein Trend, ausschließlich eine der beiden Vorgehensweisen zu benutzen, je länger praktiziert wird.

Konfektionierte Schrauben mit und ohne Gewindevorschnitt stellen mit einem Anteil von gut 47 Prozent (n = 2 763) das am häufigsten verwendete metallische konfektionierte Stiftsystem dar. Konische Stifte (30 Prozent, n = 1 713) werden häufiger als zylindrische (25 Prozent, n = 1 424) benutzt.

Unter den nicht metallischen Alternativen sind konische Systeme das Mittel der Wahl (15 Prozent, n = 889). Je kürzer praktiziert wird, desto eher wird ein konischer, nicht metallischer Stift genutzt.

Befestigungsmaterial

Zinkoxid-Phosphatzement wird von gut der Hälfte der Zahnärzte als das bevorzugte Befestigungsmaterial benannt (51 Prozent, n = 2 949), wobei die Kollegen mit der längsten Berufserfahrung diesen am häufigsten anwenden.  

38 Prozent (n = 2196) wenden routinemäßig Glasionomerzement (GIZ) an und 15 Prozent (n = 872) präferieren Befestigungskomposite. 7 Prozent (n = 426) verwenden Polycarboxylatzement.

Die Gruppe der 11 bis 20 Jahre Tätigen befestigt interessanterweise am häufigsten adhäsiv (17 Prozent; n = 209) und damit geringfügig häufiger als die Gruppe der Berufsstarter (17 Prozent, n = 61).

Zahnärzte mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung verwenden vergleichsweise selten Befestigungskomposit.

Aufbaumaterial

Als Aufbaumaterialien hat Komposit mit einem Anteil von 51 Prozent (n = 3 000) die weiteste Verbreitung gefunden. Es liegt ein signifikanter Zusammenhang zur Dauer der Praxistätigkeit vor, wobei im Gegensatz zur adhäsiven Stiftzementierung die länger als 30 Jahre tätigen Kollegen am häufigsten Komposit einsetzen (54 Prozent, n = 1 095) und damit auch häufiger als Berufsanfänger (51 Prozent, n = 180).

Je länger die Praxis geführt wird, desto seltener werden GIZ oder modifizierter GIZ genutzt. Amalgam spielt heutzutage in Deutschland offenbar keine Rolle als Aufbaumaterial. Nur 0,5 Prozent (n = 27) benutzen weiterhin Amalgam.

Aufbaustiftindikation

Konfektionierte Stiftsysteme werden für ein- oder mehrwurzelige Zähne in Abhängigkeit von der geplanten Rekonstruktion (Einzelkrone, Brückenpfeiler, Teleskop) klar bevorzugt. Nur bei einwurzeligen Zähnen, die als Teleskoppfeiler vorgesehen sind, werden gleich häufig konfektionierte beziehungsweise gegossene SSA verwendet. Für Einzelkronen ist offenbar unabhängig von der Berufserfahrung und des Pfeilerzahnes der konfektionierte Aufbaustift in Verbin dung mit einem plastischen Aufbau das Mittel der Wahl.

Misserfolge

Als häufigste Misserfolgsursache (43 Prozent, n= 2 500) werden Retentionsverluste noch vor endodontischen Problemen (36 Prozent, n= 2 084) angegeben. Die Misserfolgsursache „Retentionsverlust“ wird mit zunehmender Dauer der zahnärztlichen Tätigkeit häufiger angegeben, was eventuell sehr gut mit der häufigeren Anwendung der konventionellen Befestigung – wie weiter oben beschrieben – korrelieren könnte. Wurzelfrakturen sind die dritthäufigste Misserfolgsursache (26 Prozent; n= 1 539).

Der Anteil beobachteter Kronenfrakturen ist vergleichsweise gering (15 Prozent, n= 897) und unabhängig von der Berufserfahrung. Bemerkenswerterweise erreicht nach bis zu 20 Jahren Berufserfahrung die Zahl der Kollegen, die ohne Misserfolge therapieren, mit gut 5 Prozent (n= 63) den niedrigsten Wert. Die Zahl derer, die stets einen Behandlungserfolg verzeichnen, ist gering (7 Prozent; n= 381) und am häufigsten (11 Prozent; n= 40) unter den Praxisanfängern. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Es müssen erst einige Jahre vergehen, um ermüdungsbedingte Versagen zu beobachten.

Diskussion

Die Tatsache, dass mehr als 97 Prozent der Antworten mehr als 30 EBZ im Jahr versorgen, zeigt, dass es sich um ein absolut praxisrelevantes Thema handelt. Allerdings sind sehr deutlich die Unsicherheiten in Bezug auf Indikation und den zu erwarteten Nutzen eines Aufbaustiftes anhand der Umfrageergebnisse abzulesen:

Mit 78 Prozent ist eine überwältigende Mehrheit nicht der Meinung, dass jeder EBZ mit einem Stift versorgt werden muss. Dieses Ergebnis entspricht fast exakt dem einer vergleichbaren Untersuchung in der Schweiz [3]. Das verwundert, da mit knapp 74 Prozent ähnlich viele einen (zahnwurzel-) verstärkenden Effekt eines Aufbaustiftes sehen. Eine Interpretation dessen wäre, dass sich die Mehrheit der Zahnärzte bewusst ist, dass nicht in jeden EBZ ein Stift inseriert werden muss, obwohl sie doch an einen verstärkenden, festigkeitssteigernden Effekt glauben.

Die Stiftsetzung erfolgt somit quasi „sicherheitshalber“ oder aus Sorge, einen Fehler zu begehen. Das ist Ausdruck dafür, dass im Grundsatz eine pro Aufbaustift ausgerichtete Therapiestrategie besteht. 24 Prozent, davon überdurchschnittlich viele berufserfahrene Zahnärzte, glauben nicht an den Nutzen einer zirkulären Umfassung („ferrule effect“, Fassreifeneffekt) der Zahnwurzel durch eine definitive Restauration. Die Zahl derer, die eine festigkeitssteigernde Funktion sehen, ordnet sich mit 72 Prozent zwischen 56 Prozent in den USA [2] beziehungsweise 97 Prozent in der Schweiz [3] ein.

Während in der Schweiz [3] der gegossene SSA „Gold-Standard“ ist, lässt sich dies in Deutschland nicht bestätigen. Es bleibt die Frage, welche Entscheidungskriterien zum bevorzugten Einsatz des konfektionierten gegenüber dem gegossenen Stiftsystem führen. Da hierzu aber keine wissenschaftlichen Daten existieren, bleiben die Kollegen mit der Entscheidungsfindung vorerst allein. Die hohe primäre Retention einer Schraube auch bei geringer Insertionstiefe, könnte für deren häufigste Anwendung unter den konfektionierten Stiftformen ausschlaggebend sein [4]. In der Schweiz sind es nur 4 Prozent [3]. Diese Vermutung liegt nahe, da analog der Untersuchung in der Schweiz [3] der Retentionsverlust als häufigste Misserfolgsursache benannt wird.

Allerdings wird mit der Retention auch eine massive Spannungsinduktion, die zur Wurzelfraktur führen kann [5], in Kauf genommen.

Dies deckt sich wiederum gut mit den Umfrageergebnissen, denn Wurzelfrakturen werden als zweithäufigste Misserfolgsursache beobachtet. Analog zur Schweiz ist Zinkoxidphosphatzement das Befestigungsmaterial der Wahl. GIZ (Glasionomerzement) ist in den USA (44 Prozent) und Deutschland (38 Prozent) ähnlich populär. Immerhin 15 Prozent ziehen analog zur Schweiz [3] adhäsives Befestigen mit Komposit in Betracht.

Fazit

Die Frage nach dem optimalen Aufbaustiftsystem kann bisher nicht auf Basis von klinischen Studien über einen ausreichend langen Zeitraum, mindestens aber über fünf Jahre, beantwortet werden [6]. Ein Konsens besteht jedoch darüber, dass der Betrag der verbleibenden Zahnhartsubstanz – Anzahl der verbleibenden Kavitätenwände – ein Schlüsselfaktor für die Erfolgswahrscheinlichkeit (post-) endodontisch versorgter Zähne ist [7-9]; worauf das Konzept des „ferrule effect“ letztlich basiert [10].

Empfehlungen in Bezug auf die postendodontische Versorgung sind als wissenschaftliche Stellungnahme auf der Homepage der DGZMK (www.dgzmk.de) mit dem Titel „Aufbau endodontischer Zähne“ (Stand 2003), Untermenü „wissenschaftliche Stellungnahmen“, zusammengefasst.

Priv.-Doz. Dr. Michael NaumannAbteilung für Zahnärztliche Prothetik und AlterszahnmedizinCharitéCentrum 3Charité – Universitätsmedizin BerlinAßmannshauser Str. 4 - 6, 14197 Berlinmichael.naumann@charite.de 

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