Gastkommentar

Wachstumsbremsen lösen

Das Gesundheitssystem bietet gigantische Wachstumschancen. Doch die Politik tritt auf die Bremse – zum Schaden aller.

Dr. Dorothea Siems
Wirtschaftskorrespondentin der Welt, Berlin

Es ist paradox: Vermelden hierzulande die Automobilindustrie oder die Tourismusbranche steigende Umsätze, wird dies als positives Konjunktursignal bejubelt. Wachsen hingegen die Ausgaben für Gesundheit, gibt es einen Aufschrei, und die Politik sucht nach Wegen zur Kostendämpfung.

Dabei wird meist völlig übersehen, dass die Medizinbranche zum bedeutendsten Wachstumsmarkt Deutschlands avanciert ist. Mittlerweile arbeiten hier 4,2 Millionen Beschäftigte und damit mehr als in der Automobil- oder Elektroindustrie. Die Deutsche Bank resümierte jüngst in einer Studie, dass die Gesundheitssparte in den vergangenen zehn Jahren zum „Zugpferd“ der hiesigen Wirtschaft geworden sei. Wirtschaftsexperten schätzen, dass bis 2020 rund 1,3 Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen könnten. Treibende Faktoren sind die Alterung der Gesellschaft und der medizinische Fortschritt. Auch wachsen die Ansprüche der Bevölkerung. Doch der prophezeite Boom in der Gesundheitswirtschaft wird nur dann kommen, wenn die Wachstumsbremsen gelöst werden.

Das größte Problem liegt in der Finanzierung der Krankheitskosten. Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung sind an die Lohnkosten gekoppelt. Jeder Beitragsanstieg treibt somit die Arbeitskosten in die Höhe, macht die Produktion deutscher Güter teurer und vergrößert für die Betriebe den Anreiz, Personal einzusparen. Dies ist der Grund, warum Politiker und Arbeitgeber allergisch auf jeden Ausgabenanstieg in der gesetzlichen Krankenversicherung reagieren.

Hinzu kommt, dass die Versicherten einen kontinuierlichen Anstieg der Beitragssätze nicht unbegrenzt akzeptieren. Zumal viele Kassenpatienten nicht zu Unrecht das Gefühl haben, dass sie immer mehr zahlen müssen, aber immer weniger dafür bekommen. So wurden in den vergangenen Jahren nicht nur Leistungen wie etwa rezeptfreie Medikamente aus dem Angebot der Kassen gestrichen. Auch führen die staatlichen Sparvorgaben bei den Medikamenten oder in den Krankenhäusern dazu, dass gesetzlich Versicherte mitunter nicht mehr nach dem neusten Stand der Wissenschaft behandelt werden. Patienten werden zu früh aus den Kliniken entlassen. Niedergelassene Ärzte sind durch die Sparvorgaben gehindert, Kranken neue, nebenwirkungsärmere Präparate zu verordnen, wenn es billigere Alternativen gibt. Längst hat die Rationierung von Leistungen im hiesigen Gesundheitssystem Einzug erhalten – nur wollen dies die politisch Verantwortlichen nicht zugeben.

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

Rationierung hat indes nicht nur eine schlechtere Gesundheitsversorgung zur Folge, auch volkswirtschaftlich ist der Schaden beträchtlich, weil Wachstumschancen ungenutzt bleiben. Denn der Staat neigt dazu, weit mehr an der Gesundheit zu sparen, als dies der Einzelne tun würde. Hinzu kommt, dass ein weitgehend staatlich regulierter Gesundheitsmarkt in der Regel zu uneffizienteren Strukturen führt.

Was also ist zu tun, damit das gewaltige Wachstumspotenzial in diesem Sektor ausgeschöpft werden kann, ohne dass die Kassenbeiträge in schwindelerregende Höhen klettern? Nötig wären mehr Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern und mehr Wahlmöglichkeiten für die Patienten. Überdies sollte die Versicherungspflicht auf medizinische Grundleistungen beschränkt werden. Die Versicherten könnte sich dann für spezielle Zusatzangebote wie Zahnbehandlung oder Kuren zusätzlich versichern. Auf diese Weise könnte jeder Einzelne sich ein seinen individuellen Bedürfnissen entsprechendes Leistungspaket zusammenstellen.

Gesundheit gilt gemeinhin als wichtiges, für viele sogar wichtigstes Gut. Das zeigt sich auch daran, dass die Deutschen privat immer mehr Geld für medizinische Leistungen und Wellness-Angebote ausgeben. So bezahlt der eine die Kosten alternativer Heilmethoden aus eigener Tasche, ein anderer findet Anti-Aging- Behandlungen unverzichtbar. Die Bedürfnisse der Menschen werden immer differenzierter, ebenso die medizinischen Angebote. Das Einheitsangebot der Krankenkassen wird dieser Vielfalt nicht gerecht. In einem liberalisierten System stiegen die Gesundheitsausgaben in Zukunft insgesamt stärker an, als dies bei einer Fortsetzung der sattsam bekannten Kostendämpfungspolitik der Fall sein dürfte. Doch eine solche Entwicklung entspricht in einem wohlhabenden Land mit einer älter werdenden Bevölkerung durchaus den Bedürfnissen der Menschen.

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.