Wenn sich der Patient nicht richtig äußern kann

Schmerzdiagnostik bei Behinderten

Die Schmerzerkennung und -erfassung bei Patienten mit Behinderungen kann problematisch sein. Reaktionen auf Schmerzen unterscheiden sich durchaus bei dieser Patientengruppe von denen bei Menschen ohne Behinderungen. Das stellt Ärzte und Zahnärzte oft vor eine große Herausforderung. Denn generell sollten sie nach den gleichen therapeutischen Grundsätzen behandelt werden wie Patienten ohne Behinderungen. Das Behandlungsergebnis dieser beiden Gruppen darf sich also nicht voneinander unterscheiden.

Etwa zehn Prozent der Bürger in der Bundesrepublik Deutschland haben eine Behinderung. Diese heißt nicht nur Trisomie 21, Rollstuhl oder Unterbringung in einem Pflegeheim. Sondern viele Menschen mit dieser Einschränkung nehmen mehr oder weniger am ganz normalen Gesellschaftsleben teil.

Diese besondere Patientengruppe ist oft schmerzhaften Prozeduren im Rahmen diagnostischer und therapeutischer Eingriffe ausgesetzt. Viele dieser Menschen haben Schwierigkeiten, ihr subjektives Empfinden, also den Schmerz, den sie empfinden, ihrer Umwelt adäquat mitzuteilen. Somit fällt ein entscheidender Faktor – der Eigenbericht des Patienten – über das Vorhandensein, den Charakter, die Intensität und die Lokalisation des Schmerzes für eine korrekte Erfassung weg. Diese Schmerzen werden möglicherweise noch von übersteigerten Ängsten oder Angstneurosen überlagert. Ängste, die gehäuft bei multimorbiden Patienten oder Patienten mit Behinderungen vorkommen, verzerren den sowieso schon mehr oder weniger spärlichen Eigenbericht noch zusätzlich.

Änderung der Schmerzsymptomatik

Studien belegen, dass sich Menschen mit Entwicklungsstörungen bei Schmerzen anders verhalten als Menschen ohne Entwicklungsstörungen. Sogar vegetative Reaktionen bei Schmerzen (wie Beschleunigung der Herzfrequenz, Hautrötung und Hautblässe) entsprechen nicht den Veränderungen wie sie bei Patienten ohne Behinderungen zu beobachten sind.

Personen mit leichter und mittelschwerer Intelligenzminderung zeigen nur eine reduzierte Fähigkeit, Schmerzen präzise auszudrücken. Sie zeigen Schmerzen häufig zeitlich verzögert und zeigen weniger deutlich ein erkennbares Schmerzverhalten. Bei Personen mit starker Intelligenzminderung beobachtet man eigenartige Reaktionen auf Schmerzen, die sich in abrupten, zunächst nicht erklärbaren Änderungen des Verhaltens äußern, auch im Sinne eines plötzlichen Verschwindens habitueller Bewegungsunruhe oder stereotypen Verhaltens. Die korrekte Schmerzerfassung wirft im klinischen Alltag Probleme auf und mündet in Unsicherheiten im Umgang von medizinischem Fachpersonal mit Schmerzen bei Patienten mit eingeschränkter Kommunikation. Oft sind auch erfahrene Schmerztherapeuten unentschlossen bei der Interpretation der Schmerzintensität und Schmerzlokalisation.

Personal muss den Schmerzblick schulen

Es ist wichtig, dass medizinisches Fachpersonal sensibilisiert und geschult ist, das Vorhandensein von Schmerzen bei Menschen mit Behinderungen zu erkennen und Schmerzen systematisch zu erfassen. Dass hier großer Handlungsbedarf besteht, unterstreichen Untersuchungen, die zeigen, dass durch eine verzögerte Erfassung von Schmerzen bei Patienten mit geistiger Behinderung und akuten abdominalen Prozessen, die postoperative Morbidität und Mortalität erschreckend hoch und deutlich oberhalb des Erwartungsbereichs liegen.

Zahnärzte sind zum Glück deutlich seltener in lebensbedrohliche Prozesse involviert, aber auch Zahnärzte müssen sich mit dem Thema Schmerzen bei Patienten mit eingeschränkten kommunikativen Fähigkeiten auseinandersetzen.

Der orale Gesundheitszustand von Patienten mit Behinderungen wird häufig bestimmt durch die motorische und geistige Unfähigkeit zu einer ausreichenden persönlichen Zahnpflege und die daraus resultierende Plaqueakkumulation. In Verbindung mit einer kohlenhydratreichen Ernährung und fehlenden Fluoridierungsmaßnahmen können bei diesen Patienten ausgedehnte kariöse Destruktionen festgestellt werden. Darüber hinaus kann eine dauerhaft bestehende Belagsbildung zu schweren gingivalen Entzündungszuständen und bei den dafür empfänglichen Patienten zu einem Abbau zahntragender Strukturen führen. Im Verlauf der Erkrankung kann es zu mehr oder weniger starken Schmerzen an den Zähnen und / oder dem Zahnhalteapparat kommen.

Nicht nur die Behandlung sondern auch die Diagnostik ist bei Patienten mit Behinderungen häufig nur unter ungünstigen Bedingungen und mit großen Schwierigkeiten möglich. Ist der Vertrauensaufbau über die sprachliche Komponente beispielsweise aufgrund geistiger Einschränkungen nicht möglich, bleibt nur die Möglichkeit der zahnärztlichen Behandlung in Allgemeinanästhesie.

Dr. Sabine JaschinskiProf. Dr. Peter CichonUniversität Witten/HerdeckeFakultät für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Ambulanz für spezielle zahnärztliche Betreuung

Dr. Peter MartinLeitender Arzt Séguin-Klinik Epilepsiezentrum KorkLandstraße 177694 Kehl-Kork

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