Anti-Aging-Medizin

Für immer jung

Die Anti-Aging-Medizin ist eine der jüngeren Disziplinen. Immer mehr Menschen wünschen sich medizinische Unterstützung im Kampf gegen Falten und nachlassende Leistungsfähigkeit. Die Medizin hat reagiert und bedient diese Wünsche. Der Übergang von seriöser Medizin zu unhaltbaren Versprechungen ist allerdings fließend – je nach dem, was genau unter „Anti-Aging“ verstanden wird. Die Fragen, was gesundes und vitales Altern ausmacht und wie man das Älterwerden auch als Lebenschance begreifen kann, berühren dabei auch ethische Aspekte und das Selbstverständnis des Arztes.

Es ist gerade mal gut hundert Jahre her, da lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei knapp über 40 Jahren. Nicht behandelbare Infektionskrankheiten und eine hohe Säuglingssterblichkeit sorgten für ein entsprechend kurzes Leben. Mit dem Fortschritt der Medizin hat sich diese Situation dramatisch gewandelt – heute Geborene leben im Schnitt bereits rund doppelt so lang. Viele Menschen erreichen das Rentenalter bei guter Gesundheit und genießen den letzten Lebensabschnitt – sie sind aktiv, treiben Sport, reisen und engagieren sich für Gesellschaft oder Familie.

Doch die längere Lebenserwartung hat auch ihre Schattenseiten. Chronisch degenerative Alters- und Zivilisationskrankheiten machen das letzte Lebensdrittel für viele Menschen beschwerlich. Herz-Kreislauf-Leiden, Rheuma oder Diabetes sind die typischen Krankheiten des Alters und stören das Bild von den „fitten Alten“.

Die Lösung des Problems liegt nahe: Anti-Aging-Medizin. „Dem Alter ein Schnippchen schlagen und möglichst lange aktiv und lebensfroh bleiben – der verständliche Wunsch vieler Menschen nach einem Jungbrunnen hat zu einem wahren Anti-Aging-Boom in Deutschland geführt“, heißt es in einer Pressemitteilung der Bundesärztekammer zum 34. Interdisziplinären Forum „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“. Ihre Befürworter halten diesen Teilbereich der Medizin für eine der wichtigsten Innovationen im Medizinbetrieb der letzten Jahre. Kritiker sehen in der Anti-Aging-Medizin eine dem Zeitgeist folgende Lifestyle-Medizin, die das Alter zur Krankheit erklärt.

Kein homogenes Fachgebiet

Der Begriff der Anti-Aging-Medizin wird gegenwärtig von Vertretern verschiedener Fachrichtungen und von ganz unterschiedlichen Sparten des Gesundheitsmarktes belegt, ohne dass er ein homogenes Fachgebiet darstellt. Unter diesem Sammelbegriff werden nicht nur verschiedene medizinische Disziplinen wie Endokrinologie, plastische Chirurgie oder Sportmedizin subsummiert, sondern auch eine kaum noch überschaubare Anzahl von Therapien und Produkten, die eigentlich den Bereichen Wellness, Kosmetik oder Paramedizin zuzuordnen wären.

Dementsprechend vielfältig sind auch die Definitionen von Anti-Aging. Im Einführungskapitel des „Kursbuch Anti-Aging“, das im renommierten Thieme-Verlag erschienen ist, postuliert der Mitherausgeber Günther Jacobi, ein hohes Alter sei nur in Leistungsfähigkeit erstrebenswert. Anti-Aging-Medizin sei demnach das „Bestreben, beim Älterwerden funktionstüchtig zu bleiben“. In einer Publikation des Journal of Gerontology wird Anti-Aging-Medizin hingegen definiert als „jede Intervention, die eine Entwicklung von altersabhängigen Erkrankungen sowie andere altersbedingte Veränderungen herauszögert, welche nicht offiziell als Krankheiten betrachtet werden“. Die „American Academy of Anti-Aging Medicine“ wiederum verspricht sehr explizit, mit ihren Methoden Alterserscheinungen rückgängig zu machen – und etwa die geistige Leistungsfähigkeit heraufzusetzen, Falten zu beseitigen und die Potenz zu steigern.

Medizin gegen das Altern

Die unterschiedlichen Ausprägungen der Anti-Aging-Medizin reichen von fast schon absurden Versprechungen eines unbegrenzten, beschwerdefreien und omnipotenten Lebens bis hin zu einer reduzierten Selbstdefinition als reine Präventivmedizin mit dem Ziel, den Körper fit und gesund zu erhalten – und so das biologische Alter „herabzusetzen“.

Gibt man den Begriff „Anti-Aging“ bei Google ein, erhält man rund 22 Millionen Treffer. Ein milliardenschwerer Markt. In einer Gesellschaft, in der Jugend und Leistungsfähigkeit einen immer höheren Stellenwert erhalten, lassen sich mit Angeboten gegen das Altern gute Geschäfte machen. Gerade im Internet wird die Angst der Menschen mit fragwürdigen Therapieangeboten bedient, werden nutzlose Pillen oder fragwürdige Behandlungen angeboten.

Dr. Bernd Kleine-Gunk, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging-Medizin, will sich von solchen Angeboten abgrenzen und nennt die Ziele einer seriösen Anti-Aging-Medizin (AAM): „Die Anti-Aging-Medizin ist eine anspruchsvolle medizinische Disziplin und erfordert fachübergreifende Kenntnisse. Im Kern geht es uns darum, mithilfe präventiver Maßnahmen ein möglichst gesundes und vitales Altern zu ermöglichen. Hauptrisikofaktoren für die großen Volks- und Zivilisationskrankheiten wie Arteriosklerose, Osteoporose, Diabetes, Demenz und Krebs – soviel ist heute bekannt – sind in erster Linie die Alterungsprozesse. Die genannten Erkrankungen sind zwar altersassoziiert, aber nicht schicksalhaft. Sie lassen sich über Faktoren wie Ernährung, körperliche Betätigung, Lebensstil und auch über die Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln, Hormonen oder Pharmaka beeinflussen. Genau dies ist der Ansatz der Anti-Aging Medizin in ihrer seriösen Form.“ Es sei die Aufgabe der AAM, so Kleine-Gunk, die Biologie des Alterns weiter zu erforschen und auf diesen Erkenntnissen aufbauend mit gezielten Strategien gegen die Degeneration im Alter vorzugehen.

Beim Lebensstil ansetzen

Für Kleine-Gunk fängt Anti-Aging demzufolge nicht im Arztzimmer, sondern bereits beim Lebensstil des Patienten an. Wer glaubt, er müsse weiter rauchen, brauche seine Ernährung nicht umstellen und könne auch künftig auf Sport verzichten, dem könne auch ein Anti-Aging-Mediziner nicht helfen. Kleine-Gunk sieht hier zunächst eine Bringschuld des Patienten: „Basis für ein gesundes Altern ist der vernünftige Lebensstil – und dazu gehört für mich neben einer ausgewogenen Ernährung auch der Verzicht auf Nikotin- oder Alkoholabusus. Wenn ich das meinen Patienten sage, muss der ein oder andere schon erst mal schlucken.“

Wenn aber diese Grundsatzfrage geklärt und eine entsprechende Bereitschaft vorhanden sei, könne die AAM mit verschiedenen Therapien beginnen, beispielsweise mit Nahrungsergänzungsmitteln. Gegen Arteriosklerose habe sich etwa die regelmäßige Einnahme von Omega3-Fettsäuren als wirksam erwiesen, erklärt Kleine-Gunk. Eine hochdosierte Vitamin-E-Therapie habe hingegen in zwei Studien positive Ergebnisse für die kognitive Leistung und Alzheimervorbeugung gezeigt. Ein weiterer Ansatz zur Prävention altersbedingter Erkrankungen ist die Pharmakotherapie, bei der beispielsweise mit Statinen der Fettstoffwechsel verbessert werden soll.

Hormone als Jungbrunnen

Eines der umstritteneren Angebote der seriösen Anti-Aging-Medizin ist die Hormonersatztherapie. Dass im Alter die Konzentration verschiedener Hormone deutlich sinkt, ist seit Langem bekannt. Neben den weiblichen und männlichen Geschlechtshormonen sind dies auch das Nebennierenrindenhormon DHEA, das Zirbeldrüsenhormon Melatonin und das Hypophysenvorderlappenhormon Somatotropin (Human Growth Hormone – HGH). Die Anti-Aging-Medizin behauptet nun, dass der Hormonspiegel nicht etwa sinkt, weil der Mensch altert, sondern umgekehrt – der Mensch altert also angeblich, weil der Hormonpegel sinkt. Die Hormonersatztherapie soll somit das Absinken des Hormonspiegels verhindern und den Alterungsprozess aufhalten.

Die Anhänger dieser sogenannten neuroendokrinen Theorie berufen sich auf die langen positiven Erfahrungen der Hormonersatztherapie in den Wechseljahren von Frauen. Die gezielte Östrogen- und Gestagensubstitution lindert bekanntlich nicht nur die klimakterischen Beschwerden, sondern hat unter anderem auch positive Effekte auf den Knochenstoffwechsel. Daher galt die Hormonersatztherapie lange Zeit auch als geeignetes Mittel zur Osteoporoseprophylaxe. Mögliche Risiken und Nebenwirkungen der Hormonersatztherapie sind kaum beachtet worden.

Dies wird von einer Vielzahl an Wissenschaftlern mittlerweile deutlich anders beurteilt. Neuere Studien, insbesondere die amerikanische WHI-Studie (Women’s Health Initiative), haben ergeben, dass bei vielen Studienteilnehmerinnen das Risiko für Brustkrebs, Herzinfarkt oder Thrombosen durch die Östrogengabe deutlich erhöht war. Allerdings seien die Ergebnisse, je nach Art der Auswertung, widersprüchlich gewesen, meint Kleine-Gunk. „Die ambivalente Studienlage zwingt uns zu einer differenzierteren Betrachtung der Hormonersatztherapie. Der individuelle Fall muss abgewogen werden. Wenn therapiert werden muss, sollte im Niedrigdosisbereich gearbeitet werden.“ Kleine-Gunk nimmt die Bedenken gegen die Hormonersatztherapie ernst und verdeutlicht, dass die Postmenopause keinesfalls eine „Hormonmangelerkrankung“ sei, die eine zwangsläufige Hormongabe erfordere. Die Hormonersatztherapie sei vielmehr eine pharmakologische Intervention, bei der das Nutzen-Risiko-Verhältnis sehr genau abgewogen werden müsse. Gleiches gelte für die Androgensubstitution des Mannes oder die Gabe von Wachstumshormonen.

Mit Botox gegen das äußere Alter

Wo Arzneimittel und Hormone versagen und man das Altern des Körpers nicht verbergen will, bekommt die plastische Chirurgie ihre Chance. Botoxspritzen und plastische Chirurgie sollen der Haut ein jugendliches frisches Aussehen zurückgeben und das tatsächliche Alter eines Menschen verschleiern. Auch diese Therapieformen gehören zur Anti-Aging-Medizin. Wo eine Nachfrage vorhanden ist, reagiert die Medizin und bietet ein entsprechendes Angebot – so funktioniert nun mal der Markt.

Doch spätestens hier sehen Kritiker Anti-Aging in einem Grenzbereich der Medizin. Im Rahmen des Symposiums „Medizin als Mittel gegen das Altsein?“ beanstandete etwa der Freiburger Medizin-Ethiker Prof. Giovanni Maio vom „Institut für Ethik und Geschichte der Medizin“ eine allzu unkritische Sichtweise der AAM. Tatsächlich betreibe diese eine Pathologisierung des Alters, da eine leichte Einschränkung der Leistungsfähigkeit bereits als fehlende Gesundheit, und daher als zu behandelnde Krankheit betrachtet werde.„Die sogenannte Anti-Aging-Medizin ist ein prägnantes Beispiel für den grundlegenden Wandel der modernen Medizin. Statt Krankheiten zu verhindern und zu behandeln, stehen Ärzte immer öfter im Dienst der Selbstverwirklichung eigentlich gesunder Menschen. Als neue medizinische Leitideen gelten der souveräne und autonome Patient sowie eine kundenorientierte Dienstleistung des Arztes.“ Gerade der Boom der AAM werfe die grundsätzliche Frage auf, was der eigentliche Auftrag der Medizin sei und ob alleine der Wunsch eines Patienten die Grundlage eines guten und richtigen Handelns in der Medizin sein könne.

Altern wird zur Krankheit

Indem Anti-Aging-Maßnahmen von Ärzten angeboten und durchgeführt werden, wird ein bislang als natürlich empfundener Alterungsprozess zum krankhaften Zustand erklärt, sagt Maio, der auch im Ausschuss der Bundesärztekammer für ethische Grundsatzfragen sitzt. Nicht zuletzt mache sich die Medizin so zum Komplizen eines Zeitgeistes, der Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit auf ein Podest erhebe und eine negative Sicht auf das Alter immer weiter verstärke.

Mit der Anpreisung von Anti-Aging-Mitteln suggeriere die Medizin den Menschen, dass sie auch im Altsein noch so sein können – und sollen – wie Menschen im mittleren Lebensabschnitt. Denn genau dies geschehe, so Maio, im Zuge der Anti-Aging-Medizin: Die Merkmale, die für den mittleren Lebensabschnitt spezifisch sind, werden im Zuge der Anti-Aging-Medizin auch auf die nächste Lebensphase übertragen. Was für den mittleren Lebensabschnitt „gut“ ist, muss in dieser Logik auch für das Lebensalter des Älteren gut sein.

Maio sieht in der Entwicklung eines solchen Leitbildes vom leistungsfähigem Alten eine große Gefahr. Die AAM werde einen hohen Konformitätsdruck auf all jene ausüben, an denen das Alter eben nicht spurlos vorübergeht, die im Alter schneller müde werden, deren Gedächtnisleistung langsam nachlässt.

Immer stärker wird das Leitbild unserer Gesellschaft von Leistungsoptimierung und maximaler Effizienz geprägt. Und das beginnt nicht erst im Alter. Englisch als Fremdsprache im Kindergarten, eine möglichst schnelle und somit verkürzte Schulzeit oder ein Blitzstudium sind die nach außen sichtbaren Zeichen eines gesellschaftlichen Wandels. Das Anforderungsprofil an Studenten und Berufstätige wird immer höher. Wer bei diesem hohen Leistungspensum nicht „multitaskingfähig“ ist und die verschiedensten Anforderungen von Studium, Familie, Beruf oder Freizeit nicht erfüllt, greift notfalls auch auf medizinische Hilfe zurück. Hirndoping, auch Neuro-Enhancement genannt, ist die pharmakologische Nachhilfe für den eigentlich völlig gesunden Körper.

Ritalin gehört – neben verschiedenen Aufputschmitteln wie etwa Ephedrin – zu den beliebtesten Medikamenten: Es ist relativ leicht zu bekommen und erhöht die Konzentration und Leistungsfähigkeit eines Erwachsenen um ein Vielfaches. Der Nachteil: Es hat ein hohes Suchtpotenzial. Bereits nach einer kurzen Zeit lässt sich der „positive“ Effekt nur noch mit immer höheren Dosen aufrechterhalten – bis der Körper zusammenbricht.

Ein Blick in die USA zeigt, dass dort Neuro-Enhancement bereits weit verbreitet ist – unter Studenten, Wissenschaftlern oder Börsenmaklern. Und nicht nur dort: Als das renommierte Wissenschaftsmagazin „Nature“ vor zwei Jahren 1 400 Menschen aus 60 Ländern befragte, gab jeder Fünfte an, Medikamente zu nehmen, die die Aufmerksamkeit, die Konzentration oder das Gedächtnis verbessern.

Anti-Aging für den Kopf

Laut einer anonymen Umfrage der Deutschen Angestellten Krankenkasse haben hochgerechnet zwei Millionen Deutsche schon mindestens einmal versucht, ihren Kopf chemisch aufzurüsten. Etwa 800 000 tun dies sogar regelmäßig. Eine Gruppe von Wissenschaftlern hat sich, gefördert von der Bundesregierung, drei Jahre lang dem Phänomen Neuro-Enhancement in Deutschland gewidmet – mit erschreckenden Einsichten. Einer von ihnen ist Dr. Mathias Berger, Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie des Uni-Klinikums Freiburg. Er befürchtet, dass „Gehirndoping“ massenhafte Auswüchse annehmen könnte. Das Internet verringere die Hürden, an leistungssteigernde Medikamente zu gelangen, sagt Berger. Und diese Entwicklung mache auch vor älteren Menschen nicht halt. Der Wunsch, im Alter „optimal leistungsfähig zu sein“, lasse auch sie zu solchen Mitteln greifen. Die Konsequenz dieser Anti-Aging-Medizin für den Kopf: Der Druck auf andere ältere Menschen, ihr Gehirn aufzupeppen, werde künftig „sicher extrem steigen“, prophezeit Berger, sobald deren geistige Frische nachlasse.

Wertewandel

Die Medizin – und nicht nur die Anti-Aging-Medizin – muss sich nun fragen, wie sie mit einem solchen gesellschaftlichen Wandel umgehen will. Der Medizin-Ethiker Maio sieht einen fundamentalen Wandel der Werte in der Medizin und fordert deshalb eine kritische Diskussion innerhalb der Profession. Letztendlich aber muss sich auch jeder Arzt selber fragen, ob und inwieweit er an einer Gesellschaft mitarbeiten möchte, die für immer jung sein will.

Otmar MüllerGesundheitspolitischer Fachjournalistmail@otmar-mueller.de

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.