Fortbildungskongress

Rund ums Risiko

Mit einer Rekordbeteiligung von 10 000 Besuchern einschließlich der Industrieausstellung und rund 4 000 Teilnehmern am Wissenschaftlichen Kongress präsentierte sich das Fortbildungsprogramm. Zwar tagte die DGZMK dieses Mal ohne andere Fachgesellschaften, hatte aber mit „Risikoerkennung und Risikomanagement“ ein Thema gewählt, das alle Fachbereiche der Zahnmedizin beteiligte und damit auch „jeden Zahnarzt am Stuhl“ angeht, wie es DGZMK-Präsident Prof. Dr. Dr. Henning Schliephake bei der Kongresseröffnung formulierte.

So wurde das Risiko, das der aufgrund des derzeitigen demografischen Wandels immer ältere Patient mit zur Behandlung bringt, von allen Seiten unter die Lupe genommen. Hier ging es nun in allen Fachbereichen der Zahnmedizin um Fragen des Risikoerkennens, des Risokomanagements und letztendlich darum, wie in einer Risikosituation therapiert werden soll. 191 Referenten lieferten in 190 Vorträgen und Seminaren Daten und Fakten, so dass alle Teilnehmer mit einem enormen Wissenszuwachs und weit geöffneten Augen in eine sicherlich für sie ab jetzt veränderte Arbeitssituation durchstarten konnten.

Bei der Fülle der vielen Parallelveranstaltungen kann an dieser Stelle nur ein Überblick über einzelne Veranstaltungen gegeben werden, und jeder Zahnarzt hatte ja sicherlich schon im Vorfeld für sich die wichtigsten und interessantesten Vorträge mit Rotstift markiert und sich damit ein individuelles Kongresspaket geschnürt, das es in zwei mit Wissen vollgestopften Tagen abzuarbeiten galt. Denn „Zahnmedizin und Medizin sind schnelllebig und, wenn man am Puls der Zeit bleiben will, muss man Wissen in immer kürzeren Abständen aufnehmen“, postulierte der hessische Kammerpräsident und damit Mit-Gastgeber des Deutschen Zahnärztetages, Dr. Michael Frank, in seiner Begrüßungsrede. „Und das vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Anforderungen wie zum Beispiel der Qualitätssicherung“, unterstrich Dr. Michael Rumpf, Kammerpräsident von Rheinland-Pfalz, dessen Bundesland Mit-Ausrichter der Tagung war. „Fortbildung nützt nicht nur dem Zahnarzt selbst, sondern vor allem dem Patienten“, sagte er.

Ein im Film brilliant aufbereitetes Feuerwerk von „bad news“, die die Welt in den letzten 30 Jahren erschütterten, lieferte den Einstieg in das Generalthema und damit auch in den Vortrag des Risikoforschers Prof. Dr. Gerd Gigerenzer, Berlin, 2011 Preisträger des Communicator-Preises der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Er machte deutlich, was Risiko eigentlich bedeutet und wie es zu berechnen ist. Anhand diverser Beispiele aus dem täglichen Leben verblüffte er die Zuhörer immer wieder und lieferte eine ganz klare Handlungsanweisung: „Man kann das Risiko nicht vollständig vermeiden, aber man kann die Menschen kompetenter machen, mit einem Risiko umzugehen.“

Mit diesem Postulat lieferte er die Motivation, sich beim wissenschaftlichen Kongress mit Informationen zu „stärken“, damit mit Unvorhersehbarem in der Praxis kompetenter umgegangen werden kann.

Prof. Dr. Thomas Attin, Zürich, gab daraufhin einen Überblick über die Hintergründe der Entstehung nicht-kariesbedingter Zahnhartsubstanzschäden, die gerade bei sehr jungen sowie auch bei älteren Patienten verstärkt zu beobachten sind. Hier erfordert es, so der Referent, nicht nur einen geschulten Blick, sondern auch eine gezielte Prophylaxe und Therapieansätze. So unterschied Attin Schmelzdefekte in Abrasion, Attrition, Abfraktion und Erosion. Letztere sind besonders häufig bei Jugendlichen durch erhöhten Konsum von Softdrinks und bei sehr ernährungsbewussten Patienten aufgrund eines erhöhten Vitamin-C-Konsums zu beobachten. Attin nannte weitere Zahlen: Sieben bis 20 Prozent der Patienten mit einer Gastroenteritis haben Schmelzschäden, die durch den starken Reflux, besonders in der Nacht, ausgelöst werden, ebenso leidet fast jeder dritte Laktovegetarier an Schmelzdefekten. Er rät dem Praktiker: „Es gilt immer erst abzuschätzen, ob ein Schmelzdefekt physiologisch ist, also zum Beispiel durch einen Alterungsprozess entstanden ist, oder eine pathologische Ursache hat. Dann ist unverzüglich zu handeln!“

Welche Füllung für welchen Defekt als beste gilt, damit beschäftigte sich Prof. Dr. Roland Frankenberger aus Marburg. Er präsentierte, dass im Vergleich zu konventionellen Restaurationen wie Amalgam und Gold die konsequente Umsetzung der Adhäsivtechnik entgegen häufiger Meinung eine effiziente Höckerstabilisierung bewirken kann. Aber er zeigte auch, dass adhäsive Restaurationen nicht immer frei von Risiken sind: Denn bei direkten Komposit-Restaurationen kommt es je nach vorangegangenem Verlust der Dentinunterstützung zu teilweise beträchtlichen Annäherungen der Höckerspitzen, die dann zu Verwindungen im Zahn und zur Belastung der Randbereiche auch im perfekt vorbehandelten Schmelz führen können. Frankenberger empfiehlt also: Je minimal-invasiver die Präparation möglich ist, desto besser ist die Prognose für direkte Restaurationen.

Sein Credo: Ein Risiko beginnt bei der Materialauswahl, beim Behandler selbst und beim Patienten. Sein Tipp: „Ätzen Sie bei Patienten jenseits der 65 länger, denn seine Schmelzstruktur hat sich verändert! Auch sklerotisches Dentin des Seniors braucht eine andere Behandlung!“

Zahnprobleme triggern ...

Wie hoch das Risiko ist, durch die Anwendung von Komposit die Pulpa zu schädigen, untersuchte Prof. Dr. Gottfried Schmalz, Regensburg. Er stellte klar, dass neben dem bakteriellen Angriff der Bohrer als größter Feind der Pulpa gilt und dass postoperative Beschwerden nach der Insertion von Komposit-Materialien so gut wie nie die Frontzähne betreffen. Pulpaprobleme treten in klinischen Studien zu vier Prozent auf, in Praxisstudien sind sie viermal häufiger (16 Prozent) beobachtet worden, was genauer betrachtet auch auf die Art der Behandlung und den Behandler selbst eventuelle Rückschlüsse zuließe.

Er erklärte, dass kurz nach der Polymerisation aus den Komposit-Kunststoffen Substanzen (Monomere) freigesetzt werden, die in vitro zellschädigend sind. Durch ihre zytotoxischen Effekte kann es zu einer konsekutiven Pulpaentzündung kommen. Zusätzlich erhöhen die zur Ätzung verwendeten Säuren die Permeabilität des Dentins und verstärken damit die Sensibilität der Nervenenden. Als ein noch größeres Problem aber sieht Schmalz die Lichthärtung. Denn hierbei wird eine nicht unbeträchtliche Wärmeenergie frei, die Anlass zur Besorgnis gibt. Seine Empfehlung: Immer etwa einen Millimeter Dentindicke stehen lassen, damit wird die Pulpa geschützt. „Vorsicht in Pulpanähe mit High-Energy-Lampen (auch LED). Sicherheitshalber hier immer den Low-Energy-Modus wählen!“

Eine weitere klinische Konsequenz ist, dass in einer tiefen Kavität, bei der oftmals die Gefahr einer eventuell unerkannten Pulpaeröffnung besteht, ein Schutzpräparat (wie Kalziumhydroxid, MTA oder Biodentine) appliziert werden soll. In mittleren und flachen Kavitäten sollte das Primat auf dem bakteriendichten Verschluss der Kavität liegen. Antibakterielle Adhäsive liefern hier zusätzlichen Schutz.

Speziell in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde erfahren altersbedingte Erkrankungen eine immer wichtigere Rolle, denn die Wechselwirkung zwischen Erkrankungen des Mundraums – hier seien vorrangig die Parodontopathien (PA) erwähnt – und denen des Gesamtorganismus sind mittlerweile wissenschaftlich evident, wie Prof. Schliephake bereits in der Kongresseröffnung erwähnte. So stellte Prof. Dr. Michael Noack, Köln, die Risikofaktoren der PAErkrankung für die Allgemeinerkrankungen heraus, und Prof. Dr. Peter Eickholz, Frankfurt, betrachtete die Thematik in umgekehrter Blickrichtung, nämlich, welche Allgemeinerkrankungen durch Parodontopathien getriggert werden. Die Bundeszahnärztekammer hatte in diesem Zusammenhang erst kürzlich mit einem großen Wissenschaftler-Gremium das Thema Diabetes und Parodontologie (zm 20/2011) zu einem umfangreichen Konsensuspapier erarbeitet, was schließlich auch den Diabetologen beziehungsweise den behandelnden Internisten in die Pflicht nehmen soll, den betroffenen Diabetes-Patienten einer zahnärztlichen Untersuchung und eventuell erforderlichen Intervention zuzuführen.

... Grunderkrankungen

Prof. Dr. Dieter Tschöpe, Bad Oeynhausen, stellte die Äthiologie der Stoffwechsel-Erkrankung vor und ging darauf ein, wie wichtig diese interdisziplinären Erkenntnisse für den Krankheitsverlauf sind. Prof. Dr. Dr. Heinz Hans Topoll, Münster, ging besonders auf den Praktiker ein und legte Wert darauf, dass neben einer umfangreichen Anamnese auch eine Familienanamnese durchgeführt wird: „Wiederholen Sie diese mindestens einmal im Jahr!“ Besonders wichtig sei es auch, den Raucher zu identifizieren. „Sie erkennen ihn an einer fibrotisch verdichteten Gingiva.“ Er gab zu bedenken, dass Raucher signifikant weniger an Gingivitiden leiden, dafür aber signifikant größere Attachmentverluste über vier Millimeter aufweisen und ebenso signifikant häufiger parodontale Schäden präsentieren. Neben dem Rauchen hat aber auch der Stress einen wesentlichen Anteil an der Genese parodontaler Schübe. Aber auch die Koinzidenz von Adipositas, Hypertonie, dem metabolischen Syndrom und mehr sind nicht unerheblich für den Verlauf einer schweren Zahnbettentzündung. Seine Tipps: „Erstellen Sie ein Konzept für die Praxis und entwickeln ein striktes, für den Patienten individuelles Recall-System. Beim schweren PA-Befund muss ein internistischer Befund folgen!“ Und: „Schauen Sie sich den Patienten immer vor der Zahnreinigung an!“

Ans medizinisch „Eingemachte“ ging es am Folgetag in einer Session, die sich ausschließlich mit Fragen der Allgemein- und Notfallmedizin beschäftigte. So setzte sich Prof. Dr. Gerald Arnetzel, Graz, vornehmlich mit der Frage des Älterwerdens und den dazugehörigen defizitären Geschehnissen im menschlichen Körper auseinander.

Er fokussierte seine Ausführungen auf die Kernfrage „Was wird mit meinen eigenen Zähnen und was mit meinem Zahnersatz, respektive Implantaten, wenn der Fall der Pflegebedürftigkeit eintritt?“ Er machte deutlich, dass dann der Hochrisikofall eintreten wird. Aktuelle Studien hätten gezeigt, dass in Pflegeeinrichtungen heutzutage kaum Mundpflege betrieben wird. Er zeigte abschreckende Beispiele von mit Soor überzogenen Gaumenplatten und dick mit Plaque besiedelten Implantatstümpfen, die Auslöser für Entzündungen und Ulcera darstellen. Er beschrieb den insuffizienten Pflegezustand anhand von Zahlen: Bei 81 Prozent der Heiminsassen bestünde zahnmedizinischer Handlungsbedarf, 48 Prozent litten unter Muskelschmerzen aufgrund insuffizienter prothetischer Versorgung, 21 Prozent müssten dringend chirurgisch behandelt werden und weit über 80 Prozent zeigten einen positiven BOP-Test (Bleeding on Probing). Und er appellierte an alle Anwesenden: „Sorgen Sie dafür, dass vor dem Umzug in ein Alters- oder Pflegeheim unbedingt eine zahnmedizinische Untersuchung erfolgt!“

Die Angst vor dem Tag X, an dem ein Notfall in der Zahnarztpraxis auftritt, muss nicht sein, wenn entsprechend Vorsorge getroffen wird. Denn, wie ermittelt werden konnte, sind 80 Prozent aller Zwischenfälle mit vermeidbaren menschlichen Fehlern gekoppelt, die es zu verhindern gilt. Das postulierte Prof. Dr. Dr. Monika Daubländer, Mainz. Sie sensibilisierte in ihren Ausführungen dafür, auch hinter dem gesunden Auftreten eines Patienten einen kranken Allgemeinzustand zu vermuten, und riet, „immer auf der Hut zu sein“. Sie spielte Szenarien durch, die durchaus eintreten können, wenn nicht regelmäßig anhand eines Notfallplans die Praxis auf derartige Situationen vorbereitet wird.

So gab sie die Empfehlung, Handlungsabläufe festzuhalten, regelmäßig im Team zu trainieren und feste Aufgaben zu verteilen. Ihr Tipp: „Eine Mitarbeiterin sollte verantwortlich für den Inhalt des Notfallkoffers sein, der in regelmäßigen Abständen überprüft werden muss auf Vollständigkeit, Haltbarkeit der Medikamente und Materialien. „Ein Ambubeutel zerbröselt ihnen nach zehn Jahren Liegezeit und hilft dann keinem mehr!“ Sie rät dazu, den Koffer nach der Überprüfung mit Datum und Siegel zu versehen. Die Einzelheiten ihres Vortrags wird sie Anfang 2012 in den zm publizieren.

Prof. Dr. Dr. Torsten Reichert, Regensburg, fasste zwei mit Wissen voll gespickte Fortbildungstage zusammen und resümierte einige grundlegende Erkenntnisse.

Bereits in der Anamnese werden die entscheidenden Weichen gestellt, denn für die zahnärztliche Praxis ist es von sehr großer Bedeutung, einen Risikopatienten im Vorfeld zu erkennen.

Typische Risikopatienten sind Patienten mit folgenden Erkrankungen und Umständen: Kardiovaskuläre Erkrankungen (Koronare Herzerkrankung, Angina pectoris, Herzrhythmusstörungen, Herzfehler, Endokarditis, Hypertonie), Hämorrhagische Diathesen, Atemwegserkrankungen, Stoffwechselerkrankungen (Diabetes mellitus, Hyperund Hypothyreose), Infektionserkrankungen, Leber- und Nierenerkrankungen, Allergien, Immunsuppression, Schwangerschaft/ Stillzeit. Auch liefert die besonders bei älteren Patienten oft umfangreiche Medikamenteneinnahme einen weiteren wichtigen Aspekt in der Risikobewertung.

Um das Risiko des Patienten genauer beurteilen zu können, sind in vielen Fällen noch weitere Informationen und Befunde bezüglich des Patienten notwendig wie spezielle Untersuchungsergebnisse (zum Beispiel der aktuelle Gerinnungsstatus, Blutzucker, EKG, Lungenfunktion) oder die Einschätzung durch den Hausarzt oder den behandelnden Internisten. Das individuelle Risiko kann besonders hoch sein, wenn der Patient mehrere Grunderkrankungen mitbringt oder wenn sich die ungünstigen Wirkungen mehrerer, gleichzeitig eingenommener Medikamente addieren oder gar potenzieren. Nach der Bewertung des individuellen Risikos für den Patienten im Zusammenhang mit der geplanten zahnärztlichen oder zahnärztlich-chirurgischen Behandlung muss der Zahnarzt dann die richtigen Entscheidungen treffen, um das Risiko für den Patienten so gering wie möglich zu halten, wie sich Prof. Reichert ausdrückte. Dieser Vortrag wird ebenso in einer der kommenden zm-Ausgaben erscheinen.

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