Blogs

Neue Wege der Wissenschaft

Sie heißen „Anatomisches Allerlei“ oder „Plazeboalarm“ und haben das Potenzial, den wissenschaftlichen Diskurs grundlegend zu verändern: Wissenschaftsblogs. In den Onlinetagebüchern des Web 2.0 können Forscher ihre Thesen und Ergebnisse sofort publizieren – und eine große Leserschaft erreichen.

2008 schrieb der Sozialwissenschaftler Marc Scheloske in seinem Blog „Wissenswerkstatt“: „Wissenschaft ist ihrem Wesen nach Kommunikation. Die Forschungsarbeit in den Laboratorien und Studierstuben, all die Experimente und Versuchsanordnungen wären sinnlos, wären sie nicht eingebettet in den Diskurs der „Scientific Community“. Was, wie und mit welchen Ergebnissen geforscht wird – darüber muss fortwährend kommuniziert werden. Und selbstverständlich verfügt das moderne Wissenschaftssystem über eine funktionale und erprobte Kommunikations- Infrastruktur. Wissenschaftliche Blogs zählen – mit wenigen Ausnahmen – bislang nicht dazu.“

Auch drei Jahre später stürzt sich die Forschungswelt nicht auf das Medium. „Es besteht immer noch das Problem, dass beträchtliche Teile der Wissenschaft nicht viel von Wissenschaftsblogs halten“, sagt Lars Fischer, Chemiker und Autor des Onlinetagebuchs „Fischblog“. „Aber die Situation ist deutlich besser geworden.“ Unter anderem deswegen, weil sich mittlerweile eine solide Infrastruktur entwickelt hat.

Die deutsche Blogosphäre

Die zwei bedeutendsten Portale für Wissenschaftsblogs in Deutschland gingen 2008 an den Start. Im Januar schaltete der Burda- Verlag ScienceBlogs.de, ein Ableger des erfolgreichen US-Modells ScienceBlogs.com, online. Wenig später zog der zur Holtzbrinck- Gruppe gehörende Verlag „Spektrum der Wissenschaft“ mit Scilogs.de nach. Zurzeit schreiben auf ScienceBlogs 35 Forscher und Fachjournalisten, auf Scilogs sind es 71. Zahnmediziner befinden sich bisher nicht unter den Autoren.

Die Portale sind userfreundlich in Rubriken wie Medizin, Astronomie oder Geisteswissenschaften unterteilt, damit Leser bequem nach Themen suchen können. Die Konzentration der Blogs auf spezielle Plattformen bewertet Fischer – neben seiner Bloggertätigkeit auch Mitglied der Scilogs-Redaktion – als entscheidend für den Erfolg des Formats: „Die Wissenschaftsblogosphäre muss übersichtlich sein, sonst verlieren sich die Autoren und Leser in den Weiten des Internets.“

Einzelkämpfertum erschwert den Austausch untereinander. Die Blogosphäre aber lebt vom Dialog, wie in den Mission Statements der Redaktionen nachzulesen ist: „Unser Anliegen ist der interdisziplinäre Dialog über Wissenschaft in all ihren Facetten: Forschung, Anwendung, Politik, Ethik, Werte. Unsere Blogger sind Forscher, Theoretiker, Praktiker, Journalisten, Enthusiasten. Die SciLogs sind ein Angebot des Verlags Spektrum der Wissenschaft – gleichwohl sind unsere Blogger vollkommen frei in der Wahl ihrer Themen, ihrer Sprache sowie in der Art und Weise, wie sie auf Kommentare aus der Community eingehen“, heißt es auf der Scilogs-Webseite. Die Unabhängigkeit ihrer Autoren betont auch die Konkurrenz: „Auf ScienceBlogs schreiben Forscher, was sie bewegt. Journalisten veröffentlichen unredigiert. Das ist die Basis für einen neuen Dialog aus erster Hand über die Rolle der Wissenschaft in Politik, Religion, Philosophie, Kunst und Wirtschaft.“ Voraussetzung für soviel Freiheit ist Qualität.

Nicht jeder kann bloggen

Bei ScienceBlogs werden Wissenschaftler nur auf Einladung der Redaktion feste Autoren. „Wir sprechen entweder Personen an, die wir als Blogger interessant fänden, oder solche, die bereits erfolgreich einen privaten Blog betreiben“, erklärt Jürgen Schönstein, Wissenschaftsjournalist und Redakteur bei ScienceBlogs. „Im Internet gibt es sehr viele pseudowissenschaftliche Seiten, die beispielsweise erklären, warum die Relativitätstheorie nicht stimmt oder warum Astrologie eine Wissenschaft ist – da zieht es einem manchmal die Schuhe aus. Auf unserem Portal kann das nicht passieren, weil wir solche Autoren nicht zulassen.“

Um als Blogger durchzustarten, braucht man mehr als gutes Fachwissen. „Nicht jeder kann gut bloggen“, erklärt Lars Fischer. „Es reicht nicht, nur Texte zu veröffentlichen. Man muss bereit sein, den Text auch zu verteidigen.“ Blogs sind mit einer Kommentarfunktion ausgestattet. User können dem Blogger auf diese Weise ihre Meinung zu seinen Texten mitteilen. Ein Blog lebt von der Diskussion zwischen Autor und Leser. Wer sich nicht darauf einlassen will, setzt sein Standing in der Community aufs Spiel. Die Regeln für Blogger lauten Fischer zufolge deshalb: „Sie müssen viel Zeit haben, um Kommentare zu beantworten. Sie brauchen einen langen Atem, ein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis, Begeisterung und ein dickes Fell.“

Im wissenschaftlichen Umfeld sind Blogger besonders auf einen langen Atem und ein dickes Fell angewiesen, denn akademische Förderung oder gar Anerkennung für bloggende Forscher bleiben bisher aus.

Vorurteile und Vorteile

Immerhin: Mit den ganz harten Vorurteilen, dass Blogs nur wissenschaftlichen Unsinn verbreiten, haben Blogger immer seltener zu kämpfen. „Der Trend ist, dass die Leute Blogs ernst nehmen“, stellt Fischer fest. Den gewachsenen Respekt haben sich die Blogger durch verschiedene Coups verdient. Zum Beispiel im vergangenen Dezember, als NASA-Forscher mit einer Sensation an die Öffentlichkeit traten: Im kalifornischen Mono Lake wollten sie eine Bakterienart entdeckt haben, die Arsen frisst. Einige Chemiker und Mikrobiologen nahmen den Versuchsaufbau der Studie unter die Lupe und stießen auf ernst zu nehmende Mängel. Die Kritik veröffentlichten sie sofort in ihren Blogs. Zunächst wehrte sich die NASA gegen den Proteststurm aus dem Netz und wollte nur Kritik aus traditionellen wissenschaftlichen Medien akzeptieren. Nach wenigen Tagen aber wurde der Druck zu groß. Die Forscher knickten ein und relativierten ihre Entdeckung.

Für Fischer markieren solche Ereignisse einen Wendepunkt: „Blogger haben die Studie verrissen – zu Recht. Das trat eine Diskussion darüber los, was Blogger in der Wissenschaftskritik leisten können.“ Das Ergebnis: Sie können viel dazu beitragen. Die Arsenbakterien waren nicht das erste Thema, bei dem Blogger sich zu Wort gemeldet hatten, aber laut Fischer entstand dadurch erstmals eine öffentliche Diskussion. Sein Fazit: „Viele blogkritische Forscher haben inzwischen gemerkt, was die Stunde geschlagen hat, und erkannt: Blogger können Wissenschaft zeitnah kritisch diskutieren und so verhindern, dass sich falsche Ergebnisse in der Literatur festsetzen.“ Zeitliche Nähe und Geschwindigkeit sind zwei zentrale Qualitäten der Blogs.

Ihre zeitliche Unmittelbarkeit wird Blogs aber auch zum Vorwurf gemacht. Die veröffentlichten Beiträge seien unausgereifte Schnellschüsse. Das Gros der Scientific Community akzeptiert nur das klassische Verfahren, den Peer Review, als Gütesiegel. Beim Peer Review begutachten ebenbürtige, unabhängige Wissenschaftler die Arbeit eines Kollegen. Erst nach dieser meist anonymen Prüfung werden Studien in Fachzeitschriften publiziert. „Blogs arbeiten schneller, für einen Peer Review zu schnell“, erklärt Schönstein von ScienceBlogs. Als Argument gegen Blogs werde daher oft ins Feld geführt, dass die akademischen Abläufe nicht korrekt seien und die Inhalte nicht ausreichend geprüft. Schönstein hält dagegen: „Das Korrektiv sind die Kommentare, sie prasseln direkt auf den Blogger ein. Der entstehenden Diskussion muss er oder sie sich stellen.“

Kritiker sollten auch bedenken, dass Blogs keine neue Art des wissenschaftlichen Arbeitens darstellen, sie sind lediglich ein neuer Kanal, Ergebnisse zu kommunizieren. Forscher, die bloggen, wissen, dass ihre fachliche Reputation auch bei Publikationen im Netz auf dem Spiel steht und sie besser daran tun, ihre Argumentation mit starken Beweisen zu untermauern. Die Qualität eines Blogs erkennt man vor diesem Hintergrund daran, dass der Autor Links und Verweise angibt, die seine Leser zur weiteren Information nutzen können. „Ein Wissenschaftsblog zieht typischerweise Leser an, die fachlich Bescheid wissen. Blogger, die gegen die Grundprinzipien ihrer Disziplin verstoßen, werden das in den Kommentaren sehr schnell zu hören kriegen.“

In puncto Glaubwürdigkeit ist die Blogosphäre gnadenlos. Als die amerikanischen ScienceBlogs im vergangenen Sommer einen Blog an den Getränkehersteller Pepsi verkauften, wanderten massenhaft Autoren aus Protest ab. Für sie stellte die Präsenz eines Konzerns, der auf dem renommierten Portal seine Marketinginteressen vertreten kann, einen Interessenkonflikt dar. Nach „Pepsigate“ war ScienceBlogs.com praktisch tot. Der Frage der kommerziellen Vermarktung müssen sich Blogger – unter denen auch viele Interesse am hauptberuflichen Bloggen haben – aber irgendwann stellen. Denn Verlage wie Holtzbrinck oder Burda wollen mit dem Medium Geld verdienen.

Zukunft der Blogs

Welche Rolle Blogs in der Scientific Community übernehmen werden, bleibt abzuwarten. „Wir befinden uns in der Erprobungsphase“, sagt Werner Große, Lehrbeauftragter für Geschichte der Medien und Wissenschaftsvermittlung an der TU Braunschweig. „Es kursieren viele noch nicht bewiesene Thesen, beispielsweise dass Blogs ein wichtiges Medium innerhalb der Wissenschaft sind, aber auch aus ihr hinaus in den öffentlichen Raum.“

Blogs als Element des Web 2.0 bringen das Element der Masse zum Tragen: Jeder kann an ihnen teilnehmen und zur Diskussion beitragen. „Blogs erreichen unglaublich viele Menschen. Jede Seite ist gleichzeitig Sender und Empfänger – das wird den Diskurs in Zukunft sehr viel virulenter machen“, so Große. Für ihn ist mit dem Web 2.0 eine neue Kulturstufe erreicht worden – ähnlich der Erfindung der Schriftsprache oder des Buchdrucks. Wie sie diesen riesigen Kommunikationsraum mit sinnvollen Inhalten füllen, müssten die Menschen aber erst noch lernen. Und auch die Scientific Community müsse noch ins Web 2.0 hineinwachsen. Große: „In den inneren Zirkel der Wissenschaft hat der Blog noch keinen Eingang genommen, aber das kommt. Jeder Forscher muss sich dazu positionieren und wird die üblichen Stadien der Annäherung durchlaufen: Ablehnung – Skepsis – „Das kann gar nicht so gut sein wie das Alte“ – „Na ja, vielleicht sind sie doch nicht so schlecht?“ – „Ich müsste mich mal kümmern.“ – Und schließlich: ausprobieren.”

Konferenzen als Orte des persönlichen Austauschs werden ihre Bedeutung dennoch nicht verlieren. Und auch Printmedien, da sind sich Große, Fischer und Schönstein sicher, wird es immer noch geben – aber ihre Funktion wird sich verschieben. Fischer: „Ich denke, die Papierform wird zunehmend zur Speicherform, die dynamische Diskussion wird sich ins Netz verlagern. Nicht nur in die Blogs, sondern auch auf die vielen anderen Kommunikationsplattformen, die es im Internet gibt.”

Susanne TheisenFreie Journalistin in KölnSusanneTheisen@gmx.net

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