Pilotstudie in Zahnarztpraxen

Prävention und Versorgung interpersoneller Gewalt

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Ärzte in Notaufnahmen, Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgen und Zahnmediziner werden damit konfrontiert, dass Patientinnen oder Patienten mit gewaltbedingten Verletzungen in ihre Praxis kommen. Eine Studie der Universität Fulda macht deutlich, welchen Einfluss der Zahnarzt in einer solchen Situation hat.

Eine für Deutschland repräsentative Untersuchung, die Gewalterfahrungen von Frauen untersuchte, ermittelte bei 37 Prozent Erfahrungen mit gewalttätigen Übergriffen [Müller, Schröttle, 2004]. Jede dritte Frau hat also im Verlauf ihres Lebens körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. Etwa jede siebte Frau war während ihres Erwachsenenlebens mindestens einmal schwerer bis lebensbedroh licher körperlicher Gewalt durch ihren Partner ausgesetzt. Gewalt ist oft kein einmaliges Ereignis. Insbesondere Partnerschaftsgewalt ist durch Wiederholungen charakterisiert, die häufig mit einer Steigerung der Intensität der Gewaltanwendung einhergehen. Frauen, die sich in Gewaltbeziehungen befinden, können sich aus unterschiedlichsten Gründen oft nicht einfach daraus lösen.

Erkennen, erfassen und unterstützen

Die gesundheitlichen Kurz- und Langzeitfolgen von Gewalt sind immens. Wichtig für Zahnärzte: Ein Großteil der Verletzungen erfolgt im Hals- und Kopfbereich. Typische Folgen von Gewalt sind Verletzungen, wie Stich- und Hiebverletzungen, Schnitt- und Brandwunden, Prellungen, Hämatome und Würgemale. Zahn-, Mund-, Lippen- oder Kieferläsionen gehören ebenfalls zu den typischen Verletzungsmerkmalen [Klopfstein et al., 2008]. Auch Frakturen insbesondere des Nasenbeins, Trommelfellverletzungen, schwere Kronenund Wurzelfrakturen, ein Bruch des Nasenknorpels oder Halsläsionen durch Würgen und Drosseln sind häufige Folgen von Gewalt. Diese Verletzungen können zu chronischen Beeinträchtigungen, Erkrankungen oder Behinderungen führen wie beispielsweise zu einer dauerhaften Einschränkung des Seh- oder Hörvermögens [Muelleman et al., 1998; Fanslow et al., 1998; Campbell, 2000; Campbell et al., 2002; Tröger, 2004; Rötzscher et al., 2008; Hahn, 2009].

Gewaltprävention

Seit einigen Jahren gibt es verschiedene Anstrengungen, die medizinische Versorgung von Gewaltopfern dahingehend zu verbessern, dass sie nicht nur auf die unmittelbare Versorgung der Verletzungen gerichtet ist, sondern vielmehr auch der Prävention von weiterer Gewalt dienen soll. Die Versorgungssituation kann in verschiedener Hinsicht gewaltpräventiv orientiert sein. Zum einen durch eine systematische, am besten auch fotografische Dokumentation, indem die Verletzungen gerichtsverwertbar erfasst werden. Diese erlaubt den Opfern, wann immer sie es wünschen, ein Verfahren gegen den Täter anzustreben. Dazu gehört allerdings auch, dass der Arzt oder die Ärztin die mögliche Ursache der Verletzungen kompetent kommunizieren kann, die richtigen Worte findet und auch die Umgebungssituation so gestaltet, dass Gewaltopfer über die Ursache ihrer Verletzungen zu sprechen bereit sind.

Bei vermuteter Gewalt nachzufragen, kann sehr schwer sein, weil die meisten Opfer die Ursachen solcher Verletzungen abstreiten und die Geschehnisse bagatellisieren, nicht selten sogar, um den Täter zu schützen. Über ein standardisiertes gerichtsverwertbares Dokumentationsverfahren von interpersonell verursachten Gewaltverletzungen wird eine verbesserte interdisziplinäre Gesundheitsversorgung von Gewaltopfern angestrebt. Das geschieht, indem die Verletzungsursache angesprochen und dokumentiert wird und indem den betroffenen Personen entsprechende Unterstützungsangebote und Hilfeeinrichtungen empfohlen werden. Nach Coulthard und Warburton bieten Zahnarztpraxen ein stigmatisierungsfreies Umfeld, um Gewaltbetroffenheit zu erkennen, medizinisch zu versorgen, Informationen über Hilfeeinrichtungen weiterzugeben und Gewaltopfer zu ermutigen, diese in Anspruch zu nehmen [Coulthard und Warburton, 2006]. Die Qualität der Gesundheitsversorgung von Gewaltopfern ist jedoch stets abhängig von der Sensibilisierung des medizinischen Personals.

Die Bedeutung von Ärzten und Zahnärzten für die Prävention von Gewalt, insbesondere Partnergewalt, ist außerordentlich groß. Präventiv, um die Wiederholung von Gewalt zu vermeiden, sind erstens das richtige Erkennen von Gewaltbetroffenheit und zweitens die Dokumentation und Weitergabe adäquater Unterstützungsangebote. Beide wirken deshalb präventiv, weil im Fall von Partnerschaftsgewalt auf diese Weise die in der Literatur vielfältig beschriebene Spirale der Gewalthandlungen, die eine Wiederholung und Verstärkung der Gewaltformen umfasst, unterbrochen werden kann. Zugleich kann ein wesentlicher Beitrag dafür geleistet werden, Gewalt gesellschaftlich zu delegitimieren [Walker, 1984]. Je früher interveniert wird, desto höher stehen die Chancen, den Gewaltkreislauf zu unterbrechen und auch die oben beschriebenen gesundheitlichen sowie persönlichen und sozialen Folgen zu verhindern.

Dokumentation der häuslichen Gewalt

Die Hochschule Fulda hat in den Jahren 2008 bis 2010 verschiedene Instrumente und Materialien für die Zahnarztpraxis entwickelt und diese in einer Pilotphase getestet. Das Projekt wurde finanziert durch die Hessischen Ministerien für Wissenschaft und Kunst sowie für Arbeit, Familie und Gesundheit und durch einen interdisziplinären Projektbeirat unterstützt.

Diese Instrumente und Materialien sind:

1. ein zahnärztlicher Dokumentationsbogen zur Erfassung häuslicher Gewalt: Er umfasst zwei Seiten und ergänzt die zahnmedizinische Dokumentation mit dem Blickpunkt auf Gerichtsverwertbarkeit der dort dokumentierten gewaltbedingten Verletzungen.

2. eine Dent-Doc-Card, die auf einem handlichen Format den Zahnärztinnen und Zahnärzten einen kurzen Überblick über das Vorgehen beim Erkennen, Ansprechen und Dokumentieren von häuslicher Gewalt gibt: Diese Karte passt in eine Jackentasche und kann jederzeit zu Hilfe genommen werden.

3. Handlungsempfehlungen für Zahnärztinnen und Zahnärzte zum Erkennen, Ansprechen und Dokumentieren interpersoneller Gewalt: Dabei handelt es sich um eine ausführliche Darstellung mit dem internationalen Stand der Forschung zu diesem Thema, rechtlichen Regelungen und ausführlichen Empfehlungen.

4. ein Ablaufschema zur Vorgehensweise beim Erkennen und Dokumentieren häuslicher Gewalt (Flussdiagramm), das die Handlungsschritte schematisch verdeutlicht.

In der Erprobungsphase, die von Mitte März bis Ende Juni 2010 stattfand, wurden die entwickelten Instrumente, insbesondere der Dokumentationsbogen beziehungsweise die Dent-Doc-Card bei allen interpersonell verursachten Gewaltverletzungen in der zentralen Notfallambulanz, in der MKGHochschulambulanz und in der zahnärztlichen Notaufnahme des Universitätsklinikums Frankfurt/Main getestet. Ziel war, den Dokumentationsbogen und die Dent-Doc- Card einzuführen, diese zu evaluieren und gegebenenfalls zu überarbeiten sowie weitere Erkenntnisse darüber zu sammeln, wie die Dokumentation erfolgt, welche Schwierigkeiten es beim Einsatz gibt und wie diese beseitigt werden können.

Die in der Pilotphase erfassten Dokumentationsbögen waren mit 54 Prozent zum großen Teil vollständig ausgefüllt. Wichtig war auch festzustellen, dass die Patientinnen und Patienten überwiegend mit dem Ausfüllen eines solchen Dokumentationssystems einverstanden waren und nur sehr wenige ihre Zustimmung verweigerten.

Als weitere Methode die praktische Anwendbarkeit und Vollständigkeit des Dokumentationsbogens zu überprüfen, wurde mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der mund-kiefergesichtschirurgischen Hochschulambulanz des Universitätsklinikums Frankfurt eine Fokusgruppe durchgeführt. Mit dieser Fokusgruppenarbeit sollten eventuell erkennbare Hindernisse der Anwendung im Ablauf der Klinik erfasst werden, die zu einem unvollständigen Ausfüllen des Dokumentationsbogens führten. Diese qualitative Erhebung bildete die Basis für die Evaluation und inhaltliche Überarbeitung des Dokumentationsbogens, der nunmehr in einer wissenschaftlich validierten Fassung vorliegt sowie für weitere Empfehlungen von Rahmenbedingungen, die für den systematischen Einsatz der Instrumente erforderlich sind.

Die Evaluation des geführten Gruppengesprächs ergab, dass der zweiseitige zahnmedizinische Dokumentationsbogen alle wesentlichen gerichtsrelevanten Aspekte beinhaltet und leicht zu handhaben ist. Als schwierig für das vollständige Ausfüllen des Dokumentationsbogens wurden die knappen zeitlichen Ressourcen beziehungsweise Überschneidungen mit der medizinischen Dokumentation angegeben. Eine aussagekräftige visuelle Darstellung der Verletzungen oder eine fotografische Dokumentation erfolgte nur in den seltensten Fällen. Als Gründe dafür wurden insbesondere der mangelnde Sinn einer fotografischen Dokumentation für die Gerichtsverwertbarkeit, schlechte Verfügbarkeit über eine Kamera sowie fehlende Zuständigkeiten für die Verwaltung der Aufnahmen genannt. Daraus lässt sich ableiten, dass eine abteilungsinterne organisatorische Regelung erforderlich ist, um die Dokumentation routinemäßig und vollständig – das heißt einschließlich der für die Gerichtsverwertbarkeit sehr bedeutsamen fotografischen Dokumentation der Verletzungen – durchzuführen.

Eine große Unsicherheit des medizinischen Personals in der Ansprache und im Umgang mit Betroffenen wurde ebenso deutlich wie auch ein starkes Interesse an Qualifizierungsmaßnahmen, um Gewalt erkennen, ansprechen sowie angemessen mit diesen Situationen umgehen zu können. Als weiteres Ergebnis zeigte sich, dass in keinem einzigen Fall eine Weiterleitung an Hilfeeinrichtungen erfolgte beziehungsweise keinerlei Informationen über Hilfsmöglichkeiten gegeben wurden. Diese Ergebnisse bestätigen zugleich internationale Erfahrungen und den Weiterbildungsbedarf in diesem Bereich.

Fazit

Abschließend lässt sich festhalten, dass viele Zahnärztinnen und Zahnärzte mitsamt Team sich der einzigartigen Position, Gewaltopfern neben der medizinischen Versorgung Hilfe und Unterstützung anzubieten, bisher nicht ausreichend bewusst zu sein scheinen. Eine strukturelle Verankerung der zahnmedizinischen Dokumentationsform in den Kliniken sowie eine gute Organisation des Zugriffs auf Hilfsmittel wie Kameras und Informationsmaterialien sind zentrale strukturelle Voraussetzungen für die Anwendung des zahnärztlichen Dokumentationsbogens und damit auch für eine Versorgung von Gewaltopfern, die über die unmittelbare Behandlung hinausgeht und auch die Prävention von Gewalt im Blick hat. Mit den entwickelten Materialien und Instrumenten stehen erstmals verschiedene Hilfen bereit, die Zahnärztinnen und Zahnärzten den Umgang mit Frauen und Männern erleichtern sollen, die sie mit gewaltbedingten Verletzungen aufsuchen und auf Hilfe angewiesen sind. Eine Reihe von Landeszahnärztekammern bieten ähnliche Unterstützungsbausteine an.

Prof. Dr. Daphne HahnFachbereich Pflege und GesundheitHochschule Fulda – Fulda University of Applied SciencesMarquardstr. 356039 Fuldadaphne.hahn@pg.hs-fulda.de

Prof. Dr. Dr. Robert SaderDirektor der Fachklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgiedes Universitätsklinikums Frankfurt am MainTheodor-Stern-Kai 760596 Frankfurt am Mainrobert.sader@kgu.de

Dr. Sebastian Ziller MPHBundeszahnärztekammerLeiter der Abteilung Prävention und GesundheitsförderungChausseestr. 1310115 Berlins.ziller@bzaek.de

Unter diesem Link können der Dokumen - tationsbogen, die Dent-Doc-Card und das Ablaufschema heruntergeladen werden:http://www.hs-fulda.de/index.php?id=9183

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