Fusionen bei gesetzlichen Krankenkassen

Die große Kassenschmelze

Nach der Fusionswelle der gesetzlichen Krankenkassen liegt ihre Zahl nun auf einem historischen Tief. Von 1 367 Kassen im Jahr 1992 haben lediglich 148 „überlebt“. „Der Trend zur Konzentration wird auch langfristig anhalten“, so Birgit Fischer, Vorstandsvorsitzende von Deutschlands größter Krankenkasse Barmer GEK auf dem diesjährigen „Kassengipfel“ in Berlin. Die Rüge des Bundesrechnungshofes, Kassen-Fusionen brächten meist Nachteile, relativierte sie. Entscheidend für den Erfolg sei die Konstitution der potenziellen Partner.

Ende Januar hieß es in einem Gutachten des Bundesrechnungshofes (BRH) für Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP), Fusionen bräuchten „erhebliche zeitliche und personelle Ressourcen“, führten „zu keinen deutlichen Synergieeffekten“ und seien „mit erheblichen, zum Teil dauerhaften zusätzlichen Aufwendungen verbunden“. Dem stünden „nur geringe Einsparungen gegenüber“. Die Prüfer analysierten 32 Kassen-Fusionen. Häufig stiegen dabei den Prüfern zufolge die Netto-Verwaltungskosten durch zunehmende Reisekosten der Mitarbeiter, Abfindungen oder erhöhte Vergütungen für Kassenvorstände, teure Beraterhonorare sowie durch Fortbildungen. Kurz: Fusionen seien „Kostentreiber“ und führten „nicht immer zu leistungsfähigeren Einheiten“.

Das Beste aus zwei Welten

Dieser Rüge entgegnete Birgit Fischer in Berlin ihre These: „Fusionen führen zu mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit.“ Aus ihrer Sicht „führt die Publikation in die Irre“ und habe „keine Aussagekraft“. In dem Rechnungshofgutachten handele es sich um kleine Kassen. Daraus könne man nicht pauschal auf alle Kassen in Deutschland abstellen. Zudem forderte Fischer: Wenn es um die Erstellung von Gutachten geht, „sollte die Fachkompetenz beim Bundesversicherungsamt liegen“.

Vorraussetzung für eine langfristig erfolgreiche Verbindung sei die Berücksichtigung zahlreicher Faktoren: Vielversprechend sei eine „Verschmelzung“ aus einer Situation der Stärke heraus – strategisch geplant und gut vorbereitet. Die Motive für eine Fusion könnten dabei ganz unterschiedlich sein:

Auf der Hand liege der Gewinn einer größeren Versichertengemeinschaft. Das verbessere die Risikostruktur und sichere die Kasse gegen Hochrisikofälle ab. Zusatzbeiträge könnten hinausgeschoben werden. Dazu kämen betriebswirtschaftliche Synergien und ein Zugewinn an Know-how. Arbeitsprozesse könnten optimiert, Verwaltungskosten reduziert werden. Nicht zu unterschätzen seien auch „weiche Faktoren“ wie Firmenphilosophie, Markenkern oder Führungsgrundsätze. Kurz: Die Spielregeln der Unternehmen müssten harmonieren. Ebenfalls wichtig: kombinierbare IT-Konzepte. Im Übrigen bringe eine Fusion auch einen Qualitäts- und Innovationsschub mit sich. Frischer Wind und „für Unternehmen eine große Chance“, sagte Fischer.

Mit Blick auf den politischen Kurs im Bundesgesundheitsministerium ergänzte sie: „Fusionen sind dem Wettbewerb überlassen. Das ist auch politisch so gewollt. Das seit dem 1. Januar 2010 geltende GKV-FinG dreht weiter an der Wettbewerbsschraube.“

Sukzessive setze nun der Preiswettbewerb über Zusatzbeiträge ein. Für die Zukunft prognostiziert die Kassenchefin: „Je höher das Wechselverhalten, je mehr werden die Starken gestärkt und die Schwachen geschwächt.“ Mit Blick auf die eigene Stellung im Markt ergänzte sie: „Größe ist kein Selbstzweck und hat auch auch eine kritische Grenze. Nämlich dann, wenn man eine marktbeherrschende Stellung einnimmt.“ Gemäß dem Wettbwerbsbeschränkungensgesetz gerät eine Krankenkasse in eine Monopolstellung, wenn sie mehr als 33 Prozent Marktanteil hält. Es sei eine Binsenweisheit, dass Monopole den Wettbewerb behindern und Innovationspotenziale schwächen. „Große Kassen haben dennoch Vorteile“, so Fischer. Sie ermöglichten eine stärkere Differenzierung sowie eine größere Lösungs- und Leistungsfähigkeit. Unter dem Strich führe das langfristig zu mehr Stabilität.

Finanzielle Ausgangslage

Der Gesundheitsweise Prof. Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen erklärte in Bezug auf die unterschiedlichen finanziellen Ressourcen: „Die Kassen pressen die Zitrone unterschiedlich stark aus.“ Ursächlich hierfür seien ein divergierendes Kostenmanagement und die individuelle finanzielle Ausgangslage der Kassen. Gerade die hohe Sensibilität der Versicherten zwinge die Kassen dazu, „Versorgungsmanagement“ als Zukunftsthema ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen, ist sich Wasem sicher.

Verwalter oder Gestalter

Im Kern bedeute dies, dass die Kassen die ganze Klaviatur beherrschen müssten. Etwa, Patienten mit Risk-Sharing-Verträgen auf neue Arzneimittel einzustellen oder gemeinsam mit Providern Behandlungspfade einzugehen.

Determinanten der finanziellen Situationvon Kassen sind laut Wasem:

• die Startpositionen bei den Rücklagen• unterschiedliche Deckungsgrade durch die Zuweisungen• die regionale Zusammensetzung der Versicherten• regionale Kostenstrukturen der Anbieter• das regionale Inanspruchnahme-Verhalten• ein unterschiedliches Kostenmanagement bei den Gesundheitsausgaben• ein unterschiedliches Kostenmanagement bei den Verwaltungsausgaben• gegebenenfalls unpräzise Zuweisungen durch den Morbi-RSA• gegebenenfalls unpräzise Zuweisungen für Krankengeld• gegebenenfalls unpräzise Zuweisungen für Verwaltungskosten

Wasem: „Wettbewerbsvorteile schmelzen auf mittlere bis längere Sicht dahin. Für die Kassen wird es daher zentral sein, an vorderster Stelle zu stehen.“

Die Politik habe den Akteuren in den vergangenen Jahren zahlreiche Instrumente zur Verfügung gestellt, die es zu nutzen gelte. Hier gebe es Spielraum für Verbesserungen: Wasem: „Sektorale Budgets, einschließlich der Verwaltungskosten der Kassen sind kontraproduktiv. Zudem sollte die duale Finanzierung im Krankenhaus durch Monistik ersetzt werden.“ Wasem sprach sich dafür aus, das obligatorische Berichtswesen zu Qualitätsinformationen (auch im Selektivvertragsbereich) auszubauen. „Die Zukunft von Selektivverträgen als potenzielles Substitut der Kollektivverträge muss politisch entschieden werden“, erklärte der Gesundheitsweise abschließend. Im Übrigen wäre er selbst früher ein Anhänger des radikalen Modells von Selektivverträgen gewesen. Im Laufe der Jahre werde er hier aber zunehmend zögerlicher.

Fusion bis Monopolgrenze

Andreas Mundt, seit 2009 Präsident des Bundeskartellamtes in Bonn sieht in puncto „Kassenhochzeit“ noch Potenzial. „Hier ist noch Raum für Fusionen“, erklärte er in Berlin. „Solange unter den Unternehmen Wettbewerb besteht, spielt die Anzahl der Kassen keine Rolle.“

Die Behörde prüfe gemäß § 171a SGB V lediglich Fälle, in denen es sich um eine wirtschaftlich bedeutsame Fusion handelt. „Der Maßstab liegt bei mindestens 25 Millionen Euro Umsatz pro Jahr“, so Mundt. Geprüft wurde etwa die Fusion von Barmer und Gmünder Ersatzkasse zur Barmer GEK.

Am 17. Februar 2010 hatte das Bundeskartellamt ein Verfahren gegen neun Krankenkassen der gesetzlichen Krankenversicherung eingeleitet. Dabei geht es um den Verdacht, dass die Kassen gegen das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verstoßen haben, als sie Ende letzten Jahres gemeinsam angekündigt haben, Zusatzbeiträge zu erheben. Gegenstand des Verwaltungsverfahrens ist die Frage, ob der Festlegung und der Bekanntgabe der Zusatzbeiträge verbotene Kartellabsprachen zugrunde gelegen haben. Das Bundeskartellamt prüft dabei nicht die Angemessenheit der angekündigten Zusatzbeiträge. Mundt: „Wir haben hier bewusst ein Verwaltungs- und kein Bußgeldverfahren eingeleitet.“

Auch bei Entwicklungen im Bereich der Selektivverträge habe das Bundeskartellamt ein prüfendes Auge und kann im Zweifelsfall Einfluss nehmen. Anders bei Kollektivverträgen. „Bei Kollektivverträgen greift das Kartellrecht nicht. Hier müssen sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen.“ Schließlich gebe es hier keinen Raum für Wettbewerbsrecht.

Tanz auf Kassenhochzeiten

Viele Versicherte tanzen auf den Kassenhochzeiten mit. Nicht wenige haben auf der Flucht vor Zusatzbeiträgen bereits mehr als einmal gewechselt. Dabei ist „ein Wechsel mehr Flucht und Zuflucht als ein Weiterziehen auf der Suche“, bestätigt Dirk Weller von YouGovPsychonomics. In einer Befragung von 577 Kassenwechslern gaben 49 Prozent an, dies nur einmal getan zu haben. 27 Prozent hätten es bereits zum zweiten Mal getan und 17 Prozent bereits zum dritten Mal. Neben der Flucht vor dem Zusatzbeitrag wollen viele Versicherte mehr Qualität und bessere Leistungen. In zentralen Fragen, wie dem Umgang mit dem finanziellen Plus im Gesundheitsfonds sei die Bevölkerung genauso gespalten wie die Politik, sagte Weller abschließend. sf

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