Aus zahnärztlich-prothetischem Blickwinkel

Qualitätssicherung – einmal anders reflektiert

Heftarchiv Zahnmedizin
Die Qualitätsdiskussion im zahnmedizinischen Bereich hat bereits eine längere und zum Teil bewegte Geschichte. Sie war und ist gekennzeichnet von sehr unterschiedlichen Standpunkten und Pointierungen, von Emotionen und Betroffenheiten einerseits, von Sachlichkeit bis hin zu Eiferertum auf der anderen Seite. Die einen befassten sich mit der Ergebnisqualität, zeigten hier durchaus Defizite auf und ernteten zornige Entrüstung bis hin zu wütender Verunglimpfung. Die anderen wollten von vorneherein nur über Struktur- und Prozessqualität reden. Qualität wurde zum Reizwort, und die Diskussion versank bisweilen in semantischen Verbrämungen des eigentlichen Problems.

Obwohl Qualitätssicherung im Gesetz verankert ist, sind wir von einer Lösung dieses Problems weit entfernt. Die Vertragszahnärzte – und damit der größte Teil der Zahnärzte überhaupt – stehen im Spannungsfeld zwischen zwei hauptsächlichen Blickwinkeln: Das eine ist der Blickwinkel der wissenschaftlichen Erkenntnisse (soweit sie vorhanden sind); der andere Blickwinkel ist der der wirtschaftlichen Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse.

Aufgabe des G-BA

Das Gremium, das den Auftrag hat, diese beiden Blickwinkel zusammen zu bringen, um daraus Leistungen und Leistungsentgelte zu beschreiben, ist für Vertragszahnärzte der Gemeinsame Bundesausschuss.

Da wir uns nach § 135 a des Sozialgesetzbuches alle an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung zu beteiligen haben, die insbesondere zum Ziel haben, die Ergebnisqualität zu verbessern, gibt der § 13 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses vor, dass der Nutzen unserer ärztlichen und zahnärztlichen Arbeit durch qualitativ angemessene Unterlagen zu belegen ist. Dies sollen, soweit möglich, Unterlagen der Evidenzstufe 1 sein. Absatz 2 des § 13 der Verfahrensordnung sagt sodann, dass die Anerkennung des medizinischen Nutzens auf Grundlage von Unterlagen einer niedrigeren Evidenzstufe umso mehr einer Begründung bedarf, je weiter von der Evidenzstufe 1 abgewichen wird.

Frage nach der Evidenz

Es stellt sich die Frage, wo wir überhaupt mit unserer Evidenz stehen. Welche relevanten Fragen in der Zahnheilkunde können wir evidenzbasiert beantworten? Es gibt zwar in Medizin und Zahnmedizin zahlreiche Bereiche, die Untersuchungen zugänglich sind, an deren Ende man von Evidenz der Stufe 1 sprechen kann, beispielsweise der große Bereich der Arzneimitteltherapie. Es gibt aber auch Disziplinen, in denen es schwer oder unrealistisch erscheint, zur Evidenzstufe 1 führende Untersuchungen durchzuführen.

Eine der wichtigsten Fragen im Bereich der Zahnärztlichen Prothetik stellt sich mit Blick auf die Langzeitbewährung der verschiedenen Arten von Zahnersatz.

Während man sich noch recht gut vorstellen kann, dass Untersuchungen zur Wirksamkeit beispielsweise eines konkreten Antibiotikums gegenüber spezifischen Erregern sowohl vom Umfang der Fragestellung, als auch von der Rekrutierbarkeit des einschlägigen Krankengutes, und insbesondere der Überschaubarkeit des Untersuchungszeitraumes, recht gut durchführbar sind, stellen sich die Voraussetzungen für eine vergleichende Untersuchung zur Langzeitbewährung verschiedener Formen von Zahnersatz indessen als beinahe unüberwindbare Hürden dar. Ein zielführendes Studiendesign müsste sehr große Zahlen vergleichbarer Patienten vorsehen mit vergleichbaren Ausgangsbefunden. Diese Patienten müssten eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bieten, über die zu untersuchenden langen Zeiträume hinweg in der Studie zu bleiben. Sodann müssten kalibrierte Zahnärzte und Zahntechniker die verschiedenen zu vergleichenden prothetischen Versorgungen durchführen. Um relevante, interessierende Aussagen zu gewinnen, müssten die vielen Patienten, wiederum von kalibrierten Untersuchern, über einen hinreichend langen Zeitraum, wenigstens mehrere Jahre, in einem regelmäßigen Recall nachuntersucht werden, wobei allfällig notwendige Nachsorgemaßnahmen (beispielsweise Unterfütterungen) wiederum in kalibrierter Weise festgestellt und durchgeführt werden müssten. Die Aufzählung der problematischen Aspekte erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Unabhängig von den sachlichen Schwierigkeiten lässt sich die Aufzählung um einen sehr menschlichen Aspekt ergänzen. Welche Wissenschaftler tun sich einen solchen Tort an, wohlwissend, dass sie höchstwahrscheinlich die Meriten einer solchen Langzeituntersuchung nicht mehr selbst ernten werden. Wer will es ihnen verdenken, in einer Zeit, in der der Götze „Impact-Faktor“ das Maß aller Dinge ist.

Wenn man sich klar macht, wie weit die Zielvorstellungen davon entfernt sind, in einer auch nur halbwegs absehbaren Zukunft umgesetzt werden zu können, so kommt man ins Grübeln.

Nur wenige Ausnahmen

Man muss ganz nüchtern feststellen, dass wir evidenzbasierte Aussagen über Qualität und langzeitliche Bewährung unserer Behandlungen in zur Zeit noch ganz wenigen Ausnahmesituationen machen können. Es fehlen die Untersuchungen, die eine Evidenzbasierung im engeren, speziellen, zur Zeit so verstandenen Sinne zulassen würden. Es wird sie auch, im Unterschied zu manch anderen Disziplinen, zumindest im Bereich der restaurativen oder noch enger der prothetischen Zahnheilkunde so bald nicht geben.

Das darf die Zahnärzteschaft aber nicht mutlos machen und darf vor allem nicht zu einer völlig abstrusen Reaktion führen, wie sie bisweilen anzutreffen ist: Es gibt sie, die Zeitgenossen, die sich des Gedankens der Evidenzbasierung bemächtigen und diesen dahin gehend verabsolutieren beziehungsweise pervertieren, dass nur noch das gelten soll, was evidenzbasiert ist. Wo es keine Evidenzbasierung gibt, weil einschlägige Untersuchungen nicht oder noch nicht existieren und möglicherweise auch nicht oder zumindest nicht in absehbarer Zeit zu erwarten sind, da wird so getan, als befinde man sich quasi im Zustand der Anarchie, in der beispielsweise parodontal irritierende Zahnersatzgestaltungen, selbst grobe Randschlussmängel, okklusionsfehlerhafte Ausführungen und mehr als nicht beanstandungsfähig postuliert werden, so lange nicht evidenzbasiert deren Schädigungspotential bewiesen ist. Diese Leute müssten dann eigentlich auch die abstrus fatale Einstellung haben, dass man, solange es keine Evidenzbasierung dazu gibt, auch für den Alltagsgebrauch nicht mehr damit rechnen kann, dass Wasser den Berg herunter fließt, sondern man gerade so gut auch vom Gegenteil ausgehen könnte.

Konsensbasierungen nötig

Solange Evidenzbasierungen im speziellen Sinne fehlen, müssen wir an „Konsensbasierungen“ arbeiten, die unsere bisherigen fachlichen Erkenntnisse und biologischen Offensichtlichkeiten als Grundlage für Behandlungsempfehlungen und Leitlinien operationalisieren. Denn wir befinden uns mitnichten im luftleeren Raum oder im Niemandsland. Wir dürfen, können und müssen auf die Vorstellungen von Qualität zurückgreifen, die unser bisheriges zahnärztliches Handeln bestimmt haben – und die können ja angesichts des hohen Versorgungsstandes in unserem Land so falsch nicht sein. Wir müssen uns aber auch – im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen – auf den Weg machen, um möglicherweise andere als die bisher propagierten beziehungsweise postulierten Evidenzen mit Hilfe der fachlichen Kompetenz zu entwickeln und zu entwerfen, mit denen sich die bestehenden Evidenzlücken und Evidenzfreiräume füllen lassen.

Bei aller Verwissenschaftlichung darf dabei auch der gesunde Menschenverstand nicht unbenutzt gelassen werden, und Evidenz dürfte und müsste durchaus auch im Sinne von Offensichtlichkeit begriffen werden. Dabei kann es natürlich überhaupt keinem Zweifel unterliegen, dass das nur mit professionellem Sachverstand geleistet werden kann.

Lösungen müssen umsetzbar sein

Um mit solchen Intentionen Gehör zu finden, darf man natürlich nicht traumverloren davon ausgehen, einzig „Wellness“ und Komfort des Patienten, koste es, was es wolle, im Auge haben zu müssen. Es werden in jedem Fall Lösungen oder Lösungsansätze verlangt werden, die auch für die Solidargemeinschaft umsetzbar sind.

Vor einigen Jahren fand im Bonner Wissenschaftszentrum ein Symposion des Instituts für Gesundheitssystemforschung mit dem Thema „Diagnose- und Therapiestandards in der Medizin“ statt. Es ging um die Frage, wie in Zukunft trotz finanzieller Einschränkungen die medizinische Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden kann. Der Tenor der meisten Referenten war, dass wegen der knapper werdenden Ressourcen nicht mehr alle medizinisch möglichen Maßnahmen finanzierbar seien und deshalb Diagnose- und Therapiestandards und Leitlinien immer mehr in den Vordergrund rückten. Als Anlass für die Leitliniendiskussion wurde unter anderem der Kostendruck im Gesundheitswesen angesehen. Gleichlautend wiesen die Beiträge darauf hin, dass die Politik mit Hilfe von Standards und Leitlinien versuchen wolle, Kosteneinsparungen zu erreichen. Hier tut sich also ein Scheideweg auf, je nachdem, ob man die Leitlinienproblematik von der wirtschaftlichen oder von der medizinischen Seite aus angeht. Dass in Zeiten knapper werdender Ressourcen gespart werden muss, steht völlig außer Zweifel. Die Frage ist, ob ein solches Ziel mit Hilfe von Leitlinien als medizinischen Zielvorgaben zu erreichen ist, oder ob nicht die Verfolgung wirtschaftlicher Ziele unter dem Segel „Medizinische Leitlinien“ sich als ein Etikettenschwindel herausstellen könnte. Nach allgemeinem Verständnis lassen sich medizinische Leitlinien nur auf die nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand befundadäquate Versorgung des Patienten hin ausrichten, und bei ihrer Entwicklung dürfen und müssen durchaus wirtschaftliche Überlegungen berücksichtigt werden; sie dürfen aber keinesfalls die inhaltlichen Aspekte dominieren. Wenn– und soweit mit Leitlinien als mediz inischen Maximen zugleich – der Effekt erzielt würde, Kosten zu dämpfen, so wäre dieser Synergismus in Ordnung und würde sicherlich von jedermann begrüßt. Mitnichten aber muss leitliniengestützte Behandlung per se und unbedingt ausgabenreduzierend wirken, gerade so gut kann das Gegenteil bei der Umsetzung von Leitlinien eintreten.

Gedankenspiel anhand einer Fallsituation

Zu beiden Möglichkeiten ein Beispiel: Die Extraktion eines Weisheitszahnes mit Dentitio difficilis bei ansonsten vollständiger Zahnreihe ist zweifellos medizinisch indiziert. Es ist kaum eine andere Therapiealternative mit mittelfristigem oder langfristigem Erfolg vorstellbar. Jeder Erhaltungsversuch würde weitere Kosten verursachen, wäre für den Patienten nutzlos und letztlich auch wohl vergeblich. Mithin ist die Indikation zur Extraktion eine absolute. Eine Leitlinie würde hier eine sowohl unter medizinischen Gesichtspunkten richtige wie auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten günstige Behandlung befördern.

Der andere Fall: Restierende einzelne Zähne im Unterkiefer, kariös, parodontal geschädigt und locker, deren Extraktion man durchaus als medizinisch vertretbar einstufen würde. Die anschließende Versorgung würde mit einer Totalprothese erfolgen. Nun wissen wir aber, dass auch solche, in ihrer Wertigkeit stark reduzierte Zähne zur Stabilisierung einer Prothese vor allem im Unterkiefer noch gute Dienste leisten und für den Patienten Funktionserhalt, Adaptation und damit oralen Komfort erleichtern können. Dafür wären erforderlich: Kariestherapie, möglicherweise endodontische Therapie, Parodontitistherapie, prothetische Therapie, wobei sich sogleich die weitere Frage stellt, in welcher Ausführung: Reicht ein einfaches Drahtklammerprovisorium? Lässt die Zahnanatomie eine Gussklammerverankerung zu? Oder muss eine aufwändigere Verankerungsart gewählt werden? Von implantologischen Behandlungskonzepten ganz zu schweigen, deren medizinische Indikation mittlerweile auch zweifelsfrei akzeptiert ist.

Eine medizinisch ausgerichtete, am Funktionserhalt und mithin am Wohl des Patienten orientierte Leitlinie müsste zwingend auf alle vorstehenden Fragen eingehen und, wenn die Detailbefunde dafür sprechen, durchaus hinführen auf die Zahnerhaltung und teilprothetische Versorgung mit möglicherweise noch implantologischer Ergänzung des Behandlungskonzepts. Gegenüber der schlichten Extraktion und anschließenden totalprothetischen Versorgung also ein durchaus großer, sogar riesengroßer Unterschied, sowohl was das medizinisch Erreichbare, als aber auch die Kosten anlangt. Für vorliegenden Fall beziehungsweise Befund kann also eine medizinische Leitlinie nicht auf nur eine einzige Lösung hinführen. Auf jeden Fall wird sie nicht kostensparend sein, sondern unter medizinischen, patientenorientierten Gesichtspunkten eher kostensteigernd.

Medizinische versus Rationierungsleitlinie

Wenn angesichts dessen im Hinblick auf eine zwingend notwendige Kostendämpfung eine solche Leitlinie gleichwohl zugunsten der Extraktion und totalprothetischen Versorgung formuliert würde, so wäre es im Sinne der Ehrlichkeit ebenso zwingend, dies deutlich herauszustellen und diese Leitlinie dann nicht mehr als medizinische Leitlinie, sondern als „Rationierungsleitlinie“ zu deklarieren. Die unpopuläre Diskussion um Finanzierungsgrenzen der Solidargemeinschaft und um dadurch notwendiges Abweichen von ansonsten bestehenden medizinischen Möglichkeiten darf jedenfalls nicht auf Ärzte und Zahnärzte übergewälzt werden.

Es soll anhand eines weiteren Beispiels versucht werden, den Spagat einer Leitlinie zwischen wirtschaftlicher Ausrichtung und medizinischer Orientierung zu verdeutlichen.

Nehmen wir den Fall eines Patienten, der im Unterkiefer eine beidseits verkürzte Zahnreihe mit Fehlen aller Molaren aufweist. Lässt man zunächst die Situation im Oberkiefer außer Betracht, so ergeben sich abstrakt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – eine Reihe von Behandlungsalternativen.

• Da nach den Erkenntnissen der Gebissfunktionslehre zehn antagonistische Zahnpaare im allgemeinen als durchaus ausreichend anzusehen sind, könnte die erste Möglichkeit lauten, ganz auf den Ersatz der fehlenden Molaren zu verzichten und das Hauptaugenmerk auf den Erhalt der noch vorhandenen Zähne zu richten.

• Fühlt sich indessen der Patient durch die verkürzte Zahnreihe kaufunktionell beeinträchtigt, so käme als Ersatz eine gussklammerverankerte Teilprothese in Betracht. Für diese in funktioneller Hinsicht ausreichende Lösung bräuchten keine Zähne beschliffen zu werden, sie ist substanzsparend und kostengünstig. Die Klammerverankerung allerdings ist nur möglich bei korrespondierenden Unterschnitten. Sie kann als ästhetisch störend empfunden werden, und die Verbindung mit dem Restgebiss ist nur bedingt starr.

• Ästhetisch besser und durch die starre Anbindung an das Restgebiss auch funktionell günstiger wäre eine Teleskopprothese. Das erfordert allerdings das Beschleifen von Zähnen, ist mithin aufwändiger und wesentlich teurer.

• Eine weitere Möglichkeit der Verlängerung der Zahnreihe bestünde in der Eingliederung von Freiendbrücken. Dafür müssten jeweils die Prämolaren überkront und an die verblockten Kronen jeweils ein Freiendbrückenglied angehängt werden. Bei ohnehin gegebener Überkronungsbedürftigkeit der Prämolaren und im Hinblick auf oralen Komfort und Ästhetik eine gute Lösung. Weil aber immerhin vier Zähne überkront werden müssen, um die Zahnreihe beidseits nur um einen Zahn zu verlängern, ist eine sorgfältige Schaden-Nutzen-Abwägung vorzunehmen.

• Schließlich ist auch noch als funktionell gute, komfortable, den Knochenabbau in den zahnlosen Gebieten obendrein verlangsamende, allerdings auch erheblich teurere Lösung eine Implantatversorgung zu diskutieren.

Die bislang abstrakten Überlegungen zu den Therapiemöglichkeiten werden natürlich noch weiterhin und ganz wesentlich beeinflusst durch die denkbaren unterschiedlichen Befundvarianten im Gegenkiefer mit jeweils entsprechenden weiteren Konsequenzen für die Therapieplanung. Darüber hinaus bestehen auch im Hinblick auf die möglichen Restaurationsmaterialien weitere Alternativen. Allein dieses eine Beispiel macht deutlich, mit wie vielen medizinischen Antworten bei gleichem Befund auf die unterschiedlichen Notwendigkeiten und Schwerpunkte, Wünsche und Vorstellungen eines Patienten differenzialtherapeutisch eingegangen werden kann. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe des Zahnarztes, herauszufinden, welche Einflussgrößen bei der Versorgung eines Patienten eine Rolle spielen, welche beruflichen Implikationen (wie bei einem Blasmusiker) zu beachten sind, welches die geheimen Wünsche und Vorstellungen bezüglich seiner Versorgung sind, welche Wertschätzung er einer funktionellen Lösung oder einer ästhetischen Lösung entgegenbringt, oder, was auch völlig wertneutral zu konstatieren ist, ob er diesen Fragen persönlich keine sehr große Bedeutung beimisst. Es geht also darum, das Problem des Patienten herauszufinden und daran orientiert eine Lösung, die seinen Möglichkeiten entspricht, zu finden. Dafür eine Leitlinie zu formulieren, dürfte schwer fallen. Zumindest müsste sie all die Überlegungen enthalten, die vorstehend angestellt wurden. Selbst wenn eine vergleichende Untersuchung zur Langzeitbewährung verschiedener Zahnersatzarten existierte, könnte sie kaum auf alle gestellten Fragen eine Antwort geben. Trotzdem ist die Lösung dieser anspruchsvollen Aufgabe Inhalt sowohl der zahnärztlichen Sorgfaltspflicht als auch der Aufklärungspflicht.

Medizinisch gesehen wäre es ein großer Rückschritt, in einer Befundsituation wie der beschriebenen, mit verschiedenen möglichen Behandlungsalternativen, per Leitlinie die Entscheidungsfreiheit und den Behandlungsspielraum von Patient und Zahnarzt einzuschränken und auf eine, dann vermutlich kostengünstige Lösung zu reduzieren. Juristisch wären damit haftungsrechtliche Konfliktsituationen geradezu vorprogrammiert.

Aus der allen sicherlich noch erinnerlichen sogenannten AOK-Studie wurde seinerzeit die Frage abgeleitet, inwieweit zukünftig Zahnärzte bei gleicher Befunderhebung zu identischen oder zu mindestens gleichwertigen Therapievorschlägen im Sinne einer evidenzbasierten Zahnmedizin kommen können. Auch bezüglich dieser Frage macht das oben erwähnte Beispiel recht anschaulich deutlich, dass evidenzbasierte Daten, wenn sie denn existierten, vielleicht einen Teil der in dem Fall anstehenden Fragen beantworten könnten, dass aber andere wesentliche Fragen, die bei der Behandlungsplanung ebenfalls eine entscheidungsleitende Rolle spielen, dem persönlichen, individuellen Bereich des Patienten entspringen und damit nicht evidenzbasiert beantwortet werden können. Man wird also bei der Entwicklung von Leitlinien zu unterscheiden haben zwischen Situationen, die sich für jedermann gleich darstellen und für die sich Leitlinien als 'good medical practice' formulieren lassen (beispielsweise Notfallsituationen, in denen ein ganz konkretes, für die Stabilisierung vitaler Funktionen bewährtes Programm abzulaufen hat) und solchen Situationen, in denen nicht nur ein Weg zum Ziel führt und in denen die Wahl des Weges neben den objektiven Befunden von individuellen Aspekten und subjektiven Einschätzungen abhängt.

Solche Aspekte sind zum Beispiel

• Konkordanz oder Diskrepanz zwischen objektivem Befund und subjektivem Befinden des Patienten,

• Funktionalität,

• Ästhetik,

• oraler Komfort,

• individuelle Situation des Patienten mit sozialen und beruflichen Implikationen,

• schließlich noch das ganz und gar nicht notwendigerweise übereinstimmende Verständnis verschiedener Patienten von vorgenannten Aspekten

• und natürlich auch unterschiedliche ärztliche Einschätzungen dieser Details.

Zahnmedizin ist Biologie

Zahnmedizin ist eben Biologie, nicht Mathematik und nicht Fließbandfertigung.

Ganz abgesehen davon, ist das Problem der Therapievariabilität weder ein deutsches noch ein zahnmedizinisches und auch kein neues Problem. George Bernard Shaw beschrieb es 1906 in seinem „The Doctor´s Dilemma“, wo ein Londoner Journalist während der ersten großen Influenzaepidemie alle großen örtlichen Kapazitäten aufsuchte und bei jedem Arzt bei gleichem Befund verschiedene Behandlungsvorschläge erhielt. Welch ein aktueller Bezug zu den Erfahrungen, die jüngst mit der Schweinegrippe gemacht werden mussten!

Die besagte AOK-Studie monierte über die Therapievariabilität hinaus in erster Linie große Defizite in der Anamnese- und Befunderhebung sowie deren Dokumentation. Diesem Kritikpunkt muss in aller Deutlichkeit und mit Nachdruck beigepflichtet werden. Und hier ergäbe sich zweifellos ein guter Ansatzpunkt für die Formulierung einer Leitlinie, die sicherstellen kann, daß für eine Behandlungsplanung unverzichtbare Befunde nicht vergessen werden, die dann in Verbindung mit den individuellen anamnestischen Gesichtspunkten den medizinischen Hintergrund für die konkrete Therapieplanung transparent machen.

Die Arbeitsgruppe „Präventionsorientierte Zahnheilkunde“ hat seinerzeit ein Arbeitspapier zur zahnärztlichen Diagnostik ent - wickelt, dessen Nutzbarmachung beziehungsweise Aufbereitung für die Erstellung einer einschlägigen Leitlinie sich geradezu anböte.

Juristische Fußangeln

Die Diskussion um die Problematik von im Zusammenhang mit der Qualitätssicherung zu erarbeitenden Leitlinien bliebe unvollständig, wenn nicht auch die juristische Dimension gebührend berücksichtigt würde. Die von der Rechtsprechung an die Sorgfaltspflicht und die Aufklärungspflicht angelegten Maßstäbe entlehnt sie eindeutig und kompromisslos dem aktuellen, wissenschaftlich anerkannten Stand des zahnmedizinischen Wissens und Könnens. Alle sich daraus ergebenden, im konkreten Einzelfall möglichen Therapiealternativen sind nach der Rechtsprechung aufklärungsbedürftig. Im Rahmen seines grundgesetzlich geschützten Selbstbestimmungsrechts hat der Patient nach gehöriger Aufklärung das Recht, an der Auswahl, Entscheidung und Planung bezüglich einer konkret durchzuführenden Therapie mitzuwirken. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht beziehungsweise eine Nichteinbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung zieht in aller Regel haftungsrechtliche Sanktionierungen nach sich.

Wie will man sich von Seiten der Politik und der Krankenkassen dazu stellen, dass nach zivilrechtlichem Sorgfaltsmaßstab über mögliche Therapiealternativen aufgeklärt werden muss, die aber möglicherweise in einer einschlägigen wirtschaftlich orientierten Leitlinie nicht vorgesehen sind? Wer soll sich mit dem Patienten darüber auseinandersetzen, daß der von Politik und Krankenkassen gerne erweckte Eindruck, alle medizinischen Möglichkeiten seien selbstverständlich für alle verfügbar, nicht stimmt? Die Rationierungsdebatte dem Arzt oder Zahnarzt zuzuschieben, wäre jedenfalls feige und zynisch.

Bleibt nur das Wunschdenken

Nach allem wäre es schön, bleibt aber ein Wunschtraum, Leitlinien formulieren zu können, die für den Patienten immer medizinisch optimale Behandlung gewährleisten würden, für die Krankenkassen die kostengünstige Versorgung darstellen würden und für die Ärzte und Zahnärzte gleichwohl eine betriebswirtschaftlich-juristisch sichere Lösung bedeuten würden. Jede Interessenlage ist für sich genommen nachvollziehbar, legitim und eigentlich selbstverständlich. Sie anhand von Leitlinien kollisionsfrei erfüllen zu wollen, erscheint hingegen nur bedingt möglich und zum Beispiel in Situationen, wie den aufgezeigten, unlösbar. Da, wo es sich als möglich herausstellt, sollten medizinische Leitlinien unter Nutzung der bereits verfügbaren und noch zu erforschenden wissenschaftlichen Erkenntnisse auf der Basis breiten Konsenses zum Wohl der Patienten formuliert werden. Soweit die Ressourcen eine Vollkaskoversorgung nicht zulassen, muss dies offen ausgesprochen werden und wirtschaftliche Leitlinien, die dann aber auch so heißen müssen, vorgegeben werden. Fairness und Ehrlichkeit bezüglich der Ziele und Wege sind notwendig.

Prof. Dr. Dr. Ludger FiggenerZentrum für Zahn-, Mund- undKieferheilkundePoliklinik für Zahnärztliche ProthetikWaldeyerstraße 3048149 Münsterfiggenl@uni-muenster.de

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