Primärprophylaxe

Trinken aus dem offenen Becher

Heftarchiv Zahnmedizin
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Das Motto vom Tag der Zahngesundheit 2011 lautet: „Gesund beginnt im Mund – je früher, desto besser!“ In Anlehnung daran beschäftigt sich dieser Artikel mit der Entwicklung eines falschen Schluckmusters im Kleinkindalter und mit der Frage, wie die Manifestation durch Primärpropyhlaxe verhindert werden kann.

Die Zahngesundheit im Milchgebiss hat sich in den letzten 15 Jahren je nach Bundesland um bis zu 43,5 Prozent verbessert. Allerdings ist die Verbesserung nicht annähernd so beeindruckend wie die bei den Zwölfjährigen, wo im gleichen Zeitraum eine durchschnittliche Verbesserung der Zahngesundheit von über 70 Prozent erzielt wurde. Außerdem weisen immer noch 45,1 Prozent der sechs- bis siebenjährigen Kinder kein kariesfreies Milchgebiss auf [Pieper, 2010]. Neben der typischen Karies an den bekannten Prädilektionsstellen der Milchzähne stellt die „Early Childhood Caries“ (ECC) bei Kindern vor Schuleintritt eine besondere Herausforderung dar. Die Prävalenz der ECC liegt in Deutschland in Abhängigkeit von der sozialen Lage zwischen 7,3 und 20,3 Prozent [Splieth et al., 2009].

Als Ursachen für die Entstehung von Karies im Milchgebiss werden in den Veröffentlichungen führender Fachgesellschaften (unter anderem „Leitlinie European Academy of Pediatric Dentistry“ (EADP) und „American Academy of Pediatric Dentistry“ (AAPD) neben soziokulturellen und ökonomischen Gründen folgende Verhaltensweisen genannt [EADP, 2008; AAPD, 2008]:

Eltern, die früh mit einer gewissenhaften Zahnpflege bei ihrem Kind starten, verhalten sich kariespräventiv.

Eltern, die früh mit ihrem Kind eine Zahnarztpraxis aufsuchen, erhöhen die Chancen ihres Kindes auf ein gesundes Milchgebiss.

Eltern, die ihrem Baby insbesondere in der Nacht das Fläschchen mit zuckerhaltigem Inhalt zum Dauernuckeln überlassen, gefährden die Zahngesundheit ihres Kindes erheblich. Die Kombination mit unzureichender, zeitweise fehlender oder ganz fehlender Zahnpflege führt extrem schnell zu Karies im Milchgebiss [Yüksel, 2010; Borutta et al., 2010; Frühbuss, 2010].

Das Nuckeln nimmt zu

Das ständige Nuckeln an der Säuglingsflasche hat trotz Aufklärung der Eltern in den letzten Jahren offenbar zustatt abgenommen. Die Gründe sind vielfältig.

Fehlendes oder falsches Wissen um die Bedeutung der Milchzähne spielt offenbar eine übergeordnete Rolle. Mögliche Nachteile für die kindliche Entwicklung sind oft nicht hinreichend bekannt. Darunter fallen etwa eine gestörte Nachtruhe, die offene Mundhaltung sowie die Mundatmung mit der Folge einer um 40 Prozent niedrigeren Sauerstoffversorgung jeder einzelnen Körperzelle, wodurch Aktivität und Konzentration von Kindern eingeschränkt sein können. Ein offener Biss, häufig kombiniert mit einer eingeschränkten Abbeiß- und Kaufähigkeit des Kindes sowie weiterer Kiefer- und Zahnfehlstellungen können sich negativ auf die Sprechentwicklung und Sprachbildung auswirken. Massive Zahnschmerzen behindern eine ausgewogene, kauaktive Ernährung der Kinder, Abszesse können die nachfolgenden bleibenden Zähne schädigen und sogar die Allgemeingesundheit des Kindes gefährden. Frühzeitig verloren gegangene Milchzähne stellen neben den bekannten kieferorthopädischen (Platzhalterfunktion der Milchzähne) auch Probleme für das Aussprechen addentaler Laute dar. Sie wirken sich negativ auf das physische und das soziale Wohlbefinden des Kindes aus. Durch das Trinken aus dem offenen Becher kann die (Zahn)Gesundheit von Säuglingen und Kleinkindern erheblich gefördert werden.

Physiologische Trinkkoordination – Grundlagen

Die Trinkkoordination ist eine sehr komplexe Leistung aller beteiligten orofazialen Strukturen, in deren Mittelpunkt die Zunge steht. Sie übt passive und aktive Funktionen aus. Als passiv bezeichnet man die physiologische Zungenruhelage beziehungsweise Ruheposition. In der korrekten Ruhelage berührt das vordere Zungendrittel den Gaumen hinter den oberen Frontzähnen (Abbildung 1). Dort liegt der dickste Anteil des Alveolarfortsatzes und über ihm die Papilla incisiva, der „Schlafplatz“ der Zunge. Die Zunge dichtet die Mundhöhle ab, wodurch die Nasenatmung gefördert wird. Im Zusammenspiel mit den geschlossenen Lippen wird ein Unterdruck erzeugt. Von dieser Position starten die aktiven Funktionen der Zunge: das Saugen der Flüssigkeit in den Mund und das eigentliche Schlucken. Unterschieden werden drei Phasen des Schluckens: erstens die Orale (bewusst/willkürlich); zweitens die Pharyngeale (bewusst/ unwillkürlich); drittens die Ösophageale (unbewusst/unwillkürlich). Nur die erste Phase (oral) ist beeinflussbar [Hanson et al., 1988]: Diese unterteilt sich nach Garlicher in vier weitere Stufen (siehe links: Stufe 1 bis Stufe 4 des funktionellen Schluckens).

Alle Teilfunktionen unterliegen in den ersten Lebensjahren Reifungsprozessen. Bei der Geburt füllt die Zunge die ganze Mundhöhle aus. Sie berührt den Gaumen, den Mundboden und die mit Fett gepolsterten Wangen und liegt zwischen den Zahnkanten. Da der Bewegungsraum durch anatomische Bedingungen eingeschränkt ist, saugt das Neugeborene mit einer Vorwärtsbewegung der Zunge. Mithilfe des Buccinatormechanismus werden Flüssigkeiten und Nahrung weitertransportiert. Zu diesem Zeitpunkt sind die Zungenruhelage und die Zungenfunktionen anatomisch bedingt [Morris et al., 1987]. Das sogenannte unreife Saugund das unreife Schluckmuster (auch infantil oder viszeral genannt) hält etwa vier bis neun Monate an. Durch das Wachstum gewinnt die Zunge an Platz. Mit dem Durchbruch der Zähne nimmt die vertikale Dimension zu. Der Unterkiefer wächst nach unten und nach vorne. Der Hals wird länger. Das Zungenbein senkt sich ab. Die Zunge nimmt eine Rücklage ein.

Was für das Neugeborene eine reflexive Zungenbewegung war, wird beim größeren Kind zunächst durch Versuch und Irrtum geübt, da Schlucken und Sprechen erlernte Prozesse sind. Wenn das neuromuskuläre System reift, verbessert sich die Koordination. Form und Funktion beeinflussen sich gegenseitig. Mithilfe der richtigen Reize (zum Beispiel Stillen, Kauen, Lautbildung, Gebrauch von Löffel und Tasse) lässt das natürliche Saugbedürfnis üblicherweise nach. Die unreifen Muster werden vom reifen Saugmuster und vom reifen Schluckmuster (auch somatisch oder selektiv genannt) abgelöst. Dabei ist die Umstellung vom viszeralen auf das somatische Schluckmuster kein linearer Vorgang. Das Kind wechselt zwischen beiden Schluckmustern hin und her. Die Altersangaben für das stabile reife Schluckmuster schwanken in der Literatur.

Wissenschaftlicher Konsens herrscht dahingehend, dass ein viszeraler Schluckvorgang mit zehn Jahren außerhalb des Normbereichs liegt [Bolten, 2009].

Folgen einer gestörten Trinkkoordination

Als Ursache für Zungendysfunktionen können organisch bedingte Faktoren (Missbildung, Krankheit, neuromuskuläre Störungen) von funktionell bedingten, etwa Daumenlutschen, unterschieden werden. Wird der Zeitpunkt, an dem das Saugbedürfnis physiologisch nachlässt, verpasst, wird durch das ständige Nuckeln an der Säuglingsflasche (Schnabeltasse, Trinklernbecher, Trink-Cap, Nuckel beziehungsweise Daumen) das unreife Saugmuster beibehalten. Die entwicklungsphysiologische Umstellung vom viszeralen Schluckmuster auf das somatische Schluckmuster wird somit verzögert oder sogar verhindert. Die anterocraniale Positionierung der Zunge an der Papilla incisiva wird unmöglich. Die genannten Gegenstände drücken die Zunge nach caudal, so dass sie weder in der Ruhelage noch beim Schlucken ihren physiologischen „Arbeitsplatz“ einnehmen kann.

Von Anfang an sollen und können Kinder das Trinken aus dem Becher üben. Denn bereits im Mutterleib hat das Ungeborene beim Trinken des Fruchtwassers das Schlucken trainiert. Folgende Hinweise sollte das zahnärztliche Team an Eltern weitergeben:

Bieten Sie Ihrem Kind ab dem ersten Brei eine Tasse, ein Glas oder einen dünnwandigen offenen Becher mit Wasser an.

Kinder lernen beim Spielen. Legen Sie einen Plastikbecher in die Spielkiste und geben Sie einen Becher mit in die Badewanne.

Lassen Sie Ihr Kind in einer stabilen Lage das Trinken üben.

Vermeiden Sie ein Überstrecken des Köpfchens.

Lassen Sie nach jedem Schlückchen den Becher am Mund Ihres Kindes.

Lassen Sie Ihr Kind häufig üben.

Nehmen Sie für unterwegs eine kleine Wasserflasche mit Drehverschluss.

Gewöhnen Sie Ihr Kind von Anfang an an kalorienfreie Durstlöscher wie Wasser, Mineralwasser ohne Kohlensäure und ungesüßten Tee.

Festzuhalten ist, dass die Beratung von Schwangeren Informationen zum Trinken aus dem offenen Becher beinhalten sollte. Denn: Zu jedem späteren Zeitpunkt können das elterliche Fehlverhalten und die Spirale des Dauernuckelns einsetzen.

Dr. Andrea ThumeyerWiesenstr. 3165187 Wiesbadenthumeyer@t-online.de

In einer der nächsten Ausgaben erscheint ein Artikel zu den empfohlenen Trinkmengen.

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