Gesundheitsreform in Großbritannien

Ein radikaler Umbau

pr
Das staatliche britische Gesundheitswesen soll umfassend umgestaltet werden. Ziel der Reformen, die von gesundheitspolitischen Beobachtern im Königreich als die tiefgreifendsten Erneuerungen seit mehr als 60 Jahren bezeichnet werden, ist es, die Position der Hausärzte weiter zu stärken. Der Einfluss von lokalen Gesundheitsverwaltungen und anderen Bürokraten wird stark beschnitten. Die Ärzteschaft zeigt große Skepsis. Auch die Zahnärzte beobachten die Entwicklung kritisch.

Premierminister David Cameron erklärte die Reform des mehr als eine Million Menschen beschäftigenden staatlichen Gesundheitswesens (National Health Service, NHS) inzwischen zur Chefsache. „Der NHS arbeitet zu bürokratisch, zu langsam und er ist zu patientenunfreundlich“, so Cameron, der seit 2010 an der Spitze einer Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberalen steht. „Wir werden das Gesundheitswesen radikal modernisieren!“

Erster Schritt ist die Abschaffung hunderter lokaler Gesundheitsverwaltungen und regionaler Gesundheitsbehörden. Diese Stellen sind bisher dafür verantwortlich, Versorgungsangebote in den Regionen zu schaffen, zukünftigen Bedarf zu prognostizieren und dafür zu sorgen, dass die notwendigen Mittel aus dem Gesundheitsetat an die richtigen Stellen fließen. Der 1948 gegründete NHS finanziert sich zu mehr als 90 Prozent aus allgemeinen Steuermitteln. Anspruchsberechtigte Patienten bezahlen nichts für ihren Arztbesuch oder für ihre Operation, da sie über die staatliche Krankenversicherung (National Insurance, NI) abgesichert sind. Der NHS basiert auf dem Primärarztsystem. Der Zugang zu Krankenhäusern beziehungsweise zu den Fachärzten erfolgt stets über den Hausarzt. Fachärzte arbeiten in der Regel an den Kliniken und nicht in freier Praxis.

Hausärzte stärken

Cameron möchte die rund 75 000 NHSHausärzte stärken und dafür sorgen, dass sie zukünftig neue Entscheidungsbefugnisse erhalten sollen, wie die Milliarden aus dem britischen Gesundheitsetat ausgegeben werden. Hausärzte sollen zum Beispiel in Zukunft direkt bei den Kliniken oder bei ambulanten Versorgungsdiensten Leistungen für ihre Patienten einkaufen können. Das gilt auch für Pflegedienste. Zahlreiche Pilotversuche, in denen das ausprobiert wird, laufen bereits. Von 2013 an sollen Hausärzte dann landesweit die neuen Kompetenzen erhalten. Alle Reformpläne sind in einem neuen gesundheitspolitischen Weißbuch der Regierung veröffentlicht.

Freilich: Ärztliche Berufsverbände, Krankenpflegergewerkschaft sowie Patientenverbände laufen Sturm gegen die Vorhaben der Regierung Cameron. Der britische Ärztebund (British Medical Association, BMA) kritisierte die Reformpläne als „halbgar“ und „potentiell sehr schädlich für die Zukunft der staatlichen Gesundheitsfürsorge“. Der BMA-Vorsitzende Hamish Meldrum in London: „Die Regierung Cameron ignoriert fast alle Bedenken der Ärzteschaft und anderer Gesundheitsberufe, die gegen die Reformen vorgetragen wurden. Die Reformen sind zu umfangreich, zu radikal, zu undurchdacht und zu schnell. Das Ziel der Regierung, mehr Wettbewerb in den staatlichen Gesundheitssektor zu bringen, ist falsch, da es die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und anderen NHS-Mitarbeitern erschweren wird.“

Auch die britische Krankenpflegergewerkschaft (Royal College of Nursing, RCN) wetterte gegen die Gesundheitsreform. „Wir rechnen mit der Streichung von bis zu 27 000 Pflegestellen im NHS. Das sind schlechte Nachrichten für alle Patienten“, so ein RCN-Sprecher gegenüber den zm in London. Das Londoner Gesundheitsministerium bestreitet, dass als Folge der Reformen Ärzte- beziehungsweise Krankenpflegestellen gestrichen werden sollen. Der Premierminister betonte mehrfach: „Therapeutische und diagnostische medizinische Versorgungsangebote werden nicht gekürzt“. Cameron sagte zuletzt Mitte Dezember, die NHS-Ausgaben würden nicht gekürzt und er sei bereit, dies „persönlich und unwiderruflich zu garantieren“.

Effizienteres Arbeiten

Allerdings sollen bis 2015 „rund 20 Milliarden Pfund“ (umgerechnet rund 26 Milliarden Euro) durch effizienteres Arbeiten im NHS eingespart werden. Daran zweifeln freilich die Berufsverbände. Sie warnen inzwischen öffentlich vor „der Zerstörung“ des staatlichen Gesundheitsdienstes schlechthin.

Die britische Zahnärzteschaft beobachtet die Diskussion mit großem Interesse. Die staatliche Zahnmedizin ist von den angestrebten Reformen zwar nur am Rande betroffen. Allerdings befürchten viele Zahnärzte, dass in Zeiten öffentlicher Geldknappheit über kurz oder lang auch im zahnmedizinischen Sektor mit Reformen begonnen werden könnte.

Aktuelle Meinungsumfragen zeigen, dass viele Patienten befürchten, als Folge der jüngsten NHS-Reformen nicht länger schnell genug medizinisch versorgt zu werden. Kritiker Camerons sprechen bereits vom „Anfang vom Ende der staatlichen Gesundheitsfürsorge“.

Arndt StrieglerGrove House32 Vauxhall GroveGB – London, SW 8 1SY

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