Der besondere Fall

Rehabilitation eines durch Bulimia nervosa beeinträchtigten Erosionsgebisses

Heftarchiv Zahnmedizin
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Oft ist es der Zahnarzt, der die Erstdiagnose Bulimie stellt, weil er an einer Patientin die typischen, für Patienten unsichtbaren, Erosionsschäden entdeckt. Der vorliegende Fall zeigt eine umfangreiche prothetische Rehabilitation, die möglichst substanzerhaltend sein und erst nach erfolgreichem Abschluss der Bulimiebehandlung erfolgen sollte.

Renzo Bassetti et al.

Verlust von Zahnhartsubstanz ohne Beteiligung von Mikroorganismen (Erosion, Abrasion und Attrition) muss von kariesverursachten Zahnhartsubstanzverlusten abgegrenzt werden. Erosionen werden durch chemische [Eccles, 1979] und durch mechanische Prozesse [Levitch et al., 1994], Abrasionen sowie Attritionen, durch physiologische oder pathologische okklusale Kontakte bei Parafunktion [Lussi Jaeggi, 2002] verursacht. Häufig überlagern sich erosive und abrasive Prozesse, wie bei übermäßigen Mundhygienemaßnahmen. Dies erschwert eine eindeutige Zuordnung zu einem Läsionstyp oder macht sie sogar unmöglich [Lussi et al., 2005]. Zusätzlich muss beachtet werden, dass die Attrition bei Zähnen, die durch Erosion Schmelz verloren haben, schneller voranschreitet.

Ursache von Erosionen

Erosionen können einerseits durch exogene Ursachen, wie häufiger Konsum säurehaltiger Lebensmittel oder berufsbedingte Säureexposition (Batterieindustrie, Weinverkoster, und mehr) [Holloway et al., 1968; Ten Bruggen Cate, 1968; Levine, 1973; Linkosalo Markkanen, 1985], andererseits durch endogene Ursachen, wie Erbrechen bei Bulimia nervosa oder chronische Magen-Darm-Störungen wie gastroösophagealer Reflux [Järvinen et al., 1988; Milosevic Slade, 1989; Meurman et al., 1994; Scheutzel, 1996] bedingt sein. Palatinale und okklusale Erosionen treten oft bei endogener, labiale Erosionen bei exogener Ätiologie auf [Lussi et al., 1991; Järvinen et al., 1992]. Bei Refluxerkrankungen beispielsweise können jedoch, bedingt durch die Liegeposition in der Nacht, durchaus bukkale Defekte (vor allem am Unterkiefer) entstehen. Um die Ausprägung der Erosionen zu beschreiben, kann die Klassifikation nach Bartlett et al. 2008 herangezogen werden (Tabelle). Die sogenannte „Basic Erosive Wear Examination“ (BEWE) ist ein Bewertungssystem, bei dem die am stärksten betroffene Oberfläche in allen Sextanten klassifiziert wird. Mit Hilfe des Summenwertes aller Sextanten kann anschließend die adäquate Therapie festgelegt werden.

Die Prävalenz von Essstörungen wie Anorexia und Bulimia nervosa, die typischerweise im Jugend- und frühen Erwachsenenalter auftreten, liegt in den westlichen Industriestaaten zwischen 0,5 bis 5 Prozent [Cooper et al., 1987; Santonasraso et al., 1996; Steinhausen et al., 1997]. Das Geschlechterverhältnis liegt bei Anorexia nervosa bei 1:10 (m:w) und bei Bulimia nervosa bei 1:20 (m:w) [Hoek van Hoecken, 2003]. Gemäß der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheits-organisation gehören Anorexia nervosa (Magersucht) und Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht) zu den Essstörungen. Die Anorexia nervosa wird als absichtlich selbst herbeigeführter und/oder aufrechterhaltener Gewichtsverlust charakterisiert. Die Erkrankung ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tief verwurzelte und dominierende Idee besteht, und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich festlegen. Die Patienten sind häufig stark untergewichtig. Die Bulimia nervosa dagegen zeichnet sich durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts aus. Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und selbstinduziertem Erbrechen oder Gebrauch von Abführmitteln. Viele psychische Merkmale dieser Störung ähneln denen der Anorexia nervosa, so die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht [Dilling Freiberger, 2008]. Die Bulimiepatienten fallen jedoch im Gegensatz zu Anorexiepatienten meist nicht durch Untergewicht auf. Orale und periorale Symptome bei Bulimiepatienten sind: Erosionen im Bereich der okklusalen und oralen Zahnoberflächen der Oberkieferzähne (vor allem Inzisiven), eine zum Teil schmerzhafte, metabolisch bedingte Vergrößerung der Parotis, Oligosialie, Erytheme im Bereich der Rachen- und Gaumenschleimhaut und schmerzhafte Rötung und Schwellung der Lippen mit Schuppung und Rhagadenbildung [Abrams Ruff, 1986]. Des Weiteren kann sich einerseits eine Hypersensitivität der Zähne mit Schmerzen bei heißen, kalten oder sauren Nahrungsmitteln zeigen, andererseits sind bei essgestörten Personen häufiger Gingivarezessionen anzutreffen als in entsprechenden Kontrollgruppen [Imfeld Imfeld, 2005].

Die Erstdiagnose der Bulimia nervosa erfolgt daher häufig durch den Zahnarzt [Lussi et al., 2005]. Da solche Patienten oft eine intensive mechanische Mundhygiene betreiben, kommt es durch die Kombination von erosiven und abrasiven beziehungsweise attritiven Prozessen zu einer noch höheren Verlustrate an der Zahnhartsubstanz [Schweitzer-Hirt et al., 1978; Jaeggi Lussi, 1999; Eisenburger et al., 2003; Attin et al., 2004]. Dies führt im Extremfall zum Verlust der gesamten supragingivalen Zahnhartsubstanz mit damit verbundenem Bisshöhenverlust in der Stützzone, Vitalitätsproblemen, Sprachstörungen (wie Lispeln) und möglicherweise erheblichen ästhetischen Einbußen.

Anhand des folgenden klinischen Fallbeispiels soll eine mögliche Therapievariante und das klinische Vorgehen aufgezeigt werden, wie ein durch Erosion und Abrasion geschädigtes Gebiss ästhetisch und funktionell rehabilitiert werden kann.

Patientenfall

Anamnese

Die zur Zeit der Erstuntersuchung 40-jährige Patientin war von ihrem Hauszahnarzt mit dem Wunsch nach einer Gesamtsanierung an die Klinik für Zahnärztliche Prothetik der Universität Bern überwiesen worden. Die Patientin litt seit dem 16. Lebensjahr unter anorektischer Bulimie. Eine zweijährige psychiatrische Behandlung konnte im Jahre 2000 erfolgreich abgeschlossen werden, und es kam seither zu keinen weiteren Rückfällen.

Durch eine entsprechende zahnärztliche Therapie sollten die Kaufunktion und die Ästhetik wieder hergestellt werden. Darüber hinaus sollte mit Hilfe der zahnärztlichen Behandlung die durch die momentane dentale Situation verursachte psychische Belastung mit Selbstwertproblematik, Verunsicherung und Schamgefühl behoben werden, um das psychische Gleichgewicht auf Dauer nicht zu gefährden. Im Weiteren lag ein hausärztliches Attest vor, dass keine Anhaltspunkte für gastroösophageale Refluxkrankheiten bestünden. Allgemeinmedizinisch lagen keine weiteren Besonderheiten vor.

Die Patientin berichtete über Schwierigkeiten mit ihrer Aussprache (Lispeln), Hypersensitivität der Oberkieferfrontzähne und ständig abbröckelnder Zahnhartsubstanz. Zusätzlich berichtete sie über das Vorhandensein von nächtlichem Bruxismus.

Befund

1. Extraoral:

Der extraorale Befund ließ keinen Verlust an vertikaler Dimension (Bisshöhe) vermuten. In Ruhe waren die Oberkieferfrontzähne nicht sichtbar. Beim Lachen exponierte die Patientin diese vollständig, wobei zusätzlich etwa ein Millimeter Gingiva sichtbar war („avarage gingival smile line“) [Peck et al., 1992]. Es zeigte sich ein sichtbarer Zahnhartsubstanzverlust an den Oberkiefer-frontzähnen und dadurch bedingt eine umgekehrte Frontzahnlachlinie (Abbildung 1). Kiefergelenke und Kaumuskulatur zeigten keine Auffälligkeiten.

2. Intraoral

Der intraorale Befund zeigte an der Mundschleimhaut, außer den bukkalen Rezessionen an allen Seitenzähnen (Abbildungen 2 und 3), keine besonderen Auffälligkeiten.

Es bestand ein generalisierter, je nach Region unterschiedlich ausgeprägter Zahnhartsubstanzverlust: Im Oberkiefer waren die palatinalen und okklusalen Zahnflächen betroffen, wobei der Schweregrad von posterior nach anterior zunehmend war. Im Unterkiefer waren die Erosionen mäßig ausgeprägt und beschränkten sich auf die Okklusalflächen (Abbildungen 4, 5, 6). Palatinal am marginalen Kronenrand persistierte jedoch auch bei den mit Grad 2 betroffenen Oberkieferfrontzähnen immer noch eine Schmelzleiste, was typisch ist, da einerseits schon nur kleine Plaquereste als Diffusionsbarriere für Säuren wirken können [Schweitzer-Hirt et al., 1978] und andererseits das Sulkus-Fluid mit seinem pH-Wert von 7,5 bis 8,0 zu einer Neutralisation der Säuren im Gingivabereich führt [Stephen et al., 1980]. O’Leary- und Bleeding on Probing-Index [O’Leary et al., 1972; Ainamo Bay, 1975] deuteten auf eine gute Mundhygiene hin [Imfeld Imfeld, 2005]. Zusätzlich zeigte sich eine Verfärbung des Zahnes 23.

Der dentale Befund zeigte erwartungsgemäß sehr wenige kariöse Läsionen [Scheutzel, 1992]: Sekundärkaries 36 mesial. Alle Zähne, außer Zahn 23, reagierten positiv auf den CO2-Test, wobei die Zähne 14 bis 24 äußerst schnell und stark auf den Kältereiz ansprachen. Alle Zähne, außer drei Weisheitszähne, waren noch vorhanden, wobei der Weisheitszahn 38 vollretiniert war.

Der parodontale Befund wurde mittels Parodontalstatus erhoben: Es zeigten sich mit maximalen Sondierungstiefen von ≤ 3 mm und einem Beweglichkeitsgrad 0 ubiquitär an allen Zähnen klinisch gute parodontale Verhältnisse [Willershausen et al., 1990; Kühnl, 1990; Scheutzel, 1992].

Radiologisch zeigten sich keine periapikalen Aufhellungen und eine suffiziente Wurzelbehandlung am Zahn 23. Auffallend war der massive inzisale Zahnhartsubstanzverlust an den Oberkieferfrontzähnen (Abbildung 7).

Diagnose

• Sekundärkaries 36 mesial

• nächtlicher Bruxismus

• Rezessionen im Seitenzahnbereich bukkal

• kein Bisshöhenverlust, wahrscheinlich aber kompensatorische Elongation des Oberkiefer Frontzahnsegments

• suffiziente Wurzelfüllung 23 (Verfärbung)

• Kombination von Erosion und Attrition:

• Oberkiefer: okklusal und palatinal (Frontzahnbereich am stärksten betroffen) = bei den Zähnen 13 bis 22 nur noch extrem wenig Dentin über Pulpa vorhanden (leichtes Durchschimmern des Pulpakavums)

• sehr kurze klinische Kronen im Oberkiefer-Frontzahnsegment

• Unterkiefer: okklusal (Höckerspitzen)

Behandlungsplan

• Diagnostik mit einartikulierten Modellen und Mock-up

• Hygieneinstruktion

• Parodontalchirurgische Korrekturen (Kronenverlängerung) an den Zähnen 13 bis 23 und Lippenbandexzision zwischen 11, 21

• Internes Bleaching des Zahnes 23

• Reevaluation 1 (parodontaler Befund)

• Versuch mittels anteriorer Aufbissplatte (Dahl-Prinzip) im Frontzahnbereich in der vertikalen Dimension Platz zu schaffen [Dahl et al., 1975; Briggs et al., 1997]

• Reevaluation 2 (Beurteilung der durch kieferorthopädische Mittel erzielten Bisshebung im Seitenzahnbereich)

• Eventuell geringe Bisserhöhung im Seitenzahnbereich mittels direkten Kompositaufbauten

• Grobpräparation und Versorgung der Oberkieferfrontzähne mit Provisorien

• Reevaluation 3

• Definitive, festsitzende Versorgung mit Vollkeramikkronen und Michigan-Schiene in der Nacht

• Recall

Behandlungsablauf

Diagnostik mit einartikulierten Modellen und Mock-up

Es wurden Studienmodelle und ein Mock-up der Oberkieferfrontzähne hergestellt. Der Vorteil eines Mock-ups gegenüber einem Wax-up ist, dass es direkt am Patienten einprobiert werden kann und chairside Änderungen vorgenommen werden können. Die palatinale Schichtdicke des Mock-ups (0.5 mm) entsprach der benötigten Schichtdicke für eine vollkeramische Arbeit im Frontzahnbereich (Abbildungen 8, 9, 10, 11).

Mit der Einprobe des Mock-ups am Patienten konnte zusätzlich der aktuelle und der prospektive Verlauf des Gingivasaumes beurteilt werden: Bei der Patientin zeigte sich eine Asymmetrie im Verlauf des Gingivasaumes (Abbildung 12). Gemäß Chiche et al., 1994 ist, wenn möglich, eine Symmetrie in diesem Bereich anzustreben, wobei der Gingivasaum am seitlichen Schneidezahn ein wenig weiter koronal liegen sollte als beim mittleren Schneidezahn und dem Eckzahn [Chu et al., 2009]. Beim Mock-up wurde dem Rechnung getragen (Abbildung 13), so konnte dieses intraoperativ als Referenz für den parodontal-chirurgischen Eingriff (Kronenverlängerung) verwendet werden.

Hygieneinstruktion und Lippenbandexzision

Der Patientin war der Zusammenhang zwischen Magensäure und Zahnhartsubstanzverlust hinlänglich bekannt, und die Mundhygiene war bereits auf einem sehr hohen Niveau. Man beschränkte sich deshalb auf die Instruktion der Stillman-Technik (Verhinderung des Fortschreitens der Rezessionen) und Zahnseide sowie die Aufklärung über die Interaktion von säurehaltigen Nahrungsmitteln mit der Zahnhartsubstanz. Als Vorbereitung zum parodontal-chirurgischen Eingriff wurde das Lippenband mittels CO2-Laseranwendung nach apikal verlegt.

Parodontal-chirurgische Korrekturen (Kronenverlängerung) an den Zähnen 13 bis 23

Um mehr Retentionsfläche für die geplanten Vollkeramikkronen im Oberkiefer-Frontzahnbereich zu erhalten, war eine parodontal-chirurgische Pfeilerverlängerung unumgänglich. Zeitgleich wurde die Frontästhetik harmonisiert. Als intraoperatives Hilfsmittel diente das für die Diagnostik hergestellte Mock-up, wobei der prospektive Kronenrand (apikaler Rand des Mock-up) als Referenz für die Erstellung der biologischen Breite von zwei bis drei Millimetern diente, deren Einhaltung für die Langzeitstabilität des Knochen- und Gingivaniveaus essentiell ist [Gargiulo et al., 1961; Nevins Skurow, 1984; Brägger et al., 1992]. Mittels „Split-full thickness buccal flap“ (das heißt Split flap im bukkalen Papillenbereich und full thickness flap weiter apikal) [Besimon, 1999] und leichter bukkaler Osteotomie gemäss Ausdehnung des Mock-ups wurde die chirurgische Kronenverlängerung an den Zähnen 13 bis 23 durchgeführt, wobei die interdentalen Papillen unangetastet blieben. Es wurden keine vertikalen Entlastungsschnitte angelegt. Der mobilisierte Mukoperiostallappen wurden etwa zwei bis drei Millimeter weiter apikal wieder adaptiert und mittels vertikalen Rückstichnähten an den Papillen fixiert (Seralon®5-0, Serag-Wiessner, Naila, Deutschland), um eine schnellere marginale Gewebestabilisierung zu erreichen [Deas et al., 2004]. Im Anschluss an den chirurgischen Eingriff wurde eine Chlorhexidinspülung (meridol®perio 0,2-prozentig) drei Mal pro Tag verordnet (Abbildungen 14, 15, 16, 17).

Internes Bleaching 23

Während der Abheilungsphase im Oberkiefer-Frontzahnbereich wurde das interne Bleaching des Zahnes 23 durchgeführt. Um eine Penetration von Bleichmittel (Opalescence®Endo®, Ultradent) in den Parodontalraum oder den Wurzelkanal zu verhindern, wurde das Wurzelfüllmaterial mit einem dichten Unterfüllungsmaterial (VitrebondTM, 3M ESPE) abgedeckt [De Oliveira et al., 2003].

Reevaluation 1

Nach einer Abheilungsphase von zwei Monaten wurde der Verlauf des Gingivasaumes beurteilt (Abbildung 18). Um im Frontzahnbereich intermaxillär Platz für die geplanten Einzelzahnrekonstruktionen zu generieren, entschied man sich, eine Bisshebung um 0,5 mm mittels Frontaufbissplatte im Oberkiefer zu versuchen (Dahl-Prinzip): Man erhoffte sich dadurch eine Elongation der Seitenzähne beziehungsweise Intrusion der Frontzähne [Dahl et al., 1975; Briggs et al., 1997] (Abbildung 19).

Reevaluation 2

Nach zwei Monaten Tragzeit konnten keine nennenswerten Veränderungen in der vertikalen Dimension festgestellt werden. Da diese Variante zur Platzschaffung in vertikaler Dimension nicht vorhersagbar ist [Imfeld Imfeld, 2005], und die Patientin zudem bereits 40 Jahre alt war, musste damit gerechnet werden, dass diese minimalinvasive Methode nicht zur vorgesehenen Elongation in den Seitenzahnsegmenten führen würde. Da die Frontzähne immer noch in Kontakt standen und beim Beschleifen der Palatinalflächen der Zähne 13 bis 22 zur Platzschaffung mit großer Wahrscheinlichkeit deren Pulpa Schaden genommen hätte, wurde entschieden, den benötigten Platz in vertikaler Dimension (Frontzahnbereich) mittels direkter Kompositfüllungen im Unterkiefer-Seitenzahnbereich zu generieren [Imfeld Imfeld, 2005].

Bisserhöhung im Seitenzahnbereich mittels direkten Kompositaufbauten

Als Referenz für die prospektive Bisshöhe diente wiederum das zur Diagnostik hergestellte Mock-up. Die direkten Kompositaufbauten (Tetric®,EVO Ceram, Ivoclar Vivadent AG, Schaan, Liechtenstein) wurden innerhalb zweier kurz aufeinanderfolgender Sitzungen inseriert, indem der oberflächliche Schmelz nur leicht abgetragen (Schmelzplastik) wurde (Abbildung 20).

Versorgung mit Provisorien der Oberkieferfrontzähne

Die Zähne 13, 12, 11, 21, 22, 23, 24 wurden für Einzelkronen und der Zahn 14 für ein palatinales Veneer präpariert, wobei palatinal keine Zahnsubstanz entfernt, sondern nur die bereits bestehende hohlkehlenartige erosionsbedingte Einziehung etwas nach apikal verlegt wurde. Mittels dieser Vorgehensweise konnten alle Frontzähne, außer der bereits zu Beginn wurzelbehandelte Zahn 23, vital erhalten werden.

Die vorbereiteten Eierschalenprovisorien wurden direkt im Mund der Patientin unterfüttert, ausgearbeitet und mit provisorischem Zement (TempBond®,Clear, KerrHawe, Bioggio, Schweiz) eingegliedert (Abbildungen 21, 22).

Reevaluation 3

Die Patientin adaptierte rasch an die neue Bisshöhe, und es zeigten sich keine Beschwerden an den Kiefergelenken beziehungsweise der Kaumuskulatur. Mit der Ästhetik war die Patientin sehr zufrieden.

Definitive Versorgung

Die definitive Abformung im Oberkiefer wurde mittels individuellem Löffel und Impregum Penta (3M ESPE AG, Seefeld, Deutschland) unter Anwendung der Doppelfadentechnik durchgeführt [Cloyd Puri, 1999; Perakis et al., 2004]. Die Registrierung erfolgte mit Hilfe eines Wachs-Durchbissregistrats in maximaler Interkuspidation (Moyko Beauty Pink, Moyco Industries, Philadelphia, USA). Die extraorale Registrierung im Oberkiefer mittels Gerber-Gesichtsbogen (Gerber Condylator Service, Zürich, Schweiz) wurde zur Übertragung der Bipupillarlinie in den Artikulator, das heißt aus Symmetriegründen, verwendet (Abbildung 23). Da die Patientin in der Nacht knirschte, wurden Zirkonoxidkronen (Zähne 13 bis 24) hergestellt, wobei deren Palatinalflächen aufgrund des geringen intermaxillären Platzangebotes (0,5 mm) nicht verblendet, sondern nur eingefärbt wurden. Auf diese Weise konnte auf der Palatinalseite ohne Probleme mit einer Schichtstärke von 0,5 mm gearbeitet werden. Die Zirkonoxidkappen wurden aus teilgesinterten Zirkonblöcken (Metoxit AG Dental) mittels des Zenotec-Systems (Wieland) gefräst und anschließend druckgesintert (Schrumpfung: 24 bis 26 Prozent). Die Verblendung erfolgte mit Feldspatkeramik (Creation, C+M, Biel, Schweiz) (Abbildungen 24, 25). Zur Versorgung des palatinalen Defekts am Zahn 14 wurde wie geplant ein Veneer (Empress II) hergestellt (Abbildung 24).

Die Zirkonoxidkronen 13, 12, 11, 21, 22, 23, 24 und das palatinale Veneer 14 wurden adhäsiv mittels Panavia F2.0 TC (Kuraray Co, Japan) zementiert [Kunzelmann et al., 2006] (Abbildungen 26, 27, 28). Anschließend wurde die Patientin in ein sechs-monatiges Recall-System aufgenommen.

Wenn Säure wiederholt über längere Zeit auf die Zahnhartsubstanz (Schmelz, Dentin) einwirkt, kann dies zur massiven Zerstörung der Zähne führen. Die Ausprägung der klinischen Manifestationen bei Bulimie- und Anorexie-Patienten ist einerseits abhängig von der Häufigkeit und Dauer des Erbrechens sowie der Krankheitsdauer selbst [Scheutzel, 1996; Studen-Pavlovich Elliott, 2001], andererseits von der Art undIntensität der Mundhygienemaßnahmen nach dem Erbrechen [Schweitzer-Hirt et al., 1978; Jaeggi Lussi, 1999, Eisenburger et al., 2003; Attin et al., 2004]. Zudem wird die Attrition durch normale Zahnkontakte verstärkt.

Typischerweise beginnen die erosiven Prozesse bei Ess- und Brechsucht-Patienten zuerst an den Palatinalflächen der Oberkieferfrontzähne, wo sie für den Patienten initial nicht sichtbar sind. Dabei hat der Zahnarzt eine wichtige „Enthüllerfunktion“: Er kann oft als erste ärztliche Person eine Bulimia nervosa erkennen. Je frühzeitiger die Diagnose gestellt wird und dementsprechend geringer die Zahnhartsubstanzschäden ausgeprägt sind, desto eher besteht die Möglichkeit ausschließlich präventiv eingreifen zu können [Imfeld, 1996; Imfeld Imfeld, 2005] oder mit direkten adhäsiven Maßnahmen die Defekte zu decken. Ist der Zahnhartsubstanzverlust bereits in einem fortgeschritteneren Stadium, muss häufig relativ aufwendig restauriert werden. In jedem Fall sollte jedoch vor einer definitiven Versorgung das Grundleiden behoben sein. Im Falle eines durch Bulimia nervosa bedingten Zahnhartsubstanzverlusts darf kein regelmäßiges Erbrechen mehr stattfinden. Andernfalls wäre der Langzeiterfolg einer zahnärztlichen Versorgung äusserst fraglich [Imfeld Imfeld, 2005].

Bei der Planung der definitiven zahnärztlichen Therapie müssen einige Aspekte berücksichtigt werden: Besteht ein Verlust in der vertikalen Dimension? Sind die Platzverhältnisse intermaxillär? Wie deutlich sind die Oberkieferfrontzähne beziehungsweise Gingiva in Ruhe und beim Lachen zu sehen? Wie verläuft der Gingivasaum? Wie viel Restzahnsubstanz ist noch vorhanden?

Im vorliegenden Fall bestand kein Bisshöhenverlust, da sich im Seitenzahnbereich an den Okklusalflächen nur leichte Erosionen an den Höckerspitzen zeigten. Die Zahnhartsubstanz der Oberkieferfrontzähne hatte jedoch stark gelitten und an den Palatinalflächen der Zähne 13 bis 22 war das Pulpagewebe nur noch von einer dünnen Restdentinschicht bedeckt. Trotzdem standen die Frontzähne mit ihren Antagonisten nahezu in interokklusalem Kontakt. Es besteht die Möglichkeit einer kompensatorischen Elongation des Oberkieferfrontzahnsegments. Intermaxillär war im Frontzahnbereich kein Platz für eine Rekonstruktion der Frontzähne vorhanden. Eine entsprechende inzisale, beziehungsweise palatinale Reduktion der Zahnhartsubstanz an den Oberkiefer-frontzähnen hätte jedoch unweigerlich zu deren Devitalisierung geführt. In Ruhelage der Lippe waren die Oberkieferzähne nicht sichtbar. Beim Lachen exponierte die Patientin die Frontzähne jedoch vollständig sowie etwa ein Milimeter der marginalen Gingiva. Der Verlauf des Gingivasaumes war nicht symmetrisch und die Menge an Restzahnsubstanz im Frontzahnbereich reichte nicht aus, um Kronen mit genügend Stumpfhöhe zu präparieren, weshalb eine Kronenverlängerung durchgeführt wurde. Mit dem gleichen Eingriff konnte zugleich der Verlauf des Gingivasaumes korrigiert und harmonisiert werden [Chiche et al., 1994; Chu et al., 2009]. Da eine „avarage gingival smile line“ bestand [Peck et al., 1992], wurde die Lage der Papillen nicht verändert. Die Seitenzähne waren okklusal noch von Schmelz bedeckt, worauf man versuchte, die benötigte Bisshebung möglichst minimalinvasiv mittels Frontaufbissplatte (Dahl-Prinzip) zu erreichen, die die Patientin 24 Stunden pro Tag trug [Dahl et al., 1975, Briggs et al., 1997]. Leider funktionierte dieser Therapieansatz wahrscheinlich aufgrund des Alters der Patientin nicht und man entschied sich, die Bisshebung mit Hilfe von Kompositaufbauten im Unterkiefer-Seitenzahnbereich durchzuführen [Imfeld Imfeld, 2005; Dietschi, 2008]. Während der ganzen Behandlung war man bestrebt, übermäßigen Verlust an gesunder Zahnhartsubstanz zu vermeiden, insbesondere um endodontische Behandlungen der Oberkieferfrontzähne zu umgehen.

Aufgrund der geringen Stumpfhöhe der Pfeiler wurden die Zirkonoxidkronen mittels Panavia F2.0 (Kuraray Co, Japan) zementiert [Kunzelmann et al., 2006], denn nach Angaben des Herstellers soll es zwischen diesem Kompositzement und der Oxidkeramik über die Ausbildung von Phosphatbrücken zu einem chemischen Verbund kommen.

Als Schutz vor attritiven Folgeschäden wurde nach Beendigung der prothetischen Arbeit eine Michigan-Schiene hergestellt, die die Patientin nachts immer tragen sollte.

Dieses Fallbeispiel zeigt, dass bei Beachtung grundlegender Faktoren und systematischem Vorgehen, komplexe zahnmedizinische Probleme relativ einfach und ästhetisch ansprechend gelöst werden können.

Zusammenfassung

Der Zahnarzt ist aufgrund der typischen Lokalisationen der erosiven Veränderungen der Zahnhartsubstanz bei anorektisch/bulimischen Patienten häufig die erste ärztliche Person, die diese Allgemeinerkrankung (Anorexia beziehungsweise Bulimia nervosa) erkennt. Oberstes Ziel aus zahnmedizinischer Sicht muss der Erhalt noch vorhandener Zahnhartsubstanz und die Vermeidung weiterer Verluste sein. Eine restaurative Behandlung sollte aber erst nach erfolgter kausaler Therapie und Heilung des allgemeinmedizinischen Grundleidens begonnen werden, um eine möglichst gute Langzeitprognose zu erreichen. In Anbetracht des meist noch nicht so hohen Alters der Patienten, sollten bei der Wahl des restaurativen Vorgehens, wenn möglich, substanzschonende Therapiekonzepte unter Anwendung der Adhäsivtechnik in Betracht gezogen werden. Der vorliegende Fallbericht dokumentiert den systematischen Ablauf der funktionellen und ästhetischen Rehabilitation eines durch erosive Prozesse geschädigten Gebisses und zeigt Faktoren auf, welche für eine Behandlung essenziell sind.

Dr. Renzo Bassetti,

Dr. Fritz-Marc Fahrländer,

Prof. Dr. Regina Mericske-Stern,

PD Dr. Norbert Enkling

Klinik für Zahnärztliche Prothetik

Dr. Mario Bassetti

Klinik für Parodontologie

Zahnmedizinische Kliniken Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

renzo.bassetti@zmk.unibe.ch

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Aus: „Schweizer Monatsschrift für Zahnmedizin“, Vol. 122 1/2012

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