Notfalltraining

Die Hyperventilation

202827-flexible-1900

Monika Daubländer et al.

Donnerstagnachmittag in der Praxis. Das Wochenende nähert sich. Dem sonnigen Abend steht nur noch ein letzter neuer Patient bevor. Während die behandelnde Zahnärztin gerade mit der provisorischen Füllung eines Wurzelkanal-behandelten Zahnes beschäftigt ist, stürmt die Helferin von der Rezeption in das Zimmer: „Frau Doktor, können sie sich mal bitte schnell Herrn Maier anschauen! Ich glaub' ihm geht's nicht so besonders!" Ohne zu Zögern bittet die Zahnärztin den vor ihr sitzenden Patienten um Verzeihung und eilt ins Wartezimmer. Dort findet sie den besagten neuen Patienten vor. Er sitzt verkrampft auf dem Stuhl, atmet tief und schnell. „Herr Maier, was ist mit Ihnen?", fragt sie und versucht den Radialispuls zu tasten. Der Patient, 35 Jahre alt, groß und athletisch, wirkt auf sie vollkommen gesund. Seine Lebensgefährtin, die bei ihm sitzt, hält seine Hand und erzählt, dass er schon immer unglaubliche Angst vor Zahnarztbesuchen hatte.

Bereits Tage zuvor sei er immer so angespannt. Schon der typische Praxisgeruch mache ihn total nervös. Wenn aktuell diese Schmerzen nicht wären, dann hätte sie ihn wohl niemals dazu gebracht, einen Termin zu vereinbaren.

Der Patient klagt über ein Kribbeln im Mundbereich, einen Reizhusten und leichten Schwindel. Die Zahnärztin bittet die zahnmedizinische Fachangestellte, den Notfallkoffer zu holen und wendet sich dem Patienten zu. Mit ruhiger Stimme fordert sie den Patienten auf, sich auf sie zu konzentrieren. Sie fragt ihn, ob er das Gefühl habe, nicht ausreichend Luft zu bekommen und erklärt ihm, dass sie den Eindruck habe, dass er zu schnell atme. Sie bittet ihn, möglichst ruhig ihr „nach zu atmen“. Begleitet von deutlicher Gestik macht die Ärztin mehrere langsame Atemzüge mit kurzen Pausen dazwischen. Der Patient, der zwar ihren Anweisungen folgen möchte, ist aufgrund der ihm unangenehmen Situation nicht in der Lage, seine Atmung zu beruhigen. In diesem Moment erscheint die zahnmedizinische Fachangestellte mit dem geforderten Notfallkoffer und nimmt auf Anweisung der Zahnärztin den Rückatembeutel heraus. Die Beatmungsmaske wird dem Patienten gezeigt mit der Aufforderung, in sie ein- und auszuatmen, so dass sich der Beutel füllt und leert. Da er aufgrund der Pfötchenstellung der Hände nicht in der Lage ist, die Maske selbst zu halten, fixiert sie die Zahnärztin über Mund und Nase des Patienten. Nach mehreren Minuten kann allmählich eine Besserung des Zustands festgestellt werden. Die Atmung normalisiert sich, und der Patient ist in der Lage die Maske selbst zu halten und beruhigt sich zunehmend.

Definition der Fehlatmung

Als Hyperventilation wird häufig fälschlicherweise die bei einem Menschen auftretende reine Steigerung der Atemfrequenz bezeichnet. Physiologisch liegen je nach Konstitu- tionstyp weniger als 16 Atemzüge bei einem Atemzugvolumen von bis zu 600 Millilitern vor [Bass und Gardner, 1985]. Die Steigerung der Atmung über das Volumen oder die Frequenz wird als Hyperpnoe bezeichnet und kann häufig bei febrilen Patienten mit erhöhtem Energieumsatz und vermehrter CO2-Produktion beobachtet werden [Renz-Polster H., 2006]. Die Definition der Hyperventilation beinhaltet jedoch die über den metabolischen Bedarf hinaus erhöhte Atmung, bei der das Maß der Ventilation die CO2-Produktion überschreitet und eine respiratorische Alkalose auslöst. Als Hyperventilations-Syndrom bezeichnet man die typische Klinik aus abnorm erhöhter Atmung und die aus der Alkalose resultierenden körperlichen Symptome [Bass et al., 1985].

Pathophysiologie

Hyperventilation kann durch psychische wie organische Ursachen ausgelöst werden. Während bei organischen Ursachen die respiratorische Alkalose meist zum Ausgleich einer vorliegenden metabolischen Azidose dient (wie bei diabetischem Koma, Urämie oder Salizylatintoxikation), ist beim Hyperventilations-Syndrom die Erhöhung der Atmung fast immer psychogen bedingt und führt zu einer Steigerung des syste- mischen pH-Wertes [Gardner et al., 1986]. Dabei befinden sich Patienten nicht selten in einem Teufelskreis, der zur Verstärkung der Symptomatik führt [Clark et al., 1985].

Die Erregung des Atemzentrums durch das limbische System führt bei Menschen in Stress- oder Angstsituationen zu tieferen und häufigeren Atemzügen, wodurch vermehrt CO2abgeatmet wird [Bass et al., 1985]. Das Absinken des paCO2 (Partialdruck des Kohlendioxid im arteriellen Blut) resultiert in einer Verminderung der H+-Ionen im Blut, was sich in verschiedenen Symptomen manifestiert und zur weiteren Verunsicherung des Patienten sowie zur verstärkten Erregung des Atemzentrums führen kann [Clark et al., 1985; Stocchetti et al., 2005].

Das Absinken der extrazellulären H+-Ionenkonzentration löst kompensatorisch das Ausströmen zellulärer Protonen aus. Dieser Mechanismus soll helfen, die extrazelluläre H+-Konzentration aufrechtzuerhalten. Im Gegenzug strömen allerdings aufgrund des Ionengradienten Kalium- und Natriumionen in die Zellen ein, was mit einer milden Hypokaliämie und Hyponatriämie einhergeht.

Bei ausgeprägter Alkalose erfolgt zudem kompensatorisch die Abspaltung von H+-Ionen von Albumin. Die freiwerdende Bindungsstelle des Albumins wird nun von freien Kalziumionen besetzt, was zu einer relativen Hypokalzämie führt, da nur der Anteil des gelösten Ca2+ abnimmt [Stocchetti et al., 2005; Moon et al., 2011].

Die typischen Symptome

Die systemischen Effekte der Hyperventilation sind multifaktoriell und können unterschiedliche Körperteile beeinflussen. Zu den häufigsten Symptomen gehören Schwindel, Herzrasen, Brust- oder Bauchschmerzen und Kribbeln der Finger bis hin zur Tetanie [Cowley und Roy-Byrne, 1987; Hornsveld et al., 1990].

Für das zentrale Nervensystem stellt der paCO2 den wichtigsten Indikator für die Autoregulation der Durchblutung dar. Da eine Erhöhung des paCO2 in der Regel mit einem niedrigen Sauerstoffpartialdruck einhergeht, kommt es zu einer Dilatation der cerebralen Gefäße und zur verstärkten Durchblutung. Die Hypokapnie hingegen führt zur Konstriktion cerebraler Arterien, sodass es bei der Hyperventilation trotz des hohen Sauerstroffpartialdrucks des Blutes zu einer Unterversorgung des ZNS kommt. Der Patient verspürt dies als Kopfschmerzen oder Schwindel bis hin zur Benommenheit oder sogar Synkope [Stocchetti et al., 2005].

Nicht nur die Autoregulation cerebraler Gefäße, sondern auch der Koronarien wird direkt durch eine Hypokapnie beeinflusst. Die Konstriktion der Koronarien vermindert die Perfusion der Herzmuskulatur und führt gemeinsam mit der kompensatorischen Hypokaliämie und Hypokalzämie, die in einer Verringerung der Erregungsschwelle des Herzens resultieren, zu einem erhöhten Risiko einer Angina Pectoris oder eines Myokardinfarkts. Die Hypokalzämie ist zudem Ursache der Parästhesien und kann in Extremfällen zur Tetanie mit „Pfötchenstellung“ führen [Stocchetti et al., 2005].

Die Diagnose

Das Hyperventilations-Syndrom ist aufgrund der typischen Klinik in der Regel einfach zu diagnostizieren. Kann jedoch der Verlauf nicht klar nachvollzogen werden, erfolgt häufig die Klinikeinweisung mit einem breiten Spektrum internistischer Erkrankungen (wie Myokardinfarkt, Apoplex).

Da allerdings viele Erkrankungen ebenfalls zu einer Hyperventilation führen können, sollte zum Ausschluss möglicher organischer Ursachen die genaue Abklärung des Patienten erfolgen. Die Hyperventilation zeigt in der Blutgasanalyse typischerweise eine Erhöhung des pH-Wertes und paO2 sowie eine Erniedrigung des Bikarbonats und paCO2. Auch EKG, klinische Untersuchung und Blutzuckerkontrolle sind schnell durchführbare Hilfsmittel zur Diagnose der Hyperventilation [Renz-Polster H., 2006]. Die psychogene Hyperventilation stellt stets eine Ausschlussdiagnose dar.

Differenzialdiagnosen

Es gibt eine Vielzahl von Differen-zialdiagnosen, die eine Hyperventilation auslösen oder aber eine ähnliche Symptomatik aufweisen können. Zu den wichtigsten gehören der Pneumothorax, die Pneumonie, ein thromboembolisches Geschehen, die diabetische Keto-azidose, eine Salizylatintoxikation, Sepsis, Urämie sowie der Myokardinfarkt.

EKG, Blutgasanalyse, Blutzucker- und Laborkontrolle können neben der klinischen Untersuchung zur sicheren Diagnosestellung führen. Abnorme EKG-Konfigurationen können beispielsweise einen Myokardinfarkt (wie ST-Streckenhebung) oder eine Lungenembolie (S1Q3-Typ) aufzeigen und bedürfen umgehend notfallmedizinischer Therapie.

Klinisch sollte die Auskultation der Lunge und des Herzens erfolgen. Die Fremdanamnese durch Angehörige und die Einschätzung des Risikoprofils eines Patienten können zudem bei der Diagnose hilfreich sein.

Die Therapie

Die Therapie der Hyperventilation beinhaltet zum einen die Behebung der Ursache und zum anderen die Stabilisierung des klinischen Zustands. Kann eine psychogene Ursache ausgemacht werden, muss die Beruhigung des Patienten erfolgen, indem er über die Situation und die Harmlosigkeit seines Zustands aufgeklärt wird.

Über eine Anreicherung von CO2 im Blut wird eine Verbesserung erreicht. Hierzu kann zunächst versucht werden, den Patienten zum langsameren Atmen anzuleiten. Sollte dies nicht erfolgreich sein, muss ein Hilfsmittel, im ein- fachsten Fall ein Plastikbeutel, zur Rückatmung des ausgeatmeten CO2 eingesetzt werden. Der Patient wird aufgefordert, über den vor den Mund gehaltenen Beutel beziehungsweise eine Maske mit Beutel die Expirationsluft und somit das CO2 rück zu atmen [Renz-Polster H, 2006; Han et al., 1996]. In schweren Fällen kann zudem die medikamentöse Sedierung des Patienten notwendig sein (wie Midazolam, Diazepam).

Kritische Wertung

Die Zahnärztin reagiert im beschriebenen Fall ideal auf die Situation und den hyperventilierenden Patienten. Indem sie ruhige Anweisungen sowohl an Ihr Team als auch an den Patienten gibt, vermeidet sie eine zusätzliche Verschlimmerung des Angst- zustands. Da sie sofort den Puls tastet und mit der Anleitung zur Beruhigung der Atmung beginnt, während der Notfallkoffer herbeigeholt wird, verliert die Zahnärztin zudem keine Zeit in der Behandlung. Durch regelmäßige Notfallschulungen in der Praxis können insbesondere die richtige Kommunikation und Aufgabenverteilung im Team geübt werden, um stets auf Notfallsituationen vorbereitet zu sein.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Monika DaubländerPoliklinik für Zahnärztliche ChirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainzdaublaender@uni-mainz.de

Dr. Dr. Peer KämmererDr. Roman Rahimi-NedjatKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)Augustusplatz 255131 Mainz

Dr. Martin EmmelPraxis Dr. MohrThilmanystr. 554634 Bitburg

Dr. Gepa Schwidurski-MaibHans-Katzer-Str. 450858 Köln

INFO

Mögliche Fehler bei der Therapie

• Zusätzliche Verunsicherung des Patienten durch unsicheres Auftreten oder hektische Anweisungen an das Team

• Verzögerung bei der Einleitung der Maßnahmen

• Missachtung und nicht ernst nehmen der Notfallsituation

• Übersehen einer organischen Ursache

INFO

Präventive Maßnahmen

• regelmäßige Notfallfortbildungen und Training der Kommunikation mit Patienten und Team

• klare Aufgabenverteilung innerhalb des Teams

• Vorbereitung auf bekannte Angst-patienten und gegebenenfalls ent-sprechende Prämedikation oder Sedierung vor der Behandlung

• Gestaltung einer möglichst ruhigen und entspannten Atmosphäre in der Praxis

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