Deutscher Kongress für Versorgungsforschung und Nationaler Präventionskongress

Neue Schnittstellen zwischen Medizin und Zahnmedizin

In Dresden suchten Experten aus der Präventions- und Versorgungsforschung drei Tage lang intensiv nach neuen Lösungswegen, um bestehende Fehlentwicklungen in der medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung zu korrigieren. Fachgesellschaften mahnen an, dass eine Fehl-, Über- und Unterversorgung sowie ein Mangel an Prävention das deutsche Gesundheitswesen jährlich mit Milliardensummen belasten. Die Zahnmedizin wurde als Präventionspionier gelobt.

Es war der 11. Deutsche Kongress für Versorgungsforschung und gleichzeitig der 4. Nationalen Präventionskongress, der vom 27. bis 29. September im Deutschen Hygienemuseum in Dresden ausgetragen wurde. Erstmals von Zahnmedizinern organisiert, wurde die Tagung federführend von der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) gemeinsam mit dem Deutschen Verband für Gesundheitswissenschaften und Public Health (DVGPH) sowie dem Deutschen Netzwerk für Versorgungsforschung (DNVF) durchgeführt. Insgesamt tauschten sich die Teilnehmer in 41 Workshops sowie in Plenarsitzungen und Posterpräsentationen aus.

Politik muss Strategien zur Gesundheit überdenken

Sowohl ein gewandeltes Krankheitsspektrum, die Globalisierung der Wirtschaft als auch die Alterung der Gesellschaft zwängen hoch entwickelte Gesellschaften zum Überdenken ihrer gesundheitspolitischen Strategien, erklärte Prof. Wilhelm Kirch, Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie der Medizinischen Fakultät an der Technischen Universität Dresden zu Beginn des Kongresses. Gesundheitsförderung und Prävention seien humane und effiziente Wege zur Bewältigung dieser Herausforderungen. Außerdem könnten sie die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft fördern und die sozialen Sicherungssysteme stabilisieren.

Ein Blick auf die Datenlage zeigt: Das vermeidbare Ausmaß von Über- und Fehlversorgung – unter Berücksichtigung des Ausgleichs von Unterversorgung – kann auf jährlich acht bis zehn Milliarden Euro beziffert werden. So schätzt es jedenfalls der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen. Im Bereich chronischer Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck ließen sich bei zielgerichteter Prävention demnach auf Dauer noch einmal rund 30 Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen einsparen.

Falsche Therapien – Antibiotika gegen Infekte

Für Prof. Gerd Glaeske, Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen und Hauptgeschäftsführer des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF), bringt die Versorgungsforschung mehr Transparenz in die Qualität medizinischer Leistungen, es gehe dabei um deren Nutzen und um Aspekte von Unter-, Über- und Fehlversorgung. Glaeske führte als Beispiele für die Fehlversorgung die Tatsache an, dass Kinder immer noch zu viele Antibiotika bei Infektionen der oberen Atemwege verordnet bekämen. Dabei seien diese Infektionen meist virusbedingt und Antibiotika hier fehl am Platz. Glaeske ergänzte: „Menschen mit Demenz bekommen zu viele Neuroleptika, viele dieser starken Beruhigungsmittel könnten eingespart werden, wenn neue Pflegekonzepte (‚Aktivierende Pflege’) berücksichtigt oder mehr physiotherapeutische Maßnahmen angewendet würden. Bei Menschen mit Demenz schaden Neuroleptika, sie führen nachweislich zur höheren Sterblichkeit im Vergleich zu Patienten, die keine Neuroleptika bekommen.“ Unterversorgung sieht Glaeske dagegen bei der zahnmedizinischen Versorgung älterer Menschen in Pflege- und Altenheimen. Bei vielen sei die Zahnpflege ungenügend, Zahnärzte kämen nur bedingt in die Pflege- und Altenheime. Da aber der Zusammenhang zwischen der Zahnfleischentzündung (Parodontitis) und der Entwicklung oder Verschlechterung von Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder sogar Demenz inzwischen aufgedeckt sei, könne sich der Krankheitszustand älterer Patientinnen und Patienten durch diese mangelnde Versorgung gravierend verschlechtern. „Die Versorgungsforschung kann die spezifische Situation der Patienten beleuchten und Fehlentwicklungen aufdecken. Auf diese Weise werden solche Erkenntnisse zum Ausgangspunkt für mehr Qualität und Sicherheit in der Patientenversorgung und sollten in Leitlinien oder in neuen Versorgungskonzepten, etwa der integrierten Versorgung, berücksichtigt werden“, forderte Glaeske. Kritik übte er auch an der Praxisgebühr, die nicht zu der angestrebten Verringerung von Arztkontakten geführt habe, dafür aber ältere Menschen daran hindere, rechtzeitig einen Arzt aufzusuchen. Deutschland hält nach wie vor den Weltrekord mit 18 Arztkontakten pro Versichertem.

Systematische Prävention im Bereich Zahnmedizin

Auf die Erfolge der systematischen Bemühungen der Zahnmedizin in der Prävention von Munderkrankungen in der Bevölkerung wies Prof. Reiner Biffar, Poliklinik für zahnärztliche Prothetik, Alterszahnmedizin und Medizinische Werkstoffkunde, Universitätsmedizin Greifswald, hin. Diese seien deutlich sichtbar und epidemiologisch nachgewiesen. „Hieraus sind vielfältige Erfahrungen zur Effektivität, Compliance und Motivationsstrategien entstanden.“ Es liege daher nahe, „dass wechselseitig Erfahrungen und Strategien zur Prävention verstärkt zwischen Zahn- und Humanmedizin ausgetauscht werden können. Auf Basis gezielter Interventionen und langjähriger Programme in der Zahnmedizin können umfangreiche Erfahrungen der Motivation und Erhaltung der Compliance auf Bevölkerungs- ebene auch in der Medizin genutzt werden. Die Möglichkeiten im Mundbereich und der zahnärztliche Befundung werden als diagnostischer Zugang für Verdachtsdiagnosenvon Allgemeinerkrankungen noch wenig genutzt“, erklärte Prof. Biffar.

Die Notwendigkeit einer (Re-)Integration der Zahnmedizin in die Medizin stellte auch Prof. Thomas Hoffmann, Direktor der Poliklinik für Parodontologie und Geschäftsführender Direktor der UniversitätsZahnMedizin Dresden für die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), heraus: „Ein Anliegen des Kongresses liegt darin, die Zahnmedizin erkennbar weiter (zurück) in die Medizin zu integrieren. Diese Reintegration stellt keine fixe Idee dar, sondern erscheint vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der immer wieder – sehr umfangreich im Fach Parodontologie – aufgezeigten Zusammenhänge zwischen oraler und systemischer Gesundheit als eine conditio sine qua non.“ Das gemeinsame Vorgehen könne zu einer neuen Versorgungsqualität der Patienten führen.

IDZ – anerkanntes Institut in der Wissenschaftsszene

Auch Mitarbeiter des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) diskutierten auf dem Kongress in Dresden. Nele Kettler und Dr. David Klingenberger schilderten gegenüber den zm ihre Eindrücke: „Das große Angebot an Vorträgen zu Prävention bei Risikogruppen machte deutlich, dass dieses Thema in den Fokus des Berufsstandes gerückt ist und der Grundstein für eine gezielte zahnmedizinisch-präventive Unterstützung von vulnerablen Gruppen gelegt werden konnte. Zielführende Projekte im zahnmedizinischen Bereich wurden vor allem in den Bereichen der Alterszahnheilkunde sowie für jüngere Kinder vorgestellt. Darüber hinaus wurde hervorgehoben, welche Fortschritte allgemein bei der Verringerung der Kariesprävalenz in den letzten Jahren erreicht werden konnten, doch gleichzeitig auch betont, dass die Präventionskonzepte in der Parodontologie weiter ausgebaut werden müssen.“ Zudem seien Bereiche sichtbar geworden, in welchen gemeinsame Versorgungsforschungsvorhaben von Medizin und Zahnmedizin angetreten werden könnten: „Schnittstellen zwischen Zahnmedizin und Medizin in der Versorgungsforschung zeigten sich auf dem Kongress besonders im Bereich der Risikogruppen, die keinen oder erschwerten Zugang zu Gesundheitsangeboten haben. Dazu gehören vor allem ältere multimorbide Patienten, die aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland in einigen Jahren die größte Risikogruppe darstellen werden. Doch auch behinderte oder sehr junge Patienten sowie Patienten mit Sprachbarrieren können schwer zu erreichen sein. Immer wieder wurde in verschiedenen Vorträgen deutlich, dass Mediziner und Zahnmediziner vor die gemeinsame Herausforderung gestellt sind, diese Risikogruppen präventiv besser zu fördern sowie den Zugang zu Versorgungseinrichtungen zu erleichtern“, so der Eindruck von den Vertretern des IDZ.

Darüber hinaus wurde vor allem in der Plenarsitzung die Aufklärung von Patienten über Risikofaktoren, welche sowohl zu Erkrankungen der Mundhöhle als auch zu Allgemeinerkrankungen führen können, als gemeinsames Aufgabenfeld von Zahnmedizinern und Mediziner betont. Viele Nicht-Zahnmediziner sind mit der Arbeit des IDZ vertraut. Das habe der Kongress gezeigt. Kettler und Klingenberger: „Das IDZ hat sich im Bereich der Versorgungsforschung auch unter Nicht-Zahnmedizinern einen Namen gemacht, die positive Wahrnehmung ist nicht zuletzt auf die Deutschen Mundgesundheitsstudien zurückzuführen, die in vielen Kongressbeiträgen immer wieder zitiert wurden.“

Auf einer abschließenden Podiumsdiskussion diskutierten Dr. Jürgen Fedderwitz, Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) mit Vertretern aus Politik, Kassenlandschaft und der Versorgungsforschung zum Thema „Prävention und Versorgung für die Gesundheit 2030“. Oesterreich warb für die nationalen Mundgesundheitsziele, nach welchen mit einer Zielprojektion für das Jahr 2020 von der BZÄK festgelegt wurde, dass die Mundgesundheit weiter gefördert und eine Reduktion der Auswirkungen von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen auf die Allgemeingesundheit und die psychosoziale Entwicklung erreicht werden soll. Dabei sollten Risikogruppen und die Früherkennung, Prävention und effiziente Behandlung oraler Erkrankungen besonders berücksichtigt werden.

Fedderwitz verwies auf die beispielgebenden Präventionserfolge des Berufsstandes. Die Zahnmedizin habe es geschafft, die Individualprophylaxe flächendeckend mit der Gruppenprophylaxe zu verzahnen. Er appellierte an die Versorgungsforschung, gerade auch die Arbeit des GBA wissenschaftlich zu begleiten.sf

dkvf2012.de

INFO

Nationale Präventionsstrategie

Bisher konnte die Prävention als Thema auf der gesundheitspolitischen Agenda nicht wirksam durchgesetzt werden. Der von Ulla Schmidt (SPD) in ihrer Funktion als Gesundheitsministerin vorbereitete Präventionsgesetzentwurf bekam keine Mehrheit. Vor zwei Jahren verabschiedete sich die schwarz-gelbe Koalition endgültig davon. Ein Präventionsgegner ist die jetzige Regierung allerdings nicht. So lässt Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) derzeit die von seinem Vorgänger Phillip Rösler (FDP) erdachte Präventionsstrategie, ausarbeiten – in Kürze soll sie vorgelegt werden. Für die Politik ist sie ein wichtiger Baustein der Demografiestrategie. Die Eckpunkte liegen bereits vor – darin heißt es eingangs: „Das deutsche Gesundheitssystem ist geprägt durch seine föderale Vielfalt und seine starke Selbstverwaltung mit weitgehend eigenständigen Versorgungsaufgaben. Dennoch ist es eine gesamt- gesellschaftliche Aufgabe, Prävention und Gesundheitsförderung im Bewusstsein der Menschen zu verankern, das Verständnis von Eigenverantwortung zu fördern und die vielfältigen Angebote allen zugänglich zu machen. Die Aktivierung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung in allen gesellschaftlichen Schichten ist primäres Ziel. Den Schwerpunkt der Präventionsstrategie bildet die „Betriebliche Gesundheitsförderung“. Unter dem Motto „Unternehmen unternehmen Gesundheit“ wurden insbesondere kleine und mittlere Betriebe über die Möglichkeiten einer Gesundheitsförderung von Mitarbeitern informiert.“

INFO

Forum Zahn- und Mundgesundheit Deutschland

Das Forum Zahn- und Mundgesundheit Deutschland wurde als neue Initiative unter Beteiligung von Wissenschaft, Fachverbänden, Politik und Wirtschaft gegründet. Der Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Prof. Dr. Dietmar Oesterreich, hat den Vorsitz übernommen. Das Forum will den Dialog mit der Politik suchen. Ziel ist es, dass die Politik die kausalen Zusammenhänge zwischen Mundgesundheit, Gesamtgesundheit und der damit einhergehenden Lebensqualität stärker berücksichtigt. Zusammenhänge zwischen Mundgesundheit und systemischen Erkrankungen sind wissenschaftlich belegt. Im Hinblick auf die angekündigte Nationale Präventionsstrategie der Bundesregierung gehört das Thema Zahn- und Mundgesundheit aus Sicht der BZÄK unbedingt auf die Agenda. Gründungsmitglieder sind neben der BZÄK Prof. Dr. Zimmer, Universität Witten/Herdecke, Dr. Rolf Koschorrek, MdB, CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und Dr. Erwin Lotter, MdB, FDP-Bundestagsfraktion. Unterstützt wird die Plattform durch GlaxoSmithKline (GSK) und das Wrigley Oral Healthcare Program.

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