Arztserien im Fernsehen

Regie sticht Medizin

Mediziner sind im Fernsehen allgegenwärtig. Das Genre der Arztserie boomt, jeden Abend besuchen uns die TV-Weißkittel in unseren Wohnzimmern. Das hinterlässt Spuren, etwa ein verfälschtes Arztbild oder Angst vor Operationen. Aber die Ärzteserien sorgen auch für ein breit gestreutes medizinisches Wissen bei den Zuschauern und haben sogar Einzug in die universitäre Lehre gehalten. Doch letztlich entscheidet die Dramaturgie.

Otmar Müller

In Ärzteserien wie „Emergency Room“ oder „Grey’s Anatomy“ dürfen Ärzte noch sein, was sie im schnöden deutschen Praxisalltag schon lange nicht mehr sein können: Halbgötter in weiß. Die Zuschauer lieben sie, kaum ein Genre im Fernsehen ist so erfolgreich wie Arzteserien. Woche für Woche verfolgen Millionen Zuschauer den nervenaufreibenden Alltag ihrer Helden und sorgen für Traumquoten.

Der deutsche Standard – die Schwarzwaldklinik

Die Strahlkraft der Geschichten um Leben und Tod entdeckt die amerikanische Film-industrie bereits vor mehr als 50 Jahren. 1961 verkörpert der sanfte Richard Chamberlain erstmals „Dr. Kildare“ und startet die Erfolgsgeschichte des „medical drama“, die bis heute fortgesetzt wird. Bereits zwei Jahre später flimmert erstmals die amerikanische Serie „General Hospital“ über den Bildschirm, die bis heute produziert und ausgestrahlt wird und damit zu den am längsten produzierten Fernsehserien überhaupt zählt.

1967 zeigt dann das deutsche Fernsehen mit „Landarzt Dr. Brock“ seine erste Mediziner-Soap. Nach verschiedenen – meist nur mäßig erfolgreichen – Versuchen, in den 60er- und 70er-Jahren mit eher anspruchsvollen Arztserien die Zuschauer zu begeistern, sorgt in den 80er-Jahren die „Schwarzwaldklinik“ für Traumquoten und setzt den Standard für Arztserien in der deutschen Fernsehlandschaft: Weichgespült, fernab jeglicher Realität des ärztlichen Alltags, stehen bei dieser Serie medizinische Fragen im Hintergrund. Statt dessen geht es vorrangig um private Auseinandersetzungen und ums Liebesleben der versammelten Klinikbelegschaft. Zahlreiche deutsche Arztserien wie „Der Bergdoktor“ oder „Der Landarzt“ folgen fortan diesem Strickmuster aus deutscher Heimatduselei und privaten Konflikten. Die Medizin spielt nur eine Nebenrolle.

Revolution aus den USA

Ab 1994 revolutioniert eine amerikanische Serie das gesamte Genre. „Emergency Room“ setzt sich mit einer stärkeren Konzentration auf die medizinische Darstellung sowie einer innovativen, schnellen  Erzähltechnik von allen anderen Arztserien deutlich ab. Die Serie, die auf einem Drehbuch des Bestseller-Autors Michael Crichton beruht, macht Furore durch die ungewöhnlich temporeiche Schilderung und eine realistische Darstellung der Notfallmedizin im Krankenhaus, verbunden mit einer innovativen Kameraarbeit und einer medizinisch-technischen Sprache. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben durch Mord, Selbstmord, Verletzungen oder Krankheiten. Wiederholt greift die Serie auch medizin-ethische Probleme wie Sterbehilfe, Patientenverfügung, Abtreibung oder Organspende auf.

Gegen Ende der 90er-Jahre differenziert sich das Genre dann immer weiter aus: Es gibt Serien über niedergelassene Ärzte wie „Dr. Sommerfeld – Neues vom Bülowbogen“, klassische Krankenhausserien wie „In aller Freundschaft“, Notaufnahmeserien wie „Das Alphateam“ oder auch Comedyserien wie „Doctor’s Diary“ oder „Scrubs“.

Allen Arztserien gemein ist, dass heute mehr auf die realitätsnahe Gestaltung medizinischer Details geachtet wird. US-Arztserien wie „Emergency Room“ haben die Mess- latte entsprechend hoch gesetzt – die Geschichten müssen mehr sein als nur anrührend und spannend, sie müssen versuchen, medizinische Prozeduren möglichst korrekt zu zeigen. Für Mediziner hat sich daraus eine neue Jobalternative ergeben: ärztlicher Berater am Filmset.

Professionelle Beratung

TV-Produzenten, die in ihrer Arztserie peinliche medizinische Darstellungsfehler vermeiden wollen, wenden sich heute an eine entsprechende Beratungsfirma wie „The Dox“ in München oder „Flatliners“ in Berlin. Den Bedarf für eine professionelle medizinische Beratung erkannte Jörg Meier, Geschäftsführer und Gründer von Flatliners, 1999. Eine Bekannte, die beim Film arbeitete, hatte den damaligen Medizinstudenten gebeten, bei einer Filmproduktion für ein paar Tage als Berater in Sachen Medizin- darstellung auszuhelfen. Nach einer Woche Dreharbeiten war die Idee geboren, sich mit einer solchen Beratung selbstständig zu machen. „Mir war sofort klar, dass dieses spezielle medizinische Wissen bei den Filmleuten nicht vorhanden sein kann und dass sich da ein gewaltiger Markt auftut“, erzählt der Mediziner. Sein Berliner Unternehmen ist darauf spezialisiert, neben der Bereitstellung von medizinischen Requisiten, Filmproduktionen mit Drehbuchberatung, Recherche und einer Set-Beratung zu unterstützen. Drei Ärzte konstruieren beispielsweise für Ärzteserien in Zusammenarbeit mit den Autoren realistische Medizinfälle, überprüfen bestehende Drehbücher auf fachliche Fehler und sorgen am Set für die originalgetreue Ausstattung von Arztpraxis oder OP-Saal. Filmcrews können beispielsweise aber auch eine Rettungsstelle mit zwei komplett ausgestatteten Rettungswagen mieten oder gleich ein komplettes leer stehendes Krankenhaus in Berlin – die vollständige Klinikausstattung mit Labor, Intensivstation, OP, Krankenzimmern und Pathologie inklusive. Die Serie „Doctor’s Diary“ mit Florian David Fitz wurde hier über drei Staffeln ebenso abgedreht wie die „Klinik am Alex“.

Crashkurs in Fachsprache

Die Darsteller bekommen bei den Dreh- arbeiten nicht nur einen Crashkurs in der Aussprache medizinischer Fachausdrücke, auch das Set wird entsprechend hergerichtet. Und das sei mit einigen Vorbereitungen verbunden, erzählt Meier. Flüchtigkeits- fehler wie nicht zur Diagnose passende oder einfach nur falsch herum am Leuchtschrank aufgehängte Röntgenbilder gehörten zum kleinen Einmaleins der Medizinberatung. „Über die Jahre haben wir uns aber auch mit Hunderten speziellen Problemen auseinandergesetzt, die man nicht ad hoc am Drehort, sondern nur mit entsprechender Vorbereitung lösen kann“, erklärt Meier. So wurde in der Anfangszeit der Firma etwa während der Dreharbeiten verlangt, dass auf Knopfdruck ein Elektrokardiogramm (EKG) – beim inszenierten Herztod des Darstellers – die charakteristische Nulllinie auf dem Monitor mit dem entsprechenden Piepsignal anzeigt. „Das Gerät lässt so etwas aber nicht zu, es ist nicht mal eben so zu manipulieren“, erklärt Meier. Heute gehört die Nulllinie am EKG ebenso zum Standard wie beispielsweise Ultraschallaufnahmen bei einer angeblich schwangeren Schauspielerin. Da die Darstellerin in der Regel nicht wirklich schwanger ist, haben die Spezialisten bei Flatliners echte Ultraschallaufnahmen für die Unter-suchung bei der Frauenärztin als Einspielfilm vorbereitet, der dann über den Ultraschallmonitor flimmert.

„Wir haben über die Jahre Aufnahmen zu allen erdenklichen Schwangerschaftsstadiengesammelt, denn wir können ja nicht bei einer angeblich im dritten Monat Schwangeren Ultraschallbilder von einem Embryo im achten Monat zeigen. Wir haben auch echte Aufnahmen von Zwillingen, Drillingen und sogar siamesischen Zwillingen“, verdeutlicht Meier die Akribie, die hinter seiner Arbeit steht, auch wenn sie für den Zuschauer nicht sichtbar ist.

Dramaturgie geht vor

Bei aller Detailverliebtheit weiß Meier aber doch, dass die medizinische Realistik immer in der zweiten Reihe steht. „Regie sticht Medizin“, bringt er es lakonisch auf den Punkt, wenn der Dramaturgie wieder einmal der Vorrang gegeben wird vor der medizinischen Korrektheit. „Wer vom Fach ist, wird in der medizinischen Darstellung immer wieder Fehler finden.“ Und das habe nichts damit zu tun, dass er seinen Job nicht versteht, sondern hänge davon ab, ob die Handlung – oder auch nur die Optik – aus Sicht des Regisseurs unter einer allzu realis-tischen Darstellung leiden würde. „Ich finde es schade, dass immer wieder für Krankheitsbilder wie Herzinfarkt oder Schlaganfall die Filmteams anfragen, ob man da nicht den adipösen 60-jährigen Patienten gegen eine junge 24-Jährige austauschen könne. Wir sagen dann, dass natürlich theoretisch auch eine so junge Frau einen Schlaganfall erleiden könne, dass das aber total unwahrscheinlich sei. Das reicht denen dann im Zweifel aber auch schon aus.“ In dem Wunsch, möglichst schöne und junge Patientinnen einzusetzen, sieht Meier auch den größten Unterschied zu vielen US-Produktionen. Sein eindeutiger Favorit in Sachen medizinische Realistik ist „Emergency Room“: „Ich würde sagen, dass das eine Produktion ist, bei der die Medizin grundsätzlich Vorrang hat und immer die Regie sticht“, schwärmt Meier angesichts solch optimaler Bedingungen.

Eine Medizinberatung für zahnärztliche Themen bietet Flatliners übrigens nicht an, da die Nachfrage von Filmproduktionen zu gering ist, um etwa eine voll funktionsfähige Zahnarztpraxis originalgetreu als Filmstudio nachzubauen. In der Regel wenden sich die Filmteams bei Dreharbeiten mit zahnmedizinischem Hintergrund direkt an die Inhaber einer – architektonisch interessanten – Zahnarzt-Praxis, die medizinische Beratung übernimmt dann der Praxisinhaber selbst.

Fernsehtaugliche Leiden

„Für 36 Prozent der westdeutschen und 42 Prozent der ostdeutschen Bundesbürger sind Arztserien wichtig oder sogar besonders wichtig. Dies ist das Ergebnis einer Studie aus dem Jahr 2000 und die anhaltend hohen Einschaltquoten bei aktuellen Arzt-serien mit teilweise regelmäßig über sechs Millionen Zuschauern lassen vermuten, dass sich hieran wenig geändert hat“, sagt Dr. Constanze Rossmann, Kommunikationswissenschaftlerin an der Universität München. Rossmann hat die Darstellung in Arzt- und Krankenhausserien untersucht und mit der Wirklichkeit verglichen. Ihr Ergebnis: In den Fernsehkrankenhäusern findet sich ein eher begrenztes Krankheitsspektrum wieder. Akute Krankheiten wie Verletzungen und Vergiftungen, Herz-, Magen-Darm- oder Infektionserkrankungen sowie psychische Erkrankungen kommen überdurchschnittlich häufig vor, während beispiels-weise Krebserkrankungen deutlich seltener gezeigt werden, als in der Realität. „Gerade die zahlreichen chronischen Krankheiten lassen die Serienautoren in der Regel außen vor. Das ist auch durchaus plausibel, wenn man bedenkt, dass akute Krankheiten bessere Anknüpfungspunkte für spektakuläre Operationen bieten. Die Fernsehärzte können somit ihre Kompetenz besser zur Schau stellen als mit Routineuntersuchungen“, so Rossmann. Auch die Tatsache, dass chronische Erkrankungen langwierig und häufig unheilbar sind, begründe ihr seltenes Vorkommen in Fernsehserien. Bei akuten Erkrankungen dagegen erscheine es plausibel, dass die Patienten so schnell geheilt werden, dass dies innerhalb einer Episode gezeigt werden kann, oder – was im Vergleich zur Realität relativ häufig vorkommt – bei aussichtslosen Erkrankungen innerhalb einer Folge sterben.

Der Schein trügt

Noch unrealistischer als die Auswahl der Krankheiten ist die Darstellung der Akteure, so Rossmann. So würden Ärzte und Pflegekräfte in Krankenhausserien als überaus kompetent, fürsorglich, ethisch korrekt und attraktiv dargestellt, hat die Kommunikationswissenschaftlerin analysiert. Die Mehrheit der Ärzte sei für die Patienten jederzeit erreichbar und verhalte sich in Arzt-Patient-Interaktionen stets freundlich und einfühlsam. „Aspekte wie Arbeitsbelastung, Finanznot oder Personalmangel werden nur selten thematisiert, was den Eindruck erweckt, dass Ärzte und Pflegekräfte in unbegrenzter Zahl zur Verfügung stehen und diese auf ein nahezu unbegrenztes Zeit- und Energiebudget zurückgreifen, das sie stets den Patienten opfern.“ Das Ergebnis ist eine völlig unrealistische Bewertung der ärztlichen Arbeit bei den Zuschauern solcher Serien, insofern sie noch keine eigenen Erfahrungen im Krankenhaus gesammelt hätten. Rossmann beschreibt einen Krankenhaus- aufenthalt für diese Zuschauer als desillusionierendes Ereignis, das – zumindest vorübergehend – die medial erzeugte Illusion durch eine realistischere Sichtweise ersetze.

Der Angstfaktor steigt

Auch der Chirurg und Kommunikations- wissenschaftler Prof. Kai Witzel hat die Auswirkungen der medialen Überhöhung von Ärzten in Arztserien untersucht. Sein Ergebnis: Schauen Patienten überdurchschnittlich häufig Krankenhaus- beziehungsweise Arztserien, hat das eine messbare Auswirkung auf ihre Erwartungen gegenüber Medizinern im realen Leben. Der Fernsehkonsum bewirkt offenbar, dass diese Patienten mehr Angst vor Operationen haben als der Durchschnitt – so das Ergebnis einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Witzel befragte über einen Zeitraum von 15 Monaten 162 Patienten, die wegen eines Leistenbruchs oder zur Entfernung von Gallen- steinen ins Krankenhaus gekommen waren. Die ausgewählten Patienten waren seit mindestens zehn Jahren nicht mehr im Krankenhaus und hatten bislang auch keine schlechten Erfahrungen mit stationären Aufenthalten – etwa wegen Komplikationen – hinter sich. Dennoch hatte ein Teil der Befragten Patienten existenzielle Ängste vor den vergleichsweise leichten Operationen. Bei rund zehn Prozent der Patienten, die angaben, oft und regelmäßig Arztserien zu sehen, war die Angst auf einer Skala von eins bis zehn mit im Mittel fünf Punkten signifikant größer als bei allen anderen (3,31 Punkte).

„In der Regel haben Patienten keinen Einblick in die Routine im Operationssaal. Dementsprechend haben sie auch keine vorgefertigte Meinung dazu. Die überzogene Angst der Arztserienfans lässt sich dadurch erklären, dass im Fernsehen nur hochdramatische Eingriffe gezeigt werden. Da sind die Patienten oft kurz vor dem Verbluten oder haben zwischendurch einen Herzstillstand. Komplikationslose Standard-OPs sind dagegen viel zu langweilig für die Serien und bringen keine Quote“, erklärt Witzel das überraschend deutliche Ergebnis seiner Studie.

Auch nach der Operation wirkt sich der Fernsehkonsum auf die Erwartungen der Patienten aus – die Probanden sollten deshalb in der Studie auch die ärztliche Visite nach dem Eingriff beurteilen. Witzel, Leiter des Minimal Invasiv Centers in Hünfeld, hatte alle Befragten selbst operiert und anschließend bei der Visite nachuntersucht. Patienten, die mehr als zwanzig Stunden pro Woche fernsahen, verteilten signifikant schlechtere Noten für die Visite als Patienten, die kaum fernsahen. Je realistischer Patienten Arztserien einschätzten, umso unzufriedener waren sie mit den realen Visiten. „Im Fernsehen setzt sich der Arzt erstmal ans Krankenbett, um ganz in Ruhe die OP und die Sorgen und Nöte des Patienten zu besprechen. Zeitnot gibt es da nicht. Mir reicht aber nach einer durchschnittlichen Leistenbruch-OP eine Minute, um den Zustand des Patienten fachlich beurteilen zu können“, sagt Witzel. Angesichts der Patientenbeurteilung empfiehlt er seinen ärztlichen Kollegen, dass sie sich auf das TV-verzerrte Bild vom guten Arzt einstellen und für die Visite mehr Zeit und möglicherweise auch Personal einplanen. So könnten sie sich im umkämpften Klinikmarkt durch eine höhere Patientenzufriedenheit möglicherweise Wettbewerbsvorteile sichern.

Entertainment-Education

Arztserien beeinflussen nicht nur die Einstellung der Zuschauer zu Ärzten, sondern auch zu den in der Serie thematisierten Krankheiten. Ein Umstand, den man sich beispielsweise in den USA, aber auch in verschiedenen Ländern der dritten Welt zunutze macht. Evaluationsstudien belegen, dass sich Fernsehzuschauer ganz gezielt für Gesundheitsthemen sensibilisieren lassen. So zeigen Studien, dass Fernsehkonsum unter gewissen Umständen durchaus ein gesundheitsförderndes Potenzial haben kann. „Entertainment-Education“ nennt sich diese Methode der unterschwelligen Gesundheitserziehung, bei der eine gewünschte Botschaft in ein populäres Fernsehformat eingebettet wird, um niedrigschwellig für ein Gesundheitsthema zu sensibilisieren. „Es gibt drei Stufen der Beeinflussung, die man mit Entertainment-Education in fiktionalen Unterhaltungs- angeboten erreichen kann. Auf der ersten Stufe geht es darum, den Zuschauer über ein bestimmtes Thema, zum Beispiel regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, aufzu-klären. Auf der zweiten Stufe gelingt es bereits, den Zuschauer zu einer inneren Auseinandersetzung mit dem Thema zu bewegen. Das höchste Ziel, die dritte Stufe, wäre erreicht, wenn der Zuschauer im Anschluss sein konkretes Handeln verändert, beispielsweise mit dem Rauchen aufhört“, erklärt Claudia Lampert vom „Hans-Bredow-Institut für Medienforschung“ in Hamburg.

Seit dem Ende der 60er-Jahre werden in den USA Bemühungen unternommen, gesundheitsfördernde Themen gezielt ins Fernsehen zu integrieren. „In den USA werden unter anderem auch Ärzteserien offensiv genutzt, um beispielsweise gesundheitsfördernde oder präventive Botschaften zu verbreiten“, so Lampert. Es gebe dort sogar spezielle Programme von der „Kaiser Family Foundation“ oder „Hollywood, Health Society“, die teilweise von staatlichen Institutionen wie etwa der amerikanischen Seuchenbehörde finanziert werden. Diese Programme versuchen, gezielt Gesundheitsthemen unter anderem in Arztserien unterzubringen. Dabei erhalten die Produzenten und Autoren der Serien nicht nur ausführliche Briefings, sondern auf Wunsch auch Unterstützung bei der Integration des Themas in ein vorhandenes Drehbuch. So konnten beispielsweise in der Serie „Emergency Room“ Themen wie HIV-Schnelltests oder die Notfall-Verhütung mit der Pille danach realisiert werden oder in der Serie „Dr. House“ die Problematik von Chlamydieninfektionen.

In Deutschland hat es bislang solche Ansätze kaum gegeben, ein von staatlicher Stelle koordiniertes oder unterstütztes Programm gibt es nicht. „Offensichtlich wird hierzulande die so offensichtliche Einflussnahme von staatlichen Stellen beim Fernsehen kritisch gesehen“, glaubt Lampert, deshalb habe es in der Vergangenheit nur vereinzelte Versuche gegeben, das Fernsehen für Entertainment-Education zu nutzen.

Lerneffekte

Prof. Jürgen Schäfer sieht hierin eine ausgelassene Chance. „Es ist ein Jammer, dass wir die Möglichkeiten, die gutes Infotainment für die gesundheitliche Aufklärung unserer Bevölkerung bietet, kaum nutzen.“ Der Kardiologe an der Philipps-Universität Marburg ist überzeugt: „Wenn man die Menschen mit gut gemachten Arztserien subtil aufklärt, kann das einen guten Lerneffekt haben.“ Doch nicht nur für den ganz normalen Fernsehzuschauer können gute Arztserien lehrreich sein, auch angehende Ärzte könnten in der Auseinandersetzung mit den TV-Kollegen noch einiges lernen, ist sich Schäfer sicher. Seit 2008 können seine Studenten deshalb das Seminar „Dr. House revisited – oder: Hätten wir den Patienten in Marburg auch geheilt?“ besuchen, in dem der Kardiologe Fälle des Filmdoktors kritisch durchleuchtet. „Immerhin haben wir als Hochschullehrer mit Fernsehserienproduzenten eines gemeinsam: Wir alle möchten verhindern, dass unsere Zielgruppe abschaltet“, erklärt Schäfer lächelnd. Da nach den Ergebnissen einer Umfrage rund 85 Prozent der Studenten und 76 Prozent der Assistenzärzte gerne medizinische Serien schauen, ist die Verbindung aus Arztserie und universitärer Lehre durchaus plausibel. „Es gibt derzeit mehr als 170 Episoden in acht Staffeln, also genug Stoff für einen kompletten klinischen Studiengang. Allerdings haben die letzten Serienfolgen für unsere Zwecke etwas an Qualität eingebüßt, so dass wir im Moment vor allem die ersten zwei bis drei Staffeln für unser Seminar nutzen“, erklärt Schäfer.

Immer weniger langweilig

Die meisten der bei House verarbeiteten Fallbeispiele seien aus der medizinischen Fachliteratur entnommen, Schäfer hält die Serie trotz vieler immer wieder vorkom-mender Absurditäten insgesamt für gut recherchiert. Wenn House mit seinem Team beispielsweise ausführlich über die in Frage kommenden Diagnosen diskutiere, zeige sich häufig eine überraschende Fachkenntnis seltener Erkrankungen. Und obwohl in der Serie auch immer wieder medizinische Dialoge ohne Sinn und Verstand vorkommen, stört sich Schäfer daran nicht, schließlich könnten auch diese Fehler im Seminar kritisch diskutiert werden. Es sei ein Denkfehler zu glauben, dass medizinische Fernsehserien nur dann lehrreich sein können, wenn alles vollkommen real ist – immerhin handele es sich um Unterhaltungsfilme und nicht um medizinische Lehrvideos. Kritiker des Seminars bemängeln hingegen, dass die unrealistische Anhäufung von seltensten Erkrankungen für die studentische Ausbildung im Grunde genommen keine Rolle spielen sollte. Schäfer sieht das anders: „Für häufig vorkommende Diagnosen, die bei uns bereits der Pförtner stellen kann, brauchen wir kein umfangreiches akade- misches Studium. Häufige Erkrankungen zu erkennen und korrekt zu behandeln, setzen wir ohnehin voraus. Dass seltene Erkrankungen für sich allein betrachtet natur- gemäß selten sind, lindert das Leid und die Behandlungsbedürftigkeit der Betroffenen in keinster Weise. Es ist aber unsere Aufgabe, auch an die seltenen Krankheitsursachen zu denken. Wer soll das denn sonst tun, wenn nicht wir?“ Man dürfe auch nicht vergessen, dass die Gesamtzahl aller Patienten mit seltenen Erkrankungen alles andere als gering ist. „Zudem sind für unsere Studenten die meisten seltenen Erkrankungen ohnehin Teil des Studiums und müssen von daher natürlich auch gelehrt werden. Dass dies auf langweilige Weise geschehen muss, steht nirgendwo geschrieben.“

Otmar MüllerFreier gesundheitspolitischer Fachjournalist, Kölnmail@otmar-mueller.de

INFO

„In aller Freundschaft“

Unter den erfolgreichsten Arztserien ganz vorn mit dabei: Die deutsche MDR- Produktion „In aller Freundschaft“, die mittlerweile in der 15. Staffel läuft. Seit 1998 wurden über 550 Folgen über das bunte Treiben in der Sachsenklinik inszeniert. Durchschnittlich verfolgten 2011 6,23 Millionen Zuschauer die Ärzte-Soap. Damit ist die Sachsenklinik ähnlich erfolgreich wie deutlich teurer produzierte amerikanische Serien wie „Grey’s Anatomy“ oder „Dr. House“. In den Studios Media City Leipzig befinden sich auf 2 000 Quadratmetern Fläche die Wohnungen der drei Hauptdarsteller und der Familie Brentano sowie die kompletten Räume der Sachsenklinik. An einem Drehtag entstehen zwischen zehn und elf Sendeminuten. Während der Dreharbeiten wurden in den vergangenen Jahren über 8 000 OP-Masken benutzt, 794 Operationen durchgeführt, 967 verschiedene Krankheitsbilder behandelt und über 300 Liter Filmblut verbraucht.om

INFO

Lernen von „Dr. House“

„Dr.House“ ist eine US-amerikanische Fernsehserie über ein Ärzteteam rund um Dr. Gregory House, der als Spezialist für Nephrologie und Infektiologie am fiktiven Princeton-Plainsboro-Teaching-Hospital, einem Lehrkrankenhaus in New Jersey, praktiziert. House wird inszeniert als brillianter Diagnostiker, aber auch als zynischer Arzt, der kein Interesse am Patienten selbst hat, sondern sich nur für dessen Krankheit interessiert. Er löst zusammen mit seinem Expertenteam mithilfe der Differenzialdiagnostik die schwierigsten Fälle und legt dabei großen Wert auf eine umfassende Anamneseerhebung innerhalb seines Teams.

Die Serie wird für das US-Network FOX seit 2004 hergestellt, in Deutschland wird Dr. House seit dem 9. Mai 2006 auf RTL ausgestrahlt. Die Serie konnte im Schnitt über fünf Millionen Zuschauer erreichen, bei einzelnen Episoden wurden Spitzenwerte von über sechs Millionen gemessen. Im Mai 2012 wurde die Serie nach acht Staffeln und über 170 Episoden beendet. Sie wurde mit dem „Emmy“ und dem „Golden Globe Award“ ausgezeichnet. om

INFO

Interview mit dem Medizinethiker Prof. Giovanni Maio

Was verbindet die Medizinethik mit Ärzteserien?

Die Wahrnehmung vieler ethischer Probleme ist stark von deren Darstellungsweise in den Medien geprägt. Viele von der Ethik schwerpunktmäßig behandelte Menschheitsfragen, also existenzielle und jeden Menschen betreffende Grundfragen des Lebens, eignen sich hervorragend für die Aufarbeitung im Fernsehen, ganz egal ob in einer Arztserie oder auch als Dokumentation. Gerade medizinethische Probleme ermöglichen einen erzählerischen Zugang, den viele andere wissenschaftliche Disziplinen nicht haben. So ist die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch, nach genetischer Diagnostik oder nach Sterbehilfe sehr leicht in eine Filmhandlung zu packen, weil sie sich auf absolut grundsätzliche menschliche Krisen- und Grenzsituationen bezieht. Das Fernsehen hollywoodisiert diese menschlichen Konflikte. Medizinethische Themen, die sich für eine Inszenierung nicht so gut eignen, fallen allerdings aus dem Fernsehraster und damit auch aus der Wahrnehmung der Zuschauer heraus.

Warum sind Ärzteserien für die Zuschauer aus medizinethischer Sicht problematisch?

Wenn es um Leben und Tod geht, dann interessiert das die Zuschauer. Das Fernsehen verdichtet grundlegende medizinethische Fragen sehr stark, die Zuschauer bekommen für sehr schwierige Menschheitsfragen eine einfache und plausible Lösung vorgesetzt. Sachargumente werden verkürzt dargestellt, die Entscheidung des Zuschauers kommt vor allem durch die Identifikation mit den Protagonisten zustande und nicht durch die Abwägung von komplexen Argumenten. Deshalb ist das Fernsehen generell eher wenig geeignet, etwas über medizin-ethische Fragen zu lernen. Es muss inszenieren, muss Spannung aufbauen und muss dann diese Spannung innerhalb einer recht kurzen Zeitspanne auch wieder auflösen. Deshalb muss es auch einfache Lösungen für sehr komplexe Probleme anbieten. Auf der Strecke bleibt die Differenziertheit, die vielen Grautöne zwischen schwarz und weiß. Wenn im Fernsehen medizinethische Fragen behandelt werden, gibt es immer klare Angebote, was richtig und was falsch ist. Bei den meisten medizinethischen Problemen gibt es diese Zuordnung in richtig oder falsch aber nicht, es bedarf vielmehr angemessener Lösungen für den jeweiligen Fall. Diese Vereinfachung auf ein klares Pro oder Contra ist das Gefährliche an solchen medizinethischen Themen in Arztserien.

Was kann die Medizinethik vom Fernsehen lernen?

Das Fernsehen orientiert sich mit seinen Angeboten an den Bedürfnissen und Sehgewohnheiten der Zuschauer. Mit seiner Orientierung am Mainstream ist das Fern-sehen also immer auch Seismograf für Zeitströmungen. Es zeigt uns, was den Menschen wichtig ist, welche Fragen sie beschäftigen. In dieser seismografischen Erspürung des Zeitgeistes kann die Medizinethik vom Fernsehen viel lernen, aber Ethik selbst muss dann ansetzen und den Zeitgeist nicht bestätigen wie das Fernsehen, sondern grundlegend kritisch reflektieren. Das ist der große Unterschied.

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