Funktionale Schönheiten

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„Form follows Function“ lautet der Gestaltungsleitsatz im Produkt-design. Inwiefern lässt sich dieser Slogan auf die Entwicklung von dentalen Produkten übertragen und wo sind der Kreativität der Designer Grenzen gesetzt? Einblicke in die Welt des Dentaldesign.

Sara Friedrich

„K

ürzlich fielen mir ein paar historische Bilder in die Hände: IDS 1956 in München. Der erste doppelauto-matische Motorstuhl der Welt wurde von Siemens vorgestellt. Natürlich weiß lackierte (Blech-)Verkleidung und graues Kunstlederpolster, soweit man das von einem Schwarz-Weiß-Foto beurteilen kann. Was damals eine Sensation war, erscheint aus heutiger Sicht wie ein Relikt. Es war nichts als ein Zahnarztstuhl und Welten entfernt von den mit digitaler Hightech ausgestatteten Behandlungseinheiten, die wir heute kennen. Und das Design? Damals galt noch nicht die Devise ’Form follows Function’, sondern eher so etwas wie ’form follows production tech- niques’. Die Möglichkeiten der Material- bearbeitung von damals bestimmten die Gestaltung. Vorherrschend waren Kasten, Stange und Rohr, Emaillebeschichtung, lackiertes Blech und eine schwere, raumgreifende Mechanik“, beschreibt Dr. Caroline Gommel die begrenzten Gestaltungsspielräume für Dentalprodukte zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Gommel ist freie Autorin und Inhaberin der PR-Agentur dokolea. Sie verfügt über langjährige Erfahrungen als Kommunikationsexpertin in der Dentalindustrie und zählt die Zahnmedizin sowie dentale Technologien zu ihren Schwerpunkten.

Die 1980er-Jahre waren die Designrevolution

Der grundsätzliche Wandel in der Formensprache der Industrieprodukte liege bereits mehr als 30 Jahre zurück. Gommel: „Die eigentliche Revolution hat sich in den 1980er-Jahren vollzogen. Damals wurden erstmals moderne Kunststoffe wie beispielsweise schlagzähe Polymerlegierungen in der Autoindustrie verwendet. Ihr Einfluss auf das Design war aus einem einzigen Grund bahnbrechend: Mit diesem Werkstoff war man in der Lage, frei zu gestalten. Das Material war sowohl formbar als auch bruchfest und stabil, und man konnte jede beliebige Form ’spritzgießen’. Damit wichen die Ecken und Kanten der ehemals

gefügten Metallteile den Kurven, Rundungen

und organischen Formen aus Kunststoff – in allen denkbaren Farben. Die Zahnarztpraxis wurde bunt und das technische Innenleben der Geräte wesentlich komplexer, zeitgleich aber auch immer kleiner. Heutzutage beherbergt eine moderne dentale Behandlungseinheit mehrere Motoren, Hydraulik und ... unvorstellbar viel Elektronik.“ Und damit freie Fahrt für die Gestaltung? „Nicht ganz“, meint Gommel und fährt fort: „Ich glaube zwar nicht, dass die Form der Funktion ’folgt’ im Sinne einer Unterordnung der Ästhetik unter die Funktionalität. Ich habe jedoch den Eindruck, dass eine gute Funktion oft auch einen überzeugenden ästhetischen Ausdruck findet.“ Gommels These lautet deshalb: „Nur was sich effizient bewegt und gut funktioniert, kann auch schön aussehen.“ Funktion sei also eher eine Voraussetzung für die Form. „In jedem Fall erlaubt uns die heutige Freiheit in der Gestaltung, auf Formen zurückzugreifen, die uns als Menschen gut tun. Meist sind das die Grundformen der Natur – Stichwort ’Bionik’“, erläutert sie. Sie würden den High-Tech-Geräten in der Zahnmedizin die Eigenschaften ver- leihen, die der Mensch von ihnen erwarten dürfte: verlässliche Funktion, Hygiene, Komfort und eine zeitlose, ansprechende Ästhetik.

Noch einmal zurück ins Jahr 1958. In dem Jahr stellte Siemens die Dentalwelt pünktlich zur IDS in München komplett auf den Kopf. „Damals haben wir die Einheit Sirona präsentiert, bei der zum ersten Mal in der Produktgeschichte Bohrgestänge, Wassereinheit und OP-Lampe an einer zentralen Säule montiert waren“, berichtet Thomas Nack, Leiter der Entwicklungsabteilung bei Sirona. Ein Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte sei das gewesen, der anfangs allerdings belächelt wurde. Nack führt aus: „Von der Konkurrenz als ’Tanksäule’ zunächst verspottet, wurde die Einheit dennoch ein voller Erfolg und revolutionierte die Branche. Seither setzen wir immer wieder neue Trends in puncto Funktionalität und Design – ein Grund, warum Sirona seit 1984 bereits 14-mal mit Designpreisen ausgezeichnet wurde – zuletzt 2012 mit dem Red Dot Award für die Behandlungseinheit ’Sinius’.“

Nicht nur das Dentaldesign hat sich im Laufe der Zeit geändert, sondern auch die Zahnersatzmaterialen. Kunststoffe liegen hoch im Kurs. „Die Zukunft der Zahnersatzmaterialien liegt ganz klar im Bereich der

Thermoplaste. Sie zählt zu den innovativsten

und auch verträglichsten Materialien, die wir im dentalen Bereich kennen. Soge-nannte Hochleistungs-Kunststoffe werden schon lange in der Raumfahrttechnik, in der Sporttechnik und in der Automobilindustrie aufgrund ihrer guten Materialeigenschaften eingesetzt. Mittlerweile werden sie auch in der Zahntechnik genutzt“ erklärt Claudia Herrmann vom Dentallabor Herrmann in Bad Tölz. Zahnersatz aus Thermoplast könne ähnlich wie eine Prothese aus Metall konstruiert werden. Die Mindeststärke des Materials sei nur leicht erhöht und die guten Materialeigenschaften machten einen Bruch äußerst unwahrscheinlich. Bei Verblendungen habe man einen großen Vorteil: „Da die Sekundärkrone aus einem zahnfarbenen Material besteht, wird eine sichtlich bessere Transluzenz erreicht als bei einer Versorgung aus Metall. So kann die Schichtstärke deutlich geringer gehalten werden. Zierlichere Formen sind möglich“, berichtet Herrmann.

Grundsätzlich sei es mittlerweile machbar, alle Arten von Prothesen metallfrei herzustellen, wobei: „Die metallfreie Teleskop-prothese ist sicherlich die innovativste. Die Primärkronen bestehen aus Zirkonoxid. Die Sekundärkronen samt Gerüst und Bügel, werden aus einem Stück aus einem Thermoplast-Kunststoff hergestellt“, sagt die Dentaltechnikerin. Die guten Gleiteigenschaften erlauben eine reine Haft-Reibungs-Friktion, so dass kein Friktionsteil mehr notwendig ist. Abschließend werden, wie gewohnt, die Zähne aufgestellt und die Sekundärkronen verblendet.

Aber auch metallfreier Klammermodellguss

sei möglich sowie Provisorien mit Kunststoff-

klammern. Gerade in diesem Bereich seien Dentaldesigner gefragt, da diese neuen Materialien auch anders verarbeitet werden und andere Instrumente vonnöten sind.

Dentaldesigner sind auch „nur“ Dienstleister

f/p design mit Sitz in München ist ein solches Designbüro mit Schwerpunkt Medical

Design. Die Inhaber Fritz Frenkler und Anette

Ponholzer entwicklen Produkte für das japanische Traditionsunternehmen Morita. Deren Dentaleinheit „Soaric“ – ebenfalls eine f/p-design-Schöpfung – wurde mit dem renommierten iF-Designaward in Gold ausgezeichnet. Ganz große Kunst unter Beachtung rechtlicher Vorgaben, könnte man nun meinen.

Doch: „Wir lehnen im Zusammenhang mit unserer Arbeit das Wort ’Kunst’ ab“, entgegnet Ponholzer. „Im Gegensatz zur Kunst, die immer einen individuellen, auf den Künstler bezogenen Aspekt hat, sehen wir uns als Dienstleister, der den Anforderungen unseres Auftraggebers, sprich des Produzenten und dessen Kunden, sprich den Händlern, Ärzten und deren Patienten gerecht werden muss.“

Darüber hinaus gehe es nicht nur um die gute Gestaltung eines einzelnen Produkts, sondern um die Entwicklung einer Designsprache, die auf die unterschiedlichsten Produkte einer Marke übertragen werden könne. Ponholzer ist sich sicher: „Die Stärke einer Marke zeigt sich auch und vor allem in ihrem wiedererkennbaren und durchgängigen Corporate Design.“ Grundsätzlich sollte die Form dann auch der Funktion folgen. Die Designerin meint aber auch: „’Form follows Function’ ist ein Credo der klassischen Moderne, sprich der ersten Moderne und wurde in den vergangenen 30 Jahren leider

oft vernachlässigt. Im Zuge der Neuen Funk-

tionalität und damit der zweiten Moderne wird es glücklicherweise wieder öfter berücksichtigt.“ Dentalprodukte sind meist teure und gleichwohl treue Lebensbegleiter. Berücksichtige man die Investitionskosten einer Behandlungseinheit und den oft langjährigen Praxiseinsatz, so dürfe das Design nur modern und zeitlos sein, keinesfalls aber einer kurzfristigen Mode- oder Stilströmung folgen. Für neue Produkte braucht es dann aber doch auch eine neue Inspiration. Ponholzer: „Der kreative Prozess wird meist bestimmt durch das genaue Beobachten von Menschen und deren Arbeitsabläufen, durch die Einbeziehung von Forschung und Wissenschaft, und durch die Fähigkeit zu eigen-ständigen Visionen – unabhängig von Althergebrachtem oder dem Wettbewerbsprodukt.“

Der lange Weg bis zum fertigen Produkt

Von der Vision bis zum fertigen Produkt vergeht dann viel Zeit. „Die komplette Entwicklung von Technik und Design eines Produkts wie der Soaric dauert zwei bis drei Jahre“, weiß die Designerin aus persönlicher Erfahrung. Nach der ersten Entwurfsphase folgt die Phase der Ausarbeitung, in der das Design mittels 1:1-Modellen überprüft und optimiert wird. Danach erfolgt die Abstimmung mit der technischen Konstruktion. Praxistests werden durchgeführt. Das Feedback von Marketing und Vertrieb fließt ein. Und auch in der dritten Phase, in der das Produkt zur produktionstechnischen Serienreife gebracht wird, begleiten und kontrollieren die Designer noch jeden einzelnen Schritt. Bei der Produktentwicklung müssen spezielle Anforderungen gewährleistet sein: Neben dem optimalen Sitz- und Liegekomfort für Patient, Arzt und Assistent sind das die Ergonomie des Greifbereichs, die Verständlichkeit des kulturenübergreifenden User Interfaces, also der grafischen Bedienoberfläche, die intuitive Bedienung von Behandlungseinheit und Instrumenten, die Hygiene und auch ein effizienter Workflow, um nur einige zu nennen. Für ein international operierendes Unternehmen wie Morita sei es darüber hinaus nötig, die je nach Kontinent unterschiedlichen Arbeitsweisen zu berücksichtigen. So unterscheiden sich zum Beispiel die bevorzugten Sitzpositionen von Zahnarzt und Assistenz oder die Anzahl der behandelnden Personen. Die Größe der Behandlungszimmer wirke sich ebenfalls auf die Produktgestaltung aus.

Das Design soll Patienten auch die Angst nehmen

Die Funktion ist aber bei Weitem nicht das einzige Kriterium. Auch die emotionale Wirkung des Designs wird berücksichtigt. Was das heißt? „Bei der Soaric war es uns ein großes Anliegen, eine sehr ruhige und harmonische Produktsprache zu wählen, um beim Patienten Angstfreiheit und Entspannung zu fördern und eine Arbeitsatmosphäre des Vertrauens und der Sicherheit zu schaffen. Nur ein entspannter Patient ist auch ein gut zu behandelnder Patient und verringert so die mögliche Fehlerquote“, ist sich die Münchner Designerin

sicher. Das Produktdesign soll darüber hinaus

die Qualität der Behandlung visualisieren. Das klingt abgehoben, lässt sich aber aus Sicht von f/p design einfach übersetzen: Eine präzise Gestaltung, hygienische Oberflächen und qualitativ hochwertige Materialien können dem Patienten vermitteln, dass auch die Behandlung präzise, hygienisch und qualitativ hochwertig ist.

Zahnärzte geben Hinweise für den Designprozess

Qualitativ und hochwertig – das ist auch der Ansatz vom WH Dentalwerk. Das Familienunternehmen mit Sitz in Bürmoos bei Salzburg, ist nach eigenen Angaben der einzige Hersteller von dentalen Präzisions-instrumenten in ganz Österreich. 1 000 Menschen arbeiten für WH, davon 625 im Stammwerk. In über 110 Länder wird exportiert.

Silvia Haberl-Resch ist Industriedesignerin und entwirft für WH Dentalprodukte. „Wir bei WH verstehen Design als einen Prozess, der auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist. Das spiegelt sich auch in

unserem Unternehmensslogan „People have

Priority“ wieder. Über alle Unternehmensbereiche hinweg ist es uns ein Anliegen, stets den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen”, sagt sie.

Was Technologien leisten können und welche

Designs von künstlerischer Seite her gerade „in“ sind, sei dabei jedoch zweitrangig. Entscheidend dagegen, die Kunden aktiv am Designprozess teilhaben zu lassen, und auch die unterschiedlichen Bedürfnisse von unterschiedlichen Zielgruppen im Design zu beachten. Diese werden zum Beispiel über Anwenderbefragungen erkannt.

Die fremde Branche als neue Inspiration

Auf der Suche nach neuen Ideen oder Lösungen wagt Haberl-Resch auch den Blick über den Tellerrand und von dort aus zurück auf ihr Metier: „Auch auf branchenfremden

Gebieten lassen sich durchaus immer wieder

technische Lösungen finden, die auch auf den Dentalbereich anwendbar und somit weitestgehend übertragbar sind. Ein ’Geht nicht’ muss immer wieder neu hinterfragt werden, denn vielleicht steht uns lediglich manchmal unsere aktuelle Betrachtungsweise im Weg”, sagt sie.

Auch bei den Österreichern spielen weiche Faktoren im Designprozess eine Rolle. So sollen über die Produkte emotionale Werte wie Akzeptanz, Wohlgefallen und Vertrauen transportiert werden. Ein verstärktes Augenmerk wird auf die Klarheit im Design ganz im Sinne des aus der Kunst bekannten „Ästhetischen Purismus” gelegt. Weiche Linien basierend auf geometrischen Formen bilden hierfür die Basis.

Ausgangspunkt bei jeder neuen Entwicklung ist immer eine genaue Analyse der Kundenanforderungen. Haberl-Resch: „Für uns ist es wichtig, den Benutzer- kontext genau zu kennen, nur so gelingt es uns, die Funktionalitäten unserer zahn- medizinischen Instrumente und Geräte zu optimieren und zu erweitern und damit den hohen Anforderungen des Marktes gerecht zu werden.”

Konkret bedeute dies, dass die in der Analyse-

phase gewonnenen Informationen in der Gestaltungsphase umgesetzt werden, um sie mittels Design- und Funktionsmodellen für den Benutzer erfahrbar zu machen. Auch hier werden die Modelle am Markt von Anwendern getestet. Immer mit dem Ziel, die Produkte noch weiter zu verbessern.

Die Form folgt auch dem Geschlecht

Die Zahnmedizin wird zunehmend zu einem

Frauenberuf. 2017 ist der „gender switch“ zu erwarten. Dann werden wohl mehr Zahnärztinnen als Zahnärzte in Deutschland praktizieren. Dieses Phänomen bedenken auch die Dentaldesigner. Haberl-Resch erklärt: „Die Berücksichtigung gender- spezifischer Aspekte ist bei WH eine Selbstverständlichkeit. So achten wir beispielsweise schon im Produktdesign auf die Anpassung von Proportionen, wie die Größe der Hand, um der weiblichen Zielgruppe den Einsatz unserer Produkte zu erleichtern.”

Deutlich geworden ist bis hierhin: Das Dentaldesign existiert nicht autark, sondern unterliegt, wie alle anderen Bereiche auch,

gesellschaftlichen Veränderungen. Wer weiß,

vielleicht werden ja schon in naher Zukünft Polymerisationslampen speziell für Männer entwickelt, wenn diese sich in zunehmender Zahl für den ZFA-Beruf begeistern. Fest steht aber. Beim Dentaldesign folgt im Grund-satz auch weiterhin alles der Funktion. Und was gut funktioniert, sieht meist auch schön aus.

Foto: Mectron

Grafische Bedienobersfläche: Mit dem User Interface werden heute Einheiten gesteuert.

Foto: Morita

Modellstudie einer Behandlungseinheit: Wenigstens der Designer hat hier den Durchblick.

Foto: f/p design

Foto: Morita

Die Zukunft der Knochenchirurgie hat auch in puncto Design bereits begonnen.

Foto: Mectron

Moderne Hand- und Winkelstücke: Zeitloses Design in Kombination mit modernster Technik

Foto: WH

Neues Design, dank neuem Material: der metallfreie Klammermodelguss

Foto: Dentallabor Herrmann

Wer die Wahl hat: Zahnärzte können heute aus dem kompletten Farbspektrum wählen. Diese Einheit wurde im Jahr 2012 mit dem Red Dot Design Award ausgezeichnet.

Foto: Sirona

Ein bunter Griff für Frauenhände: Bei Polymerisationslampen wird das Design direkt auf die meist weiblichen Nutzer zugeschnitten. Das kommt an, sagen die Hersteller.

Foto: Mectron

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