Strategische Ausrichtung

Aufgestellt für die Patienten von heute

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Die veränderte Sicht auf das Thema Gesundheit verlangt von allen Akteuren, ihre Strategie zu prüfen. Gegebenenfalls muss eine Neuausrichtung erfolgen. Dieser Artikel zeigt auf, wie gesellschaftliche Trends und Entwicklungen den Patienten mit seinen Bedürfnissen und Einstellungen verändern und mit welchen Strategien Zahnarztpraxen darauf reagieren können.

Denny Isensee und Peter Rudolph

Wer hätte noch vor zwanzig Jahren gedacht, dass uns einmal ein Telefon an unsere Termine erinnert, rechtzeitig aus dem Schlaf weckt, rechnet, filmt, unsere Lieblingslieder abspielt und unser Leben in einer Unmenge von Bildern festhält.

Wie wird erst das Jahr 2020 aussehen? Wie entwickelt sich unsere Gesellschaft in der globalisierten Welt? Und welche Anforderungen erwachsen daraus für die einzelne Zahnarztpraxis im Umgang mit ihren Patienten?

Die Antworten auf diese Fragen sind schwierig und stellen ein mutiges Unterfangen dar. Trendforscher aus der ganzen Welt gehen diesen Fragen nach und wollen uns eine Richtung weisen. Unbestritten ist, dass einer der nächsten Trends eng mit der Gesundheit verknüpft ist.

Gesundheit ist das gefrageste Gut der Zeit

Die Wirtschaft hat stets die Strukturen für einen neuen Aufschwung geschaffen. Der Wirtschaftswissenschaftler Nikolai D. Kondratieff (1892–1938) hat nachgewiesen, dass Knappheiten zu Innovationen und neuen Märkten führen, die wirtschaftlich notwendig werden. Unternehmen und Volkswirtschaften werden sich daher in Zukunft auch durch die Gesundheit ihrer Menschen und die Qualität des Gesundheitswesens unterscheiden [Nefiodow, 2006].

Was heißt das für uns heute? Die Gesundheitswirtschaft gehört zu den am stärksten wachsenden Bereichen der deutschen Volkswirtschaft. Wachstum entsteht durch Wertschöpfung. Schon heute erwirtschaften in der Gesundheitsbranche 4,6 Millionen Erwerbstätige – das sind knapp elf Prozent aller Beschäftigten – einen Umsatz von jährlich circa 240 Milliarden Euro. Mit Steigerungsraten von jährlich um vier Prozent liegt die Wertschöpfung deutlich über dem Anstieg anderer Dienstleistungsbereiche der Volkswirtschaft. Der Markt für Gesundheitsleistungen in Deutschland wird bis in das Jahr 2020 auf über 453 Milliarden Euro ansteigen [Habbel, 2008; Maurer, 2008; Kartte et al., 2005].

Im Gesundheitsmarkt der Zukunft werden Gesundheitsdienstleistungen von selbstbewussten und informierten Menschen in Anspruch genommen. Dabei zeigt sich eine Differenzierung im Anspruchsverhalten von medizinischen Leistungen. Diese sind in den Trends wie integrative Medizin (Synthese von traditioneller und alternativer Medizin), High-Care-Medizin (von der Kassenversorgung zur Wohlfühlmedizin), Do-it-yourself-Medizin (Selbstdiagnose und -medikation) sowie Soul Sports und körperliche Spiritua-lität erkennbar. Mit steigendem Gesundheitsbewusstsein wird Gesundheit vom vermeintlichen Kostenfaktor zum entscheidenden Wirtschafts- und Produktivitätsfaktor in unserer Gesellschaft.

Viele Patienten haben bereits jetzt ein erweitertes Verständnis von Gesundheit und damit verbunden ein gesteigertes Anspruchsdenken an das Gesundheitssystem und seine Akteure. Das Internet und moderne Kommunikationsstrukturen führen zu einem höheren Informationsgrad über gesundheitsbezogene Themen. Zum Beispiel ermög- lichen Bewertungsportale das Einholen von Informationen bereits vor dem ersten Arzt-Patienten-Kontakt. Durch diese vermehrten Einblicke und gesteigertes Know-how können Patienten heutzutage viel fordernder auftreten und kritischer bewerten. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, schnell und unverbindlich auf Zweitmeinungen zurückzugreifen. Daher verankert sich immer mehr ein Qualitätsbewusstsein in den Köpfen der Menschen, wenn es um ihre Gesundheit geht [Schmitz, 2008].

Der neue Patient in der Zahnmedizin

Bezogen auf die Zahnmedizin befindet sich vor allem die Einstellung zu Zähnen und der Zahngesundheit im Allgemeinen im Wandel. Werden die Ergebnisse einer Umfrage der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2009 fokussiert, zeigt sich, dass zum Beispiel 68 Prozent eine professionelle Zahnreinigung in Anspruch nehmen möchten oder über die Hälfte alte Füllungen durch moderne Keramik-Füllungen ersetzen lassen würden. Das Bewusstsein für schöne Zähne und Wohlbefinden nimmt also zu. Mit Wohlbefinden ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur das rein körperliche und gesundheitliche gemeint, sondern auch das seelische Wohlbefinden während des Aufenthalts in der Zahnarztpraxis. Der Patient erwartet, dass seine Wünsche erfragt, erkannt und befriedigt werden. Dies wird als serviceorientiertes Verhalten wahrgenommen und geschätzt. Darüber hinaus legen Patienten enormen Wert auf die sogenannten weichen Faktoren. Somit kann eine partnerschaftliche Beziehung zwischen Zahnarzt und Patient und im Ideal zwischen Team und Patient eine Basis darstellen, die auch ökonomischen Aspekten gegenüber standhält [Emmerich, 2012].

Dies belegt eine aktuelle Umfrage der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK), wonach lediglich acht Prozent der Patienten ihren Zahnarzt aufgrund günstigerer Alternativen wechseln. Überhaupt sind die Kosten nicht das ausschlaggebende Kriterium beim Vergleich von Angeboten. 62 Prozent der befragten Patienten achten beim allgemeinen Kaufverhalten bewusst auf den Preis. Hingegen vergleichen lediglich 29 Prozent die Behandlungsangebote anderer Zahnärzte, bevor sie sich von ihrem Zahnarzt behandeln lassen. Die restlichen 71 Prozent hinterfragen die Preissituation bei ihrem vertrauten Zahnarzt nicht nachhaltig. Überhaupt kommt für 41 Prozent der Patienten ein Wechsel des Zahnarztes aufgrund monetärer Gründe überhaupt nicht infrage. Ein Unterschied zwischen gesetzlich oder privat Versicherten ist laut der SBK nicht feststellbar und die Haltung gegenüber den Kosten für Zahnbehandlungen ist einkommensübergreifend gültig [SBK, 2012].

Ein weiteres wichtiges Merkmal des neuen Patienten ist das Alter. Im Jahr 2010 nahmen die über 65-jährigen etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ein [Statistisches Bundesamt, 2010]. Dieser Anteil wird bis zum Jahr 2030 um rund ein Drittel ansteigen [Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2011]. Diese Situation erfordert vom gesamten Praxisteam inklusive des Zahn-mediziners ein verstärktes Wissen zur bedarfsgerechten und adäquaten Behandlung von Senioren. Verstärkte Kompetenzen im Bereich der Kommunikation sind ebenso von Vorteil, da die Sinneswahrnehmung älterer Patienten oft nachlassend ist. Selbst das Bestellsystem unterliegt gestiegenen Herausforderungen, da ältere Patienten vergleichsweise mehr Arztkonsultationen benötigen als jüngere Patienten [Zahnärztekammer Berlin, 2012].

Eine weitere wichtige Patientengruppe werden Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung sein. Nach einer Studie im Auftrag der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) stellt sich die allgemeine Mundgesundheit deutlich schlechter als beim Bevölkerungsdurchschnitt dar. Darüber hinaus ist die kontinuierliche Betreuung aufgrund von Mobilitätseinschränkungen ein grundsätzliches Problem. Beispielsweise liegt der Abstand zwischen zwei Behandlungen von 50 Prozent der Pflegebedürftigen in Heimen bei über 22 Monaten [BZÄK, 2012].

Eine weitere Folge der Demografie in Deutschland ist die Zunahme an Patienten mit Risikofaktoren aus allgemeinmedizi- nischer Sicht. Risikopatienten setzen eine sehr gründliche Anamnese seitens des behandelnden Zahnarztes und der involvierten Mitarbeiter voraus, da sonst Komplikationen – aufgrund vorliegender Medikation oder Vorerkrankungen – auftreten können [Al-Nawas, 2011; Grötz, 2011].

Handlungsstrategien für die Zahnärzteschaft

BZÄK-Präsident Dr. Peter Engel konstatierte: „Menschen werden immer älter, Funktionseinschränkungen und Multimorbidität sind die Folge. Das fordert den Berufsstand in seiner medizinischen wie auch in seiner gerodontologischen Kompetenz. Aber nicht nur der Zahnarzt, sondern das gesamte Team ist gefordert.“ [Engel, 2012]. Diese Entwicklung sollte Verantwortliche aus Politik, Versorgung, aber auch alle Leistungserbringer dazu motivieren, neue Konzepte zu entwickeln, die den Herausforderungen des neuen Patienten gerecht werden.

Der behandelnde Zahnarzt und sein Praxisteam sind daher gut beraten, über ihre zukünftige Praxisstrategie nachzudenken. Dabei können sich ganz unterschiedliche Ansätze zur Patientenbindung und -gewinnung als zielführend erweisen. Nachfolgend werden dazu einige für die Zahnarztpraxis bedeutsame Strategien aufgezeigt.

Die strategische Positionierung lässt sich in verschiedene Substrategien unterteilen. Die Spezialisten-Positionierung ist durch eine Fokussierung auf eine Spezialisierung charak-terisiert (beispielsweise Implantologie). Diese bietet den Vorteil, dass Patienten mit gewissen Problemstellungen eher den Spezialisten aufsuchen und sich durch Fachqualifikationen sicher betreut und gut aufgehoben fühlen. Preiskriterien werden dadurch in den Hintergrund gestellt. Nachteilig ist jedoch eine unterschwellige Botschaft an den Patienten, dass ohne spezielle Probleme eher der allgemeine Zahnarzt aufzusuchen ist.

Die Zielgruppen-Positionierung ist eindeutig durch ihre patientenspezifische Ausrichtung gekennzeichnet. Im Mittelpunkt sämtlicher Bemühungen stehen die Wünsche und Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe. Dies können im Prinzip alle Patientengruppen sein. Am Beispiel der Seniorenpraxis sind folgende Punkte ratsam: Barrierefreiheit, zentrale Lage, Hausbesuche, Organisation von Patiententransporten und sehr gut funktionierende Patienten-Recall-Systeme. Kinderzahnarztpraxen sollten auf folgende Punkte achten: kindgerechte Ausstattung, psycho-logisch auf Sichtweise und Erfah- rungen der Kinder einstellen oder besonders vertrauenserweckende Behandlungsmethoden. Darüber hinaus sind Spezialisierungen auf Selbstzahler (Zahnschönheit, gehobene Ausstattung der Praxis, besondere Serviceleistungen, Exklusiv- angebote) oder Arbeitnehmer (Öffnungszeiten, Kinderbetreuung, Parkplätze, öffentliche Anbindung) denkbar.

Innovations-Positionierungen stehen für Neuheit, Modernität sowie Fortschritt. Neueste Behandlungsmethoden oder modernste Geräte binden Patienten, die Wert darauf legen. Selbst wenn nicht jeder Patient von allen Neuerungen profitiert, reizt die bestehende Option auf die besten Behandlungsmethoden.

Die häufigste Art der Positionierung ist die Produkt- oder Leistungspositionierung. Im Fall der Zahnarztpraxis sind dies zum einen das Leistungsspektrum der Praxis und zum anderen das Personal an sich. Qualität und Effizienz der Behandlung können nur schwer durch Patienten beurteilt werden, daher rücken weichere Faktoren in das Beurteilungsraster der Klientel. Daher sind Einstellungen, Verhalten oder private Aktivitäten des gesamten Praxisteams von enormer Bedeutung, da diese vom Patienten direkt mit der Arztpraxis verknüpft werden. Ein großes Plus dieser Positionierungsstrategie ist die emotionale Basis bei der Ausrichtung der Praxis, die im Idealfall in ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis mündet. Selbiges ist jedoch auch aus negativer Sicht denkbar. Private Unstimmigkeiten können genauso mit dem professionellen Bereich verschwimmen.

Des Weiteren sind Positionierungen aufgrund von Service, Preis und Marktnischen möglich. Für die Zahnarztpraxis sind jedoch eher die vorherigen Strategien empfehlenswert. Service ist in den heutigen Praxen ein unabdingbares Grundinstrument zur dauerhaften Bindung von Patienten und wird auch dementsprechend erwartet. Marktnischen werden, wenn überhaupt vorhanden, sehr schnell geschlossen und ökonomische Aspekte sind aus Patientensicht nicht die entscheidenden Kriterien [Sawtschenko, 2005].

In Anbetracht sämtlicher Strategien und Konzepte gibt es jedoch auch Mittel und Instrumente, die darüber hinaus die Aufmerksamkeit des neuen Patienten erwecken können. Als sehr sinnvolle Ergänzung kann etwa die Nutzung neuer Medien empfohlen werden. Social Media (Facebook, Twitter) machen in Bruchteilen von Sekunden Informationen für Millionen von potenziellen Kunden zugänglich. Optimierte Internetauftritte, die problemlos auf Smartphones oder Tablets anzeigbar sind, erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Nutzung. Terminerinnerungen können webbasiert auch per Short-Message-Service (SMS) zugestellt werden und sind somit an jedem Ort und jederzeit abrufbar.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass eine Erfolg versprechende Positionierung nur umgesetzt werden kann, wenn die tatsächlichen Stärken der Praxis und des Teams berücksichtigt werden. Eine Orientierung an den tatsächlichen Bedürfnissen der Patienten ist in jedem Fall empfehlenswert. Nur wenn diese ernsthaft hinterfragt werden, kann eine Positionierung auch authentisch realisiert werden.

Darüber hinaus ist es ratsam, eine gezielte Vernetzung unter nieder- gelassenen Kollegen zu verfolgen, um Patientenströme kanalisieren zu können. Die reine Fokussierung auf ökonomische Belange und Wett- bewerbsvorteile führt nicht zwangsläufig zum Erfolg. Vielmehr ist entscheidend, wie die Partizipation des neuen Patienten in der Praxis gelebt und umgesetzt wird.

Prof. Dr. Peter RudolphDorfstr. 3139217 Schönebeck (Elbe) OT Raniesprudolph@eumedias.de

Co-Autor:Denny Isensee (M.A.)Leibnizstr. 3239104 Magdeburgdisensee@eumedias.de

Info

Der sechste Kondratieffzyklus

Kondratieffzyklen sind periodische Wirtschaftsschwankungen mit einer Dauer von 40 bis 60 Jahren. Seit den späten 1990er-Jahren hat der sechste Kondratieffzyklus begonnen (Abbildung Seite 33). Ausgelöst und getragen wird er von Angebot und Nachfrage nach ganzheitlicher Gesundheit.

Körper, Geist, Seele und Spiritualität sind nur begrifflich getrennte Phänomene, beim Menschen sind sie untrennbar verbunden. Deshalb gehören zur ganzheitlichen Gesundheit auch die geistige, die psychosoziale und die spirituelle Ebene (Abbildung oben).

Für die Praxis bedeutet das: Bei Krankheit und Gesundheit sind alle fünf Ebenen ursächlich beteiligt, wenn auch mit unterschiedlichen Anteilen.

Das traditionelle Gesundheitswesen hat sich bisher hauptsächlich auf die physische und die biologische Gesundheit konzentriert. Mit dieser Ausrichtung wurden große Fortschritte erzielt, die Lebenserwartung verlängert und die Lebensqualität vieler Menschen verbessert. Doch die Defizite zeigen sich immer deutlicher. Die meisten chronischen Krankheiten sind heute Systemerkrankungen. Die einseitige Beschränkung auf das Körperliche führt dazu, dass ihre Symptome behandelt, aber ihre Ursachen nicht beseitigt werden können.

Das moderne Leben stellt immer höhere Ansprüche an den ganzen Menschen. Um zu verhindern, dass die Lebensqualität in Zukunft sinkt und die Kosten trotzdem weiter steigen, wird sich das Gesundheitswesen stufenweise auf eine ganzheitlichere Behandlung einstellen müssen. Dabei wird sich das Bessere durchsetzten. Nicht sofort, denn der anstehende Lernprozess ist nicht einfach. Der sechste Kondratieffzyklus befindet sich noch in einer frühen Phase. Man sollte aber die Zeit nutzen, um den Übergang sozialverträglich zu gestalten.

Das gilt auch für die Zahnärzteschaft. Einen breiten Raum für Verbesserungen bietet die psychosoziale Gesundheit. Bei ihr kommt es darauf an, wie das Personal in der Praxis mit sich, miteinander und mit den Patienten umgeht. Das sollte nicht als Belastung empfunden werden, sondern als Chance: Erstmals in der Geschichte rückt in das Zentrum der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht eine Maschine, ein Rohstoff oder eine Technologie, sondern der Mensch mit seinen ganzheitlichen Bedürfnissen, Problemen und Potenzialen.

Leo A. NefiodowWirtschaftstheoretiker und Zukunftsforscherkontakt@kondratieff.net

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